McBride | Die Farbe von Wasser | E-Book | sack.de
E-Book

E-Book, Deutsch, 336 Seiten

McBride Die Farbe von Wasser

Roman
1. Auflage 2018
ISBN: 978-3-641-24187-2
Verlag: btb
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark

Roman

E-Book, Deutsch, 336 Seiten

ISBN: 978-3-641-24187-2
Verlag: btb
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark



Die Farbe von Wasser erzählt die Geschichte James McBrides, der in den sechziger Jahren - den Zeiten von Malcolm X und Martin Luther Kings - an der Seite von elf Geschwistern in New York aufwächst. Vor allem aber erzählt es die bewegende Geschichte seiner weißen Mutter Ruth, die 1921 in Polen als Tochter eines orthodoxen Rabbiners geboren wird, mit zwei Jahren mit ihrer Familie nach Amerika auswandert und mit 17 für immer ihr Elternhaus in Virgina verlässt, um in New York einen Schwarzen zu heiraten. Eine Familiengeschichte wie ein Roman, mit einer Heldin, die wie selbstverständlich über Rassenkonflikte und persönliche Entbehrungen triumphiert.

James McBride - Autor, Musiker, Drehbuchschreiber, Journalist - wurde weltberühmt durch seinen autobiografischen Roman 'Die Farbe von Wasser'. Das Buch gilt inzwischen als Klassiker in den Vereinigten Staaten, es stand zwei Jahre lang auf der New York Times-Bestsellerliste. Sein Debüt 'Das Wunder von St. Anna' wurde vom amerikanischen Kultregisseur Spike Lee verfilmt. Für 'Das verrückte Tagebuch des Henry Shackleford' erhielt James McBride den renommierten National Book Award. 2015 wurde er von Barack Obama mit der National Humanities Medal ausgezeichnet.
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2


Das Fahrrad


Als ich vierzehn Jahre alt war, hatte meine Mutter plötzlich zwei neue Hobbys: Fahrradfahren und Klavierspielen. Das Klavier störte mich nicht weiter, aber das Fahrrad machte mich wahnsinnig. Es war eine riesige alte Klapperkiste, blau mit weißen Zierleisten und dicken fetten Reifen, riesig breiten Schutzblechen und einer batteriebetriebenen Hupe, die ins Gestell eingebaut war und per Knopfdruck betätigt wurde. Das Ding hätte heute einen Sammlerwert von mindestens fünftausend Dollar, aber damals hatte es mein Stiefvater einfach nur in Brooklyn auf der Straße gefunden und mit nach Hause geschleppt, ein paar Monate bevor er starb.

Ich weiß nicht, ob es seine Entscheidung war, abzudanken, aber ich glaube es eigentlich nicht. Er starb mit 72 und war gut in Form, stark, gelassen, scheinbar unerschütterlich, und obwohl er mein Stiefvater war, nannte ich ihn immer Daddy. Er war ein ruhiger Mann, der leise sprach und altmodische Kleider trug, Samthüte, buttondown Wollmäntel, Hosenträger, und er war immer ordentlich angezogen, egal wie schmutzig er sich bei der Arbeit machte. Er arbeitete immer langsam und bedächtig, aber unter seinem traktorhaften Tempo und seiner äußerlichen Sanftheit war er eine Mischung aus verschwiegenem Indianer und ländlichem Schwarzen: trittsicher, hart, kühn und schnell. Er ließ sich nicht zum Narren halten und hielt auch niemand zum Narren. Er heiratete meine Mutter, eine weiße Jüdin, als sie schon acht schwarze Mischlingskinder hatte, von denen ich als knapp Einjähriger das Jüngste war. Sie hatten zusammen noch vier weitere Kinder, um das Dutzend voll zu machen, und er sorgte für uns, wie für seine eigenen Kinder. »Ich hab genug für eine ganze Baseballmannschaft«, witzelte er. Es passierte von einem Tag auf den anderen – ein Schlaganfall, und weg war er.

Nachdem er gestorben war, fiel ich in allen Fächern durch und flog in hohem Bogen von der Schule. Ich brachte das Jahr damit zu, mit meinen Freunden in der 42nd Street am Times Square ins Kino zu gehen. »James macht gerade Revolution«, spotteten meine Geschwister. Dennoch waren meine Schwestern besorgt, meine älteren Brüder verärgert. Ich beachtete sie nicht. Ich und die Jungs, mit denen ich durch die Gegend zog, guckten uns jeden Film an. Wir rauchten jede Menge Gras. Ich klaute Handtaschen. Ich beging Ladendiebstähle. Ich raubte sogar mal einen Kleindealer aus. Und dann, nach einem Tag Schuleschwänzen, Kiffen, Rasiermesserschwenken und U-Bahnfahren, kam ich nachmittags nach Hause und erblickte meine Mutter auf ihrem blauen Fahrrad.

