E-Book, Deutsch, 336 Seiten
McNeill Am Schattenufer
1. Auflage 2013
ISBN: 978-3-86913-252-5
Verlag: ars vivendi
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
E-Book, Deutsch, 336 Seiten
ISBN: 978-3-86913-252-5
Verlag: ars vivendi
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
September 1973: John Dalzell und Teresa Cassidy haben Nordirland für ein Auslandssemester in Deutschland den Rücken gekehrt. Fernab ihrer von Gewalt gebeutelten Heimat kann sich eine Liebe zwischen den beiden entfalten, wie sie zu Hause unmöglich gewesen wäre, denn John ist Protestant und Teresa Katholikin. Doch dann bricht unerwartet und hart der nordirische Konflikt in ihr gemeinsames Leben ein …
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1 Ihr haltet Ausschau nach einem Auto mit zwei Männern, das den Eindruck erweckt, als wäre es auf Erkundungsfahrt. Geringe Geschwindigkeit, die Männer schauen sich um. Wenn sie glauben, die Luft ist rein, fahren sie weg und kommen später wieder. Dann mit zwei Autos. Aber da ist es schon zu spät, denn im zweiten Wagen wird sich die Bombe befinden. Der Diamond, der Platz in der Mitte unseres Ortes, liegt verlassen im gelben Laternenlicht. Weggeworfene Chipstüten und Zeitungen wirbeln im leichten Wind um den Monolithen des Kriegerdenkmals. Eine leere Flasche Tennant’s rollt immer wieder gegen den Bordstein. Die üblichen nächtlichen Geräusche von Mitchellstown, die mich im Schlaf begleiten, Geräusche, die ich gar nicht mehr wahrnehme, und erst, wenn ich woanders übernachte, fehlen sie mir, und dann kann ich wegen der Stille nicht einschlafen. Euer Job besteht darin, die anderen wissen zu lassen, dass die Luft nicht rein ist. Nichts weiter. Markiert nicht die Helden. Zwei von euch in jedem Wagen, ein Katholik, ein Protestant, eine Stunde Wachdienst pro Team. Der Vorname meines Partners ist eigentlich alles, was ich von ihm weiß. »John und Seamus von vier bis fünf«, las Sergeant Hamilton bei der Besprechung unten in der Kaserne von seinem Zettel ab, nachdem er uns unsere Instruktionen gegeben hatte. Seamus kommt mir mit diesen langen dunklen Wimpern, seinen Sommersprossen und blauen Augen irgendwie bekannt vor, aber ich kann ihn nicht richtig einordnen; er müsste einer aus dem Schulbus gewesen sein, aber das war vor drei Jahren, bevor ich auf die Universität ging. Da war er wohl so fünfzehn oder sechzehn, und jetzt ist er ein Mann. Außerdem wird er sowieso oben bei den anderen katholischen Jungs von St. Columb’s gesessen haben. Über mich wird Seamus mehr wissen; schließlich parken wir gerade vor unserem Geschäft, dem größten in Mitchellstown: Dalzell’s Emporium. Wir sitzen in meinem Auto, einem zerbeulten alten Ford Prefect. Unsere Wache dauert nur noch zwölf Minuten. Meine 8-Spur-Kassette mit Sticky Fingers hat gerade ausgeleiert. Worüber könnte man reden? Worüber man nicht reden kann, ist einfacher. Über die Unruhen, die Politik, die Bomben in Mitchellstown. Diese Themen hängen im Wageninnern wie ungebetene Gäste, wie der Rauch der drei Zigaretten, die jeder von uns geraucht hat. Über Mädchen? Ich kenne die nicht, die er kennt, und er kennt die nicht, die ich kenne. Außerdem scheint er ein wenig schüchtern zu sein. Zeit für eine letzte Zigarette, und dann ab ins Bett. Ich bin dran. Ich halte Seamus die Packung hin. »Danke.