McNeill Am Strom
1. Auflage 2015
ISBN: 978-3-86913-563-2
Verlag: ars vivendi
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
E-Book, Deutsch, 288 Seiten
ISBN: 978-3-86913-563-2
Verlag: ars vivendi
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Ein aufrechtes Leben, eine intakte Familie, eine sinnvolle Arbeit, die wahre Liebe und das große Glück: Kann man das haben? Das ganze Paket? 1968, in einer bewegten Zeit des Aufbruchs, als alles möglich scheint, verbringen vier Jugendliche idyllische Tage auf einer Insel beim Donaudurchbruch. Die Aktivität in der Linken Schülerfront verbindet Jens, Erwin, Jelly und Else, und nun, da die Abiprüfungen hinter ihnen liegen, zelten sie am Fluss, spinnen Zukunftspläne am Lagerfeuer, genießen die freie Zeit - und die Liebe. Zwei von ihnen werden heiraten, ihr Heil in Ehe und Familie suchen. Einer wird alles daran setzen, seinen linken Idealen treu zu bleiben. Und einer wird auf der Insel sterben. Es wird fünfundvierzig Jahre dauern, Lebensträume werden zerrinnen und Beziehungen scheitern, bis die anderen drei sich auf der Donauinsel wieder treffen. Erst jetzt wird offenbar, was damals wirklich geschah. Ein Roman über die Liebe, das Älterwerden, den Versuch, das Leben mit Anstand zu führen. Und über einen bayerisch-fränkischen Jedermann mit seinem hartnäckig und listenreich geführten Kampf gegen das Scheitern.
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Kapitel 1: Zigaretten und alte Milch »Also, wer fällt durchs Abitur?« Jens musterte uns einen nach dem anderen durch seine John-Lennon-Brille. Erwin, Else, mich. »Wieso? Wird das hier jetzt ein Nachhilfeinstitut, oder was?«, fragte ich. Wir hatten uns nach der Schule im Kasbärbel getroffen. Vorne die Theke, auf der unsere Ausgaben der Linken Schülerfrontzeitung gestapelt lagen. Wir saßen hinten, umhüllt von Schwaden unserer eigenen Roth-Händle. Erwin, Else und ich auf dem abgewetzten Sofa, Else in unserer Mitte, Jens gegenüber, zwischen uns und Jens ein abgeschlagener, kleiner runder Holztisch mit einem überquellenden Aschenbecher. Jens setzte die Brille ab und fing an, sie am Saum seines Fidel-Castro-T-Shirts zu putzen. Das war seine Art, uns mitzuteilen, dass meine Frage unter seinem Niveau war, er sich erst mal sammeln musste, Zeit brauchte, um eine Antwort zu formulieren, die auch von jemandem wie mir verstanden werden konnte. Egal. Elses rechte Hand ruhte derweil auf ihrem Oberschenkel. Ihre Finger waren etwas gespreizt, und der kleine berührte den Saum ihrer Jeans. Ich legte meine linke Hand ebenso auf meinen linken Oberschenkel. Nur ein paar Zentimeter trennten unsere kleinen Finger. »Jemand von euch muss doch durchs Abitur fallen.« Jens redete nun zu seiner Brille hinunter, und seine näselnde Stimme drang durch einen Vorhang von langen, schwarzen Haaren. »In der zwölften Klasse ist niemand Mitglied bei der Linken Schülerfront. Wenn ihr nach dem Abitur alle von der Schule geht, ist es mit der Front vorbei. Jemand muss die Strukturen aufrechterhalten und nächstes Jahr neue Mitglieder anwerben.« Er hob die Brille hoch, schaute hindurch, schüttelte den Kopf, senkte ihn, der Vorhang fiel wieder zu, Jens hauchte die Brille an und putzte weiter. »Ich kann es nicht machen, ich muss nächstes Jahr an der Uni Regensburg Schriftführer beim KHSV machen.« »Beim was?«, fragte ich. Jens schüttelte wieder den Kopf, und seine Haare schwangen wie ein Tanzkleid. »KHSV. Der kommunistische Hochschulverband.