Sie fuhr immer in Zeitlupe unsere Straße entlang, die Murdoch Avenue in St. Albans, im Bezirk Queens, die einzige Weiße weit und breit, während die Autos einen großen Bogen um sie machten und schwarze Mopedfahrer diese merkwürdige weiße Frau mittleren Alters auf ihrem uralten Fahrrad begafften. Es war ihre Art zu trauern, obwohl mir das damals noch nicht klar war. Hunter Jordan, mein Stiefvater, war tot. Andrew McBride, mein biologischer Vater, war vierzehn Jahre zuvor gestorben, als sie gerade mit mir schwanger war. Es war klar, dass Mama kein Interesse mehr daran hatte, noch einmal zu heiraten, trotz der Bemühungen einiger örtlicher Priester mit ihren Cadillacs und ihrem breiten Grinsen, die genau wussten, dass Mama, das heißt wir alle, chronisch pleite waren. Mit 51 war sie noch immer schlank und hübsch, mit schwarzen Locken, dunklen Augen, einer großen Nase, einem strahlenden Lächeln und einem o-beinigen Gang, den man schon von weitem erkannte. Wir sagten dazu immer »Mamas wütender Gang«, denn wenn sie einem so entgegenkam, konnte man sicher sein, dass gleich die Hölle los war. Ich hatte schon manches Mal erlebt, wie sie auf einige ziemlich harte Typen zumarschiert war und ihnen ihre Faust vor der Nase hin- und hergeschüttelt hatte vor lauter Wut – aber das war noch bevor Daddy starb. Jetzt schien sie es sich in den Kopf gesetzt zu haben, Klavier zu spielen, mit Geldeintreibern Versteck zu spielen, uns durch schiere Willensanstrengung auf die Universität zu schicken und mit dem Fahrrad kreuz und quer durch Queens zu fahren. Sie weigerte sich, Autofahren zu lernen. Daddys altes Auto stand wochenlang draußen am Straßenrand geparkt. Lautlos. Sauber. Glänzend. Jeden Tag fuhr sie mit dem Fahrrad daran vorbei und tat einfach, als sähe sie es nicht.

Ihr Anblick auf diesem Fahrrad fasste für mich ihre ganze Existenz zusammen. Ihre Andersartigkeit, ihr komplett fehlendes Bewusstsein dafür, was die Leute von ihr dachten, ihre Gelassenheit angesichts der, wie ich fand, ständigen Bedrohung sowohl durch Schwarze als auch Weiße, denen es nicht passte, dass sie als Weiße unter Schwarzen lebte. Sie sah nichts davon. Sie fuhr so langsam, dass es von weitem so aussah, als bewegte sie sich gar nicht, das Bild erstarrte, zeichnete sich gegen den Frühlingshimmel ab, eine weiße Frau mittleren Alters auf einem uralten Fahrrad, an der schwarze Kinder auf Skateboards und Stingray-Rädern vorbeisausten und Kunststücke aufführten und sich Bälle zuwarfen, die an ihrem Kopf vorüberschwirrten, und Knallfrösche warfen, die neben ihr niedergingen. Sie kümmerte sich nicht im Geringsten darum. Sie trug ein geblümtes Kleid und schwarze Halbschuhe, ihr Kopf schlackerte hin und her, während sie wacklig um die Ecke bog, an der ich mit meinen Freunden Baseball spielte, die Lewiston Avenue rauf, die Mayville Street bergab, wo ein hübscher Junge namens Roger bei einem Autounfall ums Leben gekommen war, die Murdock Street wieder bergauf, über die Schwelle zu unserer Einfahrt und bis vor unser Haus. »Puh!«, sagte sie dann immer, während meine Geschwister, die draußen auf den Stufen saßen, um ein Auge auf sie zu haben, den Kopf schüttelten. Meine Schwester Dotty sagte dann immer: »Mir wär’s wirklich lieber, du würdest diese Radfahrerei sein lassen, Mama«, und im Stillen pflichtete ich ihr bei, aber vor allem, weil ich nicht wollte, dass meine Freunde sahen, wie meine weiße Mutter auf einem Fahrrad durch die Gegend gurkte. Sie war ohnehin schon weiß, was schlimm genug war, aber ein altes Rad zu fahren, das schon seit hundert Jahren aus der Mode war? Und das auch noch als Erwachsene? Das war einfach zu viel für mich. Schon als Junge fand ich meine Mutter immer sonderbar. Ihr lag nichts daran, sich mit den Nachbarn anzufreunden. Über ihre Vergangenheit sprach sie grundsätzlich nicht. Sie trank Tee aus einem Glas. Sie konnte Jiddisch. Sie hegte entschiedenes Misstrauen gegenüber Autoritäten, und unser Privatleben war ihr heilig, was sie, und meine ganze Familie, für die anderen nur noch sonderbarer machte. Meine Familie war riesig, mit zwölf Kindern, und ganz anders als alle Familien, die ich je kennengelernt hatte. Wir waren so viele zu Hause, dass uns Mama manchmal rief, indem sie »He, James-Judy-Henry-Hunter-Kath – wie auch immer, komm doch mal eben.« Es war nicht so, dass sie vergessen hätte, wer wir waren, bloß waren wir so viele, dass oft keine Zeit blieb für so etwas Nebensächliches wie Namen. Bei uns zu Hause war sie der Kommandeur, weil mein Stiefvater nicht bei uns wohnte. Er wohnte bis kurz vor seinem Tod in Brooklyn, hielt sich von der Meute fern und kam nur an den Wochenenden nach Hause, mit Lebensmitteln und Dreirädern und dem Vorsatz, all die verschiedenen Dinge zu reparieren, die wir im Lauf der Woche kaputtgemacht hatten. Die Kleinarbeit, also unsere Erziehung, überließ er Mama, die zugleich Oberärztin (»Tu Jod drauf«), Kriegsministerin (»Wenn dich jemand schlägt, nimm deine Faust und hau ihm eine rein«), religiöser Wegweiser (»An erster Stelle kommt Gott«), Psychologin (»Denk einfach nicht dran«) und Finanzberaterin war (»Was willst du mit Geld, wenn du nichts im Kopf hast?«). Fragen, die mit Hautfarbe oder Identität zusammenhingen, überging sie einfach.