« Wir zünden unsere Kippen an. Ein rechteckiger, gelber Lichtschein taucht uns gegenüber auf der Zufahrt zum Platz auf. Zwei Schatten schlüpfen in die Nacht hinaus. »Das sind bloß Spätheimkehrer aus dem McAtamney’s«, sagt Seamus. »Dort soll’s ganz nett sein«, sage ich. Das McAtamney’s ist ein katholisches Pub, ich gehe da nicht hin. »In welches gehst du?«, fragt er. »Ins Fountain.« »Aha.« Seamus wird da wohl nicht hingehen. Er betrachtet mich aufmerksam. Möchte er über diese Sache mit den getrennten Pubs reden? Über getrennte Schulen? Getrennte Leben? Ich wende mich ihm zu. Er schaut nicht mehr mich an, sondern an mir vorbei. »Kannst du mal dein Seitenfenster ein bisschen abwischen?«, fragt er. Mache ich. Nichts. »Da kam ein Auto die Church Street herauf«, sagt er. »Ich habe die Lichter gesehen.« Aus dieser Richtung sollten wir sie laut Polizei erwarten. Sie würden auf Nebenstraßen von Swatragh herüberkommen, einer Hochburg der Irish Republican Army etwa zehn Meilen entfernt. »Keine Lichter zu sehen.« »Es hat angehalten. Es parkt direkt um die Ecke.« »Vielleicht bloß ein Liebespaar.« »Doch nicht mitten in Mitchellstown.« Der Diamond wird von Scheinwerfern beleuchtet. »Da kommen sie«, sagt Seamus. Ein Auto tastet sich vor, beginnt den Diamond zu umrunden, hält an, stößt zurück und parkt vor Toner’s Schuhgeschäft mit dem Kühler zu uns. Die Lichter gehen aus. »Kennst du das Auto?«, frage ich. »Nein. Aber es ist ein Cortina.« »Scheiße.« »Genau.« Die IRA benutzt immer Cortinas. Leicht zu klauen, schwer zurückzuverfolgen. »Was jetzt?«, frage ich. »Was die Polizei sagte. Lassen wir sie wissen, dass wir da sind. Dass die Luft nicht rein ist.« »Rübergehen und ans Fenster klopfen?« »Fahr langsam an ihnen vorbei.« Ich starte den Motor und schalte die Scheinwerfer ein. Sie leuchten direkt durch die Windschutzscheibe des Cortina. Zwei Arme werden gehoben, um zwei Gesichter zu verdecken. »Hoppela«, sage ich. »Sorry, Jungs.« Wir fahren um den Diamond herum. Seamus wirft im Vorbeifahren einen Blick in das andere Auto. »Niemand aus der Gegend«, sagt er. Ich parke den Wagen, und wir stehen wieder dem Cortina gegenüber. »Du rufst besser die Polizei an«, sagt er. Ich steige aus. Dabei höre ich, wie sie im Cortina den Motor anlassen. Ich gehe rasch zu unserer Haustür. Plötzlich erscheint mein Schatten auf unserer Hauswand in einer Korona aus Scheinwerferlicht. Verdammt. Ich hätte die Schlüssel bereithalten sollen. Ich fummele sie aus der Tasche, sperre die Tür auf, husche hinein und schließe sie wieder. Den Flur entlang zum Telefon unter der Treppe, während die Lichter des Cortina durch das Oberlicht an der Decke scheinen. Ich wähle 999. Ich höre, wie der Cortina über den Platz auf unser Haus zufährt, und das Scheinwerferlicht an der Decke zieht sich zurück und verschwindet, je näher er kommt. Ich kann den Motor im Leerlauf hören. Sie halten direkt vor unserem Haus. Direkt neben meinem Wagen. »Ja?«, sagt eine Stimme am Telefon. »Rote Segel im Sonnenuntergang«, sage ich, der Code für diese Nacht. »Hier spricht John Dalzell, auf Beobachtungsposten am Diamond. Ich telefoniere von unserem Haus aus. Vor Toner’s hat ein verdächtiges Auto gehalten. Ein Ford Cortina. Jetzt kommt es her.