E-Book, Deutsch, 264 Seiten
McNeill Der falsche Feldhase
1. Auflage 2020
ISBN: 978-3-7472-0189-3
Verlag: ars vivendi
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Frankenkrimi
E-Book, Deutsch, 264 Seiten
ISBN: 978-3-7472-0189-3
Verlag: ars vivendi
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Der verschrobene Kunstmaler Ambrosius Siebenhaar befindet sich mit seiner Frau Thea auf einer wilden Jagd durch Franken: Die beiden müssen die Spuren von Ambrosius' Fälschungen einiger Werke der Alten Meister Dürer, Cranach und Grünewald verwischen. Die Sünden seiner künstlerischen Vergangenheit drohen nämlich seine erfolgversprechende Zukunft zu zerstören, denn Siebenhaar steht kurz vor dem großen Durchbruch – sogar der Economist fragt schon wegen der Gestaltung einer Titelseite an. Doch er wird erpresst, denn ein Kunsthistoriker ist ihm auf die Schliche gekommen. Notfalls muss er also seine eigenen Werke klauen. Der Raubzug führt das Ehepaar nach Nürnberg, in die Fränkische Schweiz, nach Kronach, Würzburg und Rothenburg. Dabei kommen nicht nur Siebenhaars kriminellen Verfehlungen zutage. Und die beiden sind nicht allein: Dicht auf ihren Fersen ist die albanische Mafia, und nicht nur sie ...
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30. April 2019 – Die Zeit ist reif Die Zeit ist nie reif, deinem Ehemann, mit dem du seit über vierzig Jahren verheiratet bist, zu sagen, dass du ihn verlassen willst. Die Zeit ist überreif bis verfault, eine Birne, die seit Wochen im Sonnenlicht am Fenster liegt. Und sie kann nur noch fauliger werden. Also besser spät als nie. »Ambro?«, sagt Dorothea. Ambrosius Siebenhaar, 69. Da sitzt er am Frühstückstisch und blättert die heutige Ausgabe der Fränkischen Landeszeitung durch. Atemberaubende Dummheit steht auf der Titelseite, und, etwas kleiner darunter: Österreichischer Vizekanzler redet sich um Kopf und Kragen. Aber Ambrosius hat noch keinen Artikel zu Ende gelesen, er blättert rasch weiter. Er trägt ein graues, mit Ölfarben beflecktes Sweatshirt und schiebt die fein behaarten Unterarme nach vorne. Ihr Muskelspiel beim Umblättern wirkt auf Doro immer noch erotisierend. Sein Bauchgewölbe ist unter dem Tisch verborgen, das graue Knäuel seines Pferdeschwanzes auf der rechten Schulter ruht wie eine eingeschlafene Katze, die wachen grauen Augen sind ganz begierig auf die Zeitung gerichtet. Gut schaut er aus für sein Alter. Mit seiner Hakennase, den tief sitzenden Augen unter den buschigen Augenbrauen, dem Grübchen im Kinn, den vertikalen Falten in den Wangen. Wie ein alter, stolzer Raubvogel. »Ambro?« »Ja?« »Hörst du mir zu?« »Gleich, Doro, gleich.« Der Tisch ist eine alte Hobelbank, die Ambrosius vor fünfunddreißig Jahren einem Bauern aus Kornhöfstadt abgeschwatzt hat. Seit fünfunddreißig Jahren sitzt Dorothea an der Seite mit dem nutzlosen Schraubstock und haut sich die Schienbeine an der Querplanke des Untergestells an. Das passiert Ambrosius nicht, weil er die Planke abgebaut hat. Auf seiner Seite halt. Auf einer Seite muss sie ja bleiben, Doro, wegen der Statik. Weil sonst die Bank zusammenfällt. »Ah. Es steht drin«, sagt er zufrieden mit seiner kieseligen Stimme. »Was?