« »Wenn du noch einmal den Kopf schüttelst«, sagte ich, »kannst du die Schülerfrontzeitung selber verteilen. Ich habe deine Runde die letzten zwei Male übernommen, weil du dauernd in Regensburg bist.« Jens schaute hoch, strich seine Haare nach beiden Seiten weg und zeigte uns sein bleiches Gesicht, das er frei von jeglichem Ausdruck gewischt hatte. Er schüttelte nicht den Kopf. Er schloss die Augen ganz langsam. Vielleicht hoffte er, woanders zu sein, wenn er sie wieder aufmachte. Andere Menschen vor sich zu haben. Er nahm einen Zug von seiner Zigarette und öffnete die Augen wieder. »Wir sind’s noch«, sagte ich. »Und überhaupt, kauf dir deine eigenen Lungenbrötchen.« Kontakt. Ich spürte das warme, weiche Kissen der rechten Seitenfläche von Elses kleinem Finger auf meinem kleinen Finger. Wir berührten uns. Wer hatte den Finger bewegt? Ich, behauptete Else später immer. Sie, meine ich heute noch. Auf jeden Fall zog keiner von uns den Finger zurück. »Was?« »Lungenbrötchen. Kippen. Zi-ga-ret-ten. Dauernd gehen dir die Kippen aus, und du rauchst meine.« Jens hatte sie auch gesehen, unsere Hände. Sein Blick flackerte kurz verunsichert von Else zu mir und wieder zurück. Er räusperte sich. »Also, wer?« »Wenn’s darum geht«, sagte ich, »hab ich meinen Teil schon getan. Ich bin letztes Jahr schon durchgefallen.« Else kicherte. Ja! Dieses Kehlige, das ich liebte. »Ich habe gar nicht gewusst, dass du dich für die Sache so engagierst, Jelly«, sagte Jens. »Ja, da kannst du mal sehen. Und noch mal geht nicht. Da bin ich dann draußen.« »Da kann er höchstens Die Linken Arbeitslosen gründen«, sagte Else. »Und was mich angeht, mir nimmt das eh keiner ab.« Das stimmte. Else war viel zu gut in der Schule. Lauter Einser und Zweier. Sie konnte gar nicht anders. »Also Erwin?« Ich hatte fast vergessen, dass Erwin da war, dass er auf Elses anderer Seite saß. Er hatte bisher nichts gesagt. Das machte er oft. Er war ein kräftiger, untersetzter Kerl mit krausen blonden Haaren und einem offenen Gesichtsausdruck, die Augen hellblau und weit auseinander liegend. Diese Wettkämpfe zwischen Jungs in der Pubertät, bei denen verliert, wer zuerst zwinkert, hatte er immer gewonnen. Meistens trug er Holzfällerhemden. Erwin und ich kamen aus zwei verschiedenen Welten. Mein Vater hatte unten in Kelheim ein gut gehendes Elektrogeschäft, Elektro Jelinek, ehemals Holzapfel. Sein Vater war Landmaschinenmechaniker oben im Arbeiterviertel von Ihrlerstein, und Erwin hatte etwas von einem robusten, verlässlichen Bulldog an sich, einem Bulldog, der, einmal angeworfen, keine Macken hatte und keine besondere Pflege brauchte. Ich kannte Erwin seit der Grundschule, wir hatten in der vierten Klasse die gleichen guten Noten, zu mir hatte der Lehrer gesagt, ich soll aufs Gymnasium gehen, zu ihm, er soll in der Volksschule bleiben. »Was willst du denn auf dem Gymnasium?«, hatte der Lehrer zu ihm gesagt. »Bist ein Arbeiterkind.« Seine Mutter hat’s ein Jahr später doch durchgesetzt. »Ich mach’s«, sagte er jetzt und nickte langsam. »Ich fall durch.« »Mensch, Erwin, überleg’s dir gut«, sagte Else. »Was sollen deine Eltern sagen?« »Bei mir wundert sich keiner, wenn ich durchfalle. Ein Jahr macht nix aus. Für die Sache. Ich fang sofort damit an. Morgen, mit dem Kunz in Mathe. Ich freu mich schon.« »Dann ist alles klar«, sagte Jens. »Ich habe zu tun. Ich muss gehen.« Er stand auf. »Wir räumen hier noch auf«, sagte Else. »Ich bin mit dem Spülen dran«, sagte Erwin und griff zum überquellenden Aschenbecher. »Lass bleiben, Erwin«, sagte Else. »Jelly und ich machen das schon.« »Ich hab eh nix zu tun.