McBride | Das verrückte Tagebuch des Henry Shackleford | E-Book | sack.de
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E-Book, Deutsch, 464 Seiten

McBride Das verrückte Tagebuch des Henry Shackleford

Roman
1. Auflage 2015
ISBN: 978-3-641-15375-5
Verlag: btb
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark

Roman

E-Book, Deutsch, 464 Seiten

ISBN: 978-3-641-15375-5
Verlag: btb
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark



Ausgezeichnet mit dem National Book Award.
Kansas im Jahre 1857: Hier, im Mittleren Westen der USA, lebt der junge Sklave Henry Shackleford. Hier tobt auch der Krieg zwischen überzeugten Sklavenhaltern und bibeltreuen Abolitionisten besonders wüst. John Brown ist einer derjenigen, die beseelt davon sind, Gottes Willen durchzusetzen und die Schwarzen in die Freiheit zu führen. Als er zufällig in einer Kneipe auf Henrys grausamen Master trifft - einen weithin bekannten und berüchtigten Sklavenhalter -, kommt es zu einer gewalttätigen Auseinandersetzung, in deren Folge beide fliehen müssen: sowohl John Brown als auch der junge Henry, der irrtümlicherweise für ein Mädchen gehalten wird und schnell begreift, dass dies seine Vorteile hat ...

James McBride - Autor, Musiker, Drehbuchschreiber, Journalist - wurde weltberühmt durch seinen autobiografischen Roman 'Die Farbe von Wasser'. Das Buch gilt inzwischen als Klassiker in den Vereinigten Staaten, es stand zwei Jahre lang auf der New York Times-Bestsellerliste. Sein Debüt 'Das Wunder von St. Anna' wurde vom amerikanischen Kultregisseur Spike Lee verfilmt. Für 'Das verrückte Tagebuch des Henry Shackleford' erhielt James McBride den renommierten National Book Award. 2015 wurde er von Barack Obama mit der National Humanities Medal ausgezeichnet.
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1

Lerne den Herrn kennen

Ich wurde als farbiger Mann geboren, vergiss das nicht. Aber siebzehn Jahre hab ich als farbige Frau gelebt.

Pa war ein Vollblut-Neger aus Osawatomie im Kansas-Territorium, nördlich von Fort Scott, nicht weit von Lawrence. Pa war Barbier, obwohl ihn das nie richtig befriedigt hat. Das Evangelium zu predigen, das war seine Leidenschaft. Er hatte keine feste Kirche wie eine von denen, wo du nur mittwochs abends Bingo spielen darfst und die Frauen sitzen rum und schneiden Papierpuppen aus. Er rettete die Seelen eine nach der anderen beim Haareschneiden in Dutch Henrys Kneipe. Die lag an einer Kreuzung vom California Trail, der in Süd