« »Wolfram-von-Eschenbach-Preisträger 2019 Ambrosius Siebenhaar. Ha, horch zu: … ein Künstler auf vielen Gebieten; Malerei, Karikatur, Grafik und Bildhauerei. Endlich wird seine Kunst erkannt als das, was sie schon immer war: unverwechselbar, prägnant, verstörend in ihrer Intensität und zugleich letztendlich zutiefst tröstend. Seit Jahren verzichtet er auf Pinsel, arbeitet ausschließlich mit Händen und Fingern. Seine Bilder sind mehr wie Skulpturen, fast dreidimensional, deren Kraft und Aussage, wie das Leben selbst, sich erst aus der Ferne erahnen lässt. Na? Ist das nichts? Da blickt doch mal eine durch, oder?« »Könnte fast von dir sein.« »Das ist von mir! Also, mehr oder weniger. So gut wie. Das junge Ding hat ja alles mitgeschrieben.« »Aha. So langsam fügt sich ja alles für dich.« »Läuft ganz gut, ja, kann man sagen. Ehrenpreis der Stadt Burgbernbach. Titelmotive auf dem Spiegel. Anfrage vom Economist. Ausstellungen in München, Frankfurt und Berlin. In der engeren Auswahl für die Gestaltung des Jugendstilsaals im Hauptbahnhof Nürnberg. Nicht schlecht für einen disziplinlosen Farbsetzer. Tja. Meine Zeit ist eben reif.« Disziplinloser Farbsetzer, aha. So hatte ihn seinerzeit der Kunstlehrer des örtlichen Gymnasiums in seiner Funktion als Kunstkritiker der Fränkischen Landeszeitung tituliert. Vor fünfundzwanzig Jahren. Der Stachel sitzt noch tief. Aber Ambrosius hat recht: Seine Zeit ist reif. Nach den vielen langen Jahren als Kneipier, Möbelrestaurator, Hausmaler, Grafiker, Zeichner, Porträtist von Bürgermeistern, Pfarrern und Rektoren – Jahren, in denen Dorothea die Stadtbücherei in Burgbernbach geleitet, den Großteil ihrer gemeinsamen Einkünfte verdient und nebenbei noch zwei Kinder großgezogen und den Haushalt geführt hat – heimst Ambrosius endlich den Ruhm ein, den er schon immer für sich beansprucht hat. Wenn die Zeit für Ambrosius reif ist, kann sie für Dorothea auch reif sein. Wenn er jetzt endlich gutes Geld verdient, muss sie nicht mehr für ihn sorgen wie für ein drittes Kind, muss nicht mehr immer nur mit dem Wohnmobil nach Italien fahren, nicht ständig hinter Ambrosius aufräumen, nicht mehr nur auf Rolling-Stones-Konzerte gehen, nicht mehr in einem als Holzstoß getarnten Auto fahren, nicht mehr auf seinen unbequemen restaurierten Möbeln sitzen. Sie kann endlich auf sich selbst schauen. Die Gitarre wieder herausholen. Nach Irland fahren. Abnehmen? »Ambrosius, jetzt hör endlich zu.« »Klar doch, liebe Thea.« Er lässt die Zeitung sinken und lenkt seinen Blick auf sie. Jetzt nicht schwach werden. Nur weil ihn der Zeitungsbericht milde gestimmt und er »Thea« gesagt hat. Er sagt entweder Doro oder Thea zu ihr, manchmal auch Dorothea. »Doro« ist für den Alltag, für Fernsehabende, fürs Einkaufen und wenn sie für ihn etwas suchen soll: Brille, Schlüssel oder Geldbeutel. »Dorothea« hält sie auf Armlänge, ist für Zeiten, wenn er eingeschnappt oder sauer auf sie ist, wenn sie mit irgendwelchen Unannehmlichkeiten in seine bequeme, bunte Fantasiewelt einbricht. Mit Rechnungen, Versicherungen, Sachen für die Steuer. Mit dem Leben. »Thea« wird immer rarer, ist immer mehr der Vergangenheit verhaftet, immer legendenumwobener, fast nicht mehr wahr, wie Schnee im Winter. »Thea« ist fürs Bett. »Ich habe mir Gedanken über unseren Lebensabend gemacht«, sagt sie. »Über meinen Lebensabend.« »Über deinen Lebensabend?« Das Telefon klingelt. »Ja, über meinen Lebensabend. Ich habe mir gedacht, dass wir eine Auszeit brauchen.« »Wie meinst du das? Ich kann jetzt nicht in Urlaub fahren. Es passiert gerade so viel.« Das Telefon klingelt erneut. Dorothea spricht lauter. »Ich meine eine Auszeit voneinander.« »Willst du zu deiner Mutter fahren?« »Meine Mutter ist tot. Seit sieben Jahren.