« »Ist Seamus Cassidy bei dir?« Jetzt höre ich zum ersten Mal seinen Namen. Cassidy. Natürlich. Teresas Bruder. »Er sitzt noch draußen im Wagen.« »Wir sind gleich da.« Er legt auf. Steht der Cortina noch draußen? Was ist mit Seamus? Ich gehe ins vordere Zimmer und ziehe den Vorhang ein wenig zurück. Mein Prefect steht da. Ich kann Seamus’ Rücken erkennen. Kein weiteres Auto in Sicht. Ich gehe hinaus und steige ein. »Sind sie weg?« »Sie sind die Church Street zurückgefahren.« »Haben sie nicht neben dir gehalten?« »Nein. Sie sind gleich weitergefahren.« »Ich dachte, ich hätte sie herfahren und hier halten hören.« Er schüttelt den Kopf. »Die Polizei ist gleich da.« Und schon fährt der graue Landrover der Royal Ulster Constabulary um den Diamond herum, hält direkt neben uns, das Seitenfenster wird heruntergekurbelt. Seamus lässt das unsrige herunter. »Alles okay, Jungs?« »Klar.« »Habt ihr ein Kennzeichen?« »Nein, leider nicht, war zu dunkel«, sagt Seamus. »Welche Richtung hat der Wagen eingeschlagen?« »Wieder durch die Church Street.« »Gute Arbeit, Jungs, ihr könnt jetzt heimgehen. Wir übernehmen das.« Sie setzen zurück, wenden und parken erneut neben meinem Auto, diesmal mit der Front zum Platz. »Wie kommst du nach Hause?«, frage ich Seamus. »Soll ich dich fahren?« »Nein, ich bin mit dem Rad da.« »Das könnten wir in den Kofferraum tun.« »Nee, nee, bloß keine Umstände.« Er macht Anstalten auszusteigen. »Wie geht’s Teresa?«, frage ich, als er schon halb zur Tür draußen ist. »Gut.« »Ich seh sie hier gar nicht mehr. Was macht sie?« »Sie ist drüben in England. In Canterbury. Studiert.« »Was?« »Deutsch, glaube ich. Also dann, gute Nacht. Oder besser: guten Morgen.« »Was glaubst du, haben wir die Stadt vor einer Bombe gerettet?« Er zuckt die Achseln und ist weg. Ich fahre mit meinem Prefect los, um den Diamond herum, durch die Church Street und die Auffahrt zum Fair Hill hinauf. Teresa Cassidys Bruder. So was. Ich war mal in sie verliebt. Na gut, eigentlich war’s wohl eher eine Schwärmerei. Nicht, dass sie je davon erfahren hätte. Ich habe sie immer nur im Bus zur Schule nach Coleraine gesehen. Wir hätten uns nirgendwo sonst begegnen können, weil sie katholisch ist. Andere Schulen, andere Jugendclubs, andere Sportarten. Sogar andere Abteile im Bus; sie waren oben und wir waren unten, ohne dass das jemand so geplant hätte; es hat sich einfach so ergeben; und klar haben wir den Katholiken an der Bushaltestelle zugenickt und so, aber man saß immer mit seinesgleichen zusammen. Ich erinnere mich noch an den Augenblick, in dem ich mich in sie verguckte. Es passierte, als ich ihr Lächeln von der Seite sah, es war die Art, wie ihre Mundwinkel unter den Wangenknochen Kringel und Grübchen bildeten. Ganz in sich versunken war sie, lächelte nur für sich selbst. Weil ich unten keinen Sitzplatz gefunden hatte, war ich nach oben gegangen, was genauso wenig ein Problem darstellte, wie wenn Katholiken mal unten saßen; man hat sich nur nicht groß unterhalten. Es war ein Mittwochnachmittag im November, was bedeutete, dass es um vier schon...