McCarthy | Zeitflut | E-Book | sack.de
E-Book

E-Book, Deutsch, 448 Seiten

McCarthy Zeitflut

Roman
1. Auflage 2021
ISBN: 978-3-641-25696-8
Verlag: Heyne
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark

Roman

E-Book, Deutsch, 448 Seiten

ISBN: 978-3-641-25696-8
Verlag: Heyne
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark



Was wissen wir eigentlich über die Steinzeit? Nur das, was uns die archäologischen Funde offenbaren. Doch was, wenn die Legende vom Höhlenmenschen nicht mehr ist als – eine Legende? Wenn die Steinzeit stattdessen ein Zeitalter der Bildung und des Fortschritts gewesen wäre? Den beiden Wissenschaftlern Harv Leonel und Tara Mukherjee ist eine bahnbrechende Entdeckung gelungen, eine Entdeckung, die es den Menschen ermöglicht, die Vergangenheit mit eigenen Augen zu sehen. Doch die alte Welt ist in Gefahr, und wenn es Harv und Tara nicht gelingt, sie zu retten, ist das Erbe der Menschheit für immer verloren ...

Wil McCarthy, geboren 1966 in Princeton, New Jersey, lebt mit seiner Familie in Denver, Colorado. In seinem Beruf als Ingenieur bei Lockheed gehörte er zu den Männern, die bei Raketenstarts »Lenkungssysteme startklar« melden. Als Science-Fiction-Autor wurde er durch zahlreiche brillante Kurzgeschichten bekannt, denen mehrere Romane folgten. Er machte die Idee der programmierbaren Materie in seiner SOL-Trilogie populär, zu der er auch wissenschaftlich arbeitete. Heute leitet er eine Solarenergie-Firma und ist als Kolumnist für Syfy tätig.
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Boulder Creek Apartments

Boulder, Colorado

Gegenwart

»Bist du dir sicher, dass du das willst?«, fragte Tara Mukkerjee, als sie sich beide vom Bett erhoben, um den bedeutsamen Tag zu beginnen.

»Sicher?«, erwiderte Harv Leonel. »Was ist das denn für eine Frage. Was haben wir den ganzen Sommer über denn gemacht?«

Sie putzten sich die Zähne, duschten und zogen sich an, und noch immer schwebte die unausgesprochene Frage im Raum: Bist du dir sicher, dass du heute in die Zeitmaschine steigen willst?

Und die ebenfalls unausgesprochene Antwort war nicht minder laut: Ganz sicher, Tara, mein Schatz.

»Möchtest du Eier?«, fragte Tara. Für gewöhnlich kümmerte er sich ums Frühstück, doch heute war ein besonderer Tag – ein sehr besonderer Tag –, und das wollte sie irgendwie würdigen.

»Mmm«, machte er nachdenklich. »Und Toast. Die Kohlenhydrate können wir gut gebrauchen.«

Sie wechselten nur ein paar Worte, sprachen kurz über das Wetter (sonnig) und die Schlagzeilen (düster). Sie hatten das Gefühl, dies alles sei unwichtig, doch worüber hätten sie sonst reden sollen? Er hatte recht: Tara hatte ihm den ganzen Sommer über beim Bau der verdammten Maschine geholfen. Da konnte sie ihm schlecht raten (ihn bitten, ihn anflehen), sie nicht zu benutzen.

Als sie das Geschirr in die Spüle stellten, packte er sie und küsste sie leidenschaftlich, und sie erwiderte den Kuss noch leidenschaftlicher, denn sie glaubte zu wissen, dass sie ihn liebte. Wie sonst wäre all das zu erklären gewesen? Sie hatte eine Postdoc-Stelle am Institut für Paläogenetik der Cornell University – ohne Frage eine renommierte Uni –, und er hatte ihr am letzten Vorlesungstag eine Frage zum Y-Chromosom gestellt. Er war zwar glattrasiert, doch sein schwarzer Haarschopf konnte dringend einen Haarschnitt gebrauchen, und wie viele der hellhäutigen Bewohner von Colorado war er sonnengebräunt und wirkte irgendwie wettergegerbt. Sein schiefes Lächeln aber war einnehmend, und später am Abend küsste sie ihn in einer Bar auf dem Hill, obwohl er nach Bourbon und Thic-Nic-Vape roch, und am Tag darauf ließ sie sich von ihm in seinem Jeep mit hundert Stundenkilometern durch die Berge kutschieren, die ganze Zeit über die Hand auf seinem Oberschenkel, und am Abend warf sie sich auf sein Bett und machte Sachen, die brave Hindu-Mädchen normalerweise nicht tun.

Und dann verbrachte sie auf einmal ihre ganze Freizeit in seinem Labor im Keller des Technikzentrums. Wieso auch nicht? Er war nicht besonders attraktiv oder charmant, doch er war höllisch smart und auch ein bisschen gefährlich und interessierte sich für Quantenrechner und die Quantenspeicheraspekte des menschlichen Genoms. »Quantom« nannte er das.