« »Ach ja.« Das Telefon klingelt zum dritten Mal. Ambrosius wirft Dorothea noch einen fragenden Blick zu, dann sagt er: »Ich geh ran. Es könnte jemand Wichtiges sein.« »Siebenhaar«, meldet er sich. Dann hört er eine ganze Zeit lang zu. Sein Gesicht nimmt die langgezogenen, ausdruckslosen, verbarrikadierten Züge an, die es bei Unannehmlichkeiten trägt. Es ist sein Dorothea-Gesicht. »Ich weiß überhaupt nicht, wovon Sie sprechen«, sagt er nach einer Weile. Dann: »Das ist sicher gut gemeint, aber Ihr Lob steht mir nicht zu. Damit habe ich nichts zu tun.« »So, meinen Sie.« »Aha. Interessant.« »Nein, das ist nichts für mich.« »Nein, das mache ich bestimmt nicht.« »Tun Sie das ruhig. Sie werden schon sehen, wie weit Sie kommen.« Dann drückt er das Gespräch weg und steht auf. »Was ist los?«, fragt Dorothea. »Wer war denn das?« »Wir müssen nach Nürnberg«, sagt Ambrosius. »Sofort. Ich erkläre dir alles im Auto.« August von Rottberg legt wieder auf und betrachtet das Schachspiel, das er gerade auf seinem Tablet gegen einen Computer führt. Das Gespräch ist nicht so gut gelaufen, wie er gehofft hatte. Die Menschen halt. Immer wieder der Schwachpunkt. Müssen sie so unberechenbar sein? Dabei ist es alles nur eine Frage der Vernunft, und alle hätten etwas davon. Aber so ist es wohl: Man plant jahrelang voraus, denkt an jedes Detail, und anstatt richtig zuzuhören, stellt sich der Kerl einfach quer. Das ist ja gerade so, als dürften die Schachfiguren bei den Zügen mitreden. Ach, nee, ich gehe nicht auf A5, das sehe ich gar nicht ein, ich schaue mal lieber, wie es mir auf C3 gefällt. Na gut. Der Kerl muss trotzdem zur Vernunft gebracht werden. Wenn Reden nicht hilft, hat man ja noch andere Möglichkeiten. Man sorgt vor. Mit Weitblick. Er greift noch mal zum Telefon und wählt. »Samo, der Mann, von dem ich erzählt habe, stellt sich dumm. Ich vermute, er fährt gerade nach Nürnberg. Zum Albrecht-Dürer-Haus. Wahrscheinlich will er seine Spuren verwischen. Er wird wohl versuchen, ein Bild aus dem Haus zu stehlen. Im vierten Stock. Warte da auf ihn, fotografiere ihn dabei und halte ihn danach draußen auf und nimm ihm das Bild ab. Und, Samo, noch was. Ich weiß, das ist nicht seine einzige Fälschung. Ich kenne wenigstens noch eine weitere. Schau, dass du möglichst viel dazu herausfindest. Wir brauchen wohl etwas Druck … Nein, nicht doch. Nicht wie damals. Wenigstens nicht gleich. Ja, genau. Stufe 1. Und halte dir die nächsten Tage frei, man weiß nie. Ja, eine Woche reicht, auf jeden Fall. Ein paar Tage, denke ich, mehr nicht. Wann kommt die nächste Lieferung? Klar, schaffst du locker.« So. Und jetzt? Er spürt so einen unangenehmen Druck im Kopf, der in Schmerzen ausarten könnte, wenn er nichts dagegen unternimmt. Er beschließt, eine Kundenrezension auf amazon über Was zählt in der Kunst zu schreiben und den Schwachkopf von Autor so richtig in die Pfanne zu hauen. Danach wird er sich wieder besser fühlen. Ambrosius und Dorothea rattern in ihrer Ente Richtung Nürnberg. Der Citroën 2CV hat verschiedene Inkarnationen durchlebt. Zuerst hat Ambrosius das Auto als die übliche Blumenwiese bemalt, später als Baguette, dann als Polizeiauto mit dem Schriftzug Polente auf den Türen, und, seit letztem Jahr, als Holzstoß. Von der Seite schaut der Betrachter auf die runden, gelben Schnittflächen, ebenso auf den Radkappen, von vorne und hinten auf die aufeinandergestapelten Stämme mit abblätternder Rinde. Der...