Ich weiß noch, wie ich mir als Kind wünschte, zu der Familie in der Fernsehserie Father Knows Best zu gehören. Da kam der Vater abends im Anzug von der Arbeit nach Hause, und nie gab es mehr Kinder, als auf seinen Schoß passten, anders bei uns, wo alle mit zerlöcherten Hosen und Turnschuhen herumliefen, die im John’s Bargains-Laden 1 Dollar 99 kosteten, und die Eltern waren immer beschäftigt und nie bei der Sache, und einen Stiefvater hatten wir, der tauchte nur am Wochenende in Hemdsärmeln mit seinem Werkzeugkasten auf, und eine Mutter, die unablässig Windeln, Sicherheitsnadeln, Waschlappen, Ohrenstäbchen und auf jedem Arm ein Kind durch die Gegend schleppte, während ein drittes an ihrem Rock zerrte. Kaum hatte sie einem Kind den Hintern abgewischt, brüllte sich schon das nächste die Seele aus dem Leib. Damals in der Red-Hook-Siedlung in Brooklyn, wo wir wohnten, bevor wir nach Queens ins relativ paradiesische St. Albans zogen, schliefen wir immer wie die Ölsardinen zu dritt oder viert in einem Bett, einer mit dem Kopf zum Kopfende, der Nächste mit dem Kopf zum Fußende und immer so weiter. »Kopf oben, Zehen unten«, rief Mama, gab jedem von uns einen Gutenachtkuss und legte ihn in Position. Sobald sie aus dem Zimmer war, stritten wir darum, wer an der Wand liegen durfte. »Ich lieg an der Wand!«, brüllte ich immer, und Richard, mein nächstälterer Bruder und somit überlegener Gegner, schüttelte dann immer den Kopf und sagte: »Nein, nein, nein. David schläft an der Wand. Ich geh in die Mitte. Du, Holzkopf, gehst nach außen.« Also musste ich die ganze Nacht lang Davids Atem einatmen und hatte Richies Zehen im Gesicht, und wenn ich die Kombination aus Zehen und Atem nicht mehr aushielt, drehte ich mich rum und knallte auf den kalten Zementboden.

Friss oder stirb war bei uns die Devise, und Mama war Spezialistin auf dem Gebiet, immerhin hatte sie das System selbst eingeführt. Man war auf sich...


McBride, James
James McBride – Autor, Musiker, Drehbuchschreiber, Journalist – wurde weltberühmt durch seinen autobiografischen Roman "Die Farbe von Wasser". Das Buch gilt inzwischen als Klassiker in den Vereinigten Staaten, es stand zwei Jahre lang auf der New York Times-Bestsellerliste. Sein Debüt "Das Wunder von St. Anna" wurde vom amerikanischen Kultregisseur Spike Lee verfilmt. Für "Das verrückte Tagebuch des Henry Shackleford" erhielt James McBride den renommierten National Book Award. 2015 wurde er von Barack Obama mit der National Humanities Medal ausgezeichnet.



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