»Die potenzielle Anzahl der Speicherzustände in einem einzigen Chromosom ist drei hoch zwei Milliarden Mal so groß wie die Zahl der Gene«, sagte er spontan, als sie zum ersten Mal sah, woran er arbeitete. »Das ist zehn bis dreizehn Mal so viel wie die Zahl der Atome im bekannten Universum. Eine gewaltige Zahl! Aber wenn das Chromosom vier Arme hat, wird das Gleichgewicht gestört, und die kohärenten Zustände brechen zusammen.«

Taras Paläogenetik-Kollegen waren, vorsichtig ausgedrückt, skeptisch gewesen. Was wusste ein Professor der Elektrotechnik schon von Genen? Taras Spezialgebiet aber waren die Haplogruppen des Y-Chromosoms – sie untersuchte, wie weit sie sich von der ursprünglichen A00-Gruppe des Adams des Y-Chromosoms fortentwickelten, sich ausbreiteten, ausstarben und die Welt eroberten. Sie kannte das unförmige kleine Chromosom bis zur atomaren Ebene, und je mehr sie zuhörte und nachdachte, je kundiger sie sich machte und ihre Erkenntnisse mit Daten unterfütterte, desto stärker wurde ihre Überzeugung, dass Harv Leonel auf einer verdammt heißen Spur war. Seine Ähnlichkeit mit einem trinären oder ternären Quantencompiler, wie Harv es nannte, war anscheinend weder trivial noch zufällig. Hatte die Evolution kritische genetische Funktionen auf so kleinem, merkwürdig geformtem Raum untergebracht, weil diese Struktur eine besondere Funktion hatte?

Der Gedanke sandte ihr immer noch Schauer über den Rücken, und mehr als einmal hatte sie überlegt, dass sie sich vermutlich einen Nobelpreis mit Harv teilen könnte, wenn sie ihm half, seine These zu belegen. Doch das war nicht der Grund, weshalb sie ihm geholfen hatte. Nein, ganz bestimmt nicht.

»Vertraust du mir?«, fragte er, als er ihren Rucksack und die Schlüssel an sich nahm.

»Nein«, antwortete sie aufrichtig. »Aber ich möchte gern.«

Er war zweiundzwanzig Jahre älter als sie, so alt, dass er bereits überall auf der Welt Alkohol trinken durfte, als sie zur Welt kam. Während sie in Indien zur Schule ging, hatte er vermutlich Pot geraucht und mit mehr jungen Frauen geschlafen, als sie sich vorstellen wollte. Sie wusste, dass er geschieden und die Trennung hässlich gewesen war und dass er sich geschworen hatte, nie wieder zu heiraten, bis er den Schwur irgendwann zurückgenommen hatte. Sie hatte ihn nie gefragt, was ihn dazu bewogen hatte und wann das gewesen war oder was es für sie beide bedeuten mochte.

»Bereit?«, fragte er von der Tür aus.

Nein, wollte sie sagen. Überhaupt nicht. Kein bisschen. Doch stattdessen lächelte sie gezwungen und nickte, denn genau davon hatte er immer geträumt, und sie wollte ihm nicht im Weg stehen. Vor allem wollte sie nicht herausfinden, dass ihm die Wahrheit mehr bedeutete als ihre Beziehung und dass er den Einschaltknopf notfalls auch in ihrer Abwesenheit drücken würde.

Wie immer steuerte er den Wagen, und obwohl der dichte Verkehr ihn daran hinderte, richtig Gas zu geben, spürte sie, dass er innerlich brannte vor Ungeduld und Tatendrang. Das Experiment wurde von der National Science Foundation, der Forschungseinrichtung des Verteidigungsministeriums, und aus der schwarzen Kasse des Instituts für Elektrotechnik finanziert, vor allem deshalb, weil Harv verschwiegen hatte, dass er plante, den Ausgang eines transkraniellen magnetischen Stimulators mit dem Hippocampus seines Gehirns zu koppeln.

»Das ist eine Art Zeitmaschine«, hatte er ihr beim dritten Date eröffnet. »Sie transportiert Informationen aus der fernen Vergangenheit ins aktuelle Gedächtnis. Wer weiß, vielleicht findet sich da drinnen ja eine ganze Bibliothek.«

Zu dem Zeitpunkt war ihr das nicht einmal verrückt vorgekommen.

Ach, Harv. Verdammt noch mal!

Das Labor – ihrer beider Labor – war ein Tohuwabohu aus Kabeln, Monitoren und Dewargefäßen mit flüssigem Stickstoff. Im Laufe des Sommers war das Chaos allmählich aus Taras Fokus geraten und zu einem Teil der normalen Unordnung der realen Wissenschaft geworden, doch heute hatte sie den Eindruck, es zum ersten Mal zu sehen. Stromleitungen und Glasfaserkabel schlängelten sich über den Boden, weder mit Kabelbindern noch mit Klebeband fixiert, sondern einfach hastig von einem grauen Kasten zum nächsten gezogen. Darin flossen Strom, Daten und Femtosekunden-Pulse dorthin, wo sie gebraucht wurden. An den Wänden und den Geräten klebten Comics und Cartoons: Die andere Seite, XKCD, Cyanide and Happiness, Calvin und Hobbes. Alles, was mit Zeitreisen zu tun hatte. Alles, was mit Quantenrechnern oder Gehirnstimulation zu tun hatte. Die Kontrollleuchten leuchteten bereits, und Gurdeep Patel war da, ging vorsichtig umher und überprüfte alles mit Hilfe eines Klemmbretts.

»Hallo, Boss«, sagte Patel und nickte.

»Sie sind früh auf«, bemerkte Harv.

»Sie auch.«

Patel war Harv Leonels offizieller Assistent – ein Doktorand, der noch weniger verdiente, als das Institut für Paläogenetik Tara bezahlte. Er war ein aufgeweckter junger Mann, aber zum Glück nicht sonderlich aufmerksam für das, was in seiner Umgebung vor sich ging. Soweit Tara wusste, hatte er keine Ahnung, dass das geplante Experiment weder begutachtet noch mit den zuständigen Stellen abgesprochen worden war. Harv hatte ein bisschen Blabla in den Förderantrag hineingeschrieben, das in diese Richtung wies – gerade so eben ausreichend, um sich später darauf berufen zu können, er habe seine Absichten offengelegt, jedoch nicht so viel, dass das Prüfungskomitee nachgefragt hätte.

Die Frage, ob ein Quantom mit dem menschlichen Gehirn interagieren oder ob es in die Lage dazu versetzt werden kann, sollte untersucht werden.

War Patel sich der Täuschung bewusst? Aber wäre er dann hier erschienen?

»Hallo, Mukkerjee«, begrüßte Patel sie.

»Hallo, Patel.« Ist dir bewusst, dass dein Doktorvater im Begriff ist, sich das Gehirn zu braten?

Mit erstaunlichem Geschick bahnte Harv sich einen Weg zum NMR-Gerät – dem Herzen der Zeitmaschine –, setzte sich auf den Rollhocker und fuhr nach und nach die Systeme hoch: Controller, läuft. Kühlung, läuft. Gyrotron, läuft. Ablenkgenerator und Verbindungskabel. Sonde. Detektor. Verstärker. Prozessor. Läuft, läuft, läuft.

Er ließ das Primärdiagnoseprogramm laufen, dann das komplette Diagnoseprogramm und schließlich das erweiterte. Danach überprüfte er die Signale eines Zieldummys – eines richtigen ternären Quantencompilers, zehnmal so groß und mehrere Tausend Mal so schwer wie das darunter befindliche Y-Chromosom.

»Geht das für dich in Ordnung?«, fragte Tara Patel leise.

Patel zuckte mit den Schultern. »Klar. Wieso nicht?«

»Ich habe so meine...


McCarthy, Wil
Wil McCarthy, geboren 1966 in Princeton, New Jersey, lebt mit seiner Familie in Denver, Colorado. In seinem Beruf als Ingenieur bei Lockheed gehörte er zu den Männern, die bei Raketenstarts »Lenkungssysteme startklar« melden. Als Science-Fiction-Autor wurde er durch zahlreiche brillante Kurzgeschichten bekannt, denen mehrere Romane folgten. Er machte die Idee der programmierbaren Materie in seiner SOL-Trilogie populär, zu der er auch wissenschaftlich arbeitete. Heute leitet er eine Solarenergie-Firma und ist als Kolumnist für Syfy tätig.

Stöbe, Norbert
Norbert Stöbe, 1953 in Troisdorf geboren, begann schon als Chemiestudent zu schreiben. Neben seiner Tätigkeit als Chemiker am Institut Textilchemie und Makromolekulare Chemie der RWTH Aachen übersetzte er die ersten Bücher. Sein Roman New York ist himmlisch wurde mit dem C. Bertelsmann Förderpreis und dem Kurd-Lasswitz-Preis ausgezeichnet. Seine Erzählung Der Durst der Stadt erhielt den Kurd-Lasswitz-Preis und die Kurzgeschichte Zehn Punkte den Deutschen Science Fiction Preis. Zu seinen weiteren bekannten Romanen zählen Spielzeit, Namenlos und Der Weg nach unten. Norbert Stöbe ist einer der bekanntesten deutschen Science-Fiction-Schriftsteller. Er lebt als freier Autor und Übersetzer in Stolberg.



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