« »Mensch, Erwin! Merkst du nichts? Du hast auch zu tun«, sagte Jens. »Du musst auch gehen.« Erwin schaute ihn an, dann uns. »Ach so.« Else und ich fingen an, die herumstehenden Tassen und Aschenbecher einzusammeln, während Jens und Erwin hastig ihre Parkas anzogen und sich auf den Weg machten. Die Glocke an der Ladentür bimmelte einmal. »Pfiat eich«, rief Erwin. »Tschüss, ihr zwei. Macht nichts, was ich nicht machen würde«, sagte Jens. Bimmel. Arschloch, dachte ich mir. Auf einmal war eine Stille da, die nur vom Scheppern des Geschirrs unterbrochen wurde. Else stand an der Spüle, mit dem Rücken zu mir. »Jens hat früher immer gesagt, du wärst nicht mit der richtigen Überzeugung dabei«, sagte sie. Ich umarmte sie von hinten, so, wie ich es seit Monaten machen wollte, und flüsterte ihrer linken Wange zu. »Jens hat recht. Ich bin nur wegen dir dabei, weißt du denn das nicht?« Sie drehte sich um. So fing es an mit Else und mir. Ich brauche nur im Tagebuch nachzuschlagen, das ich am selben Abend begann und bis zum Ende jenes Sommers führte, und alles ist wieder da, Geräusche, Gerüche, Gespräche. Vor dieser Zeit war Else mit Jens zusammen gewesen. Als ich durchs Abitur flog und die dreizehnte Klasse wiederholte, landete ich in ihrer Klasse. Da waren die beiden schon seit zwei Jahren ein Paar. Unzertrennlich. In ganz Kelheim bekannt. Er war hier im Internat, aus reichem Hause in Wiesbaden, sein Vater besaß die Hassoldwerke, eine Auspufffabrik, die BMW, Mercedes und Audi belieferte. Jens hatte immer Geld. Die Linke Schülerfront hatte er aus seiner alten Schule in Frankfurt mitgebracht. Else war von Anfang an dabei. Vom ersten Tag an trug Jens einen langen, ausgefransten Lodenmantel und einen Tirolerhut mit Feder, selbst an den heißesten Tagen. Einmal, bei einer Anti-Vietnam-Demo, war er in ein Fass in der Form einer riesigen Coca-Cola-Dose geschlüpft. Das Fass hing an Schnüren von seinen Schultern, schwang rauf und runter, haute ihm immer wieder rumpelnd auf die Knie, während er lief, und der Schriftzug Coca-Cola war natürlich antiamerikanisch-antiimperialistisch durchgestrichen. Darunter trug er immer noch seinen Lodenmantel, obwohl ihn keiner sehen konnte. Es war ein relativ warmer Septembertag, und er schwitzte wie eine Sau. Typisch Jens. Konnte nicht einfach mit einem Plakat herumrennen wie jeder normale Mensch. »Warum machst du das?«, fragte ich ihn. »Aus dem gleichen Grund, aus dem du es machst. Vermutlich«, antwortete er keuchend aus seinem Fass. »Ich laufe hier nicht in einem Fass herum, und ich trage auch keinen Lodenmantel.« »Ach so. Der Lodenmantel ist eine Aussage.« »Was sagt er aus?« »Es ist Ironie, verstehste.« Und wo kam auf einmal so was wie Else her?, frage ich mich heute noch. Aus der kuschenden, erzkatholischen, obrigkeitshörigen, rotgesichtigen, rothaarigen, dickleibigen Metzgereidynastie Schönamsgruber, die alle aussahen wie die eigenen Schweine und die jedem Pfarrer eine Extrawurst mitgaben. Wie konnte das sein? So eine schlaue, zierliche, furcht- und respektlose, gerechtigkeitssuchende, hübsche Person mit schwarzen, lockigen Haaren, die kein Blatt vor den Mund nahm. Unerklärlich. Eine Mutation, wie sie solche Zeiten hervorbringen. 1968 eben. Sie himmelte Jens an, das konnte jeder sehen. Und dann betrog Jens Else Anfang Oktober auf der Klassenfahrt nach Straßburg mit Conny im Schullandheim, und zwar nicht nur einmal, sondern während der ganzen Fahrt. Mit Conny, die nicht in der Front war, auch nicht in der Jungen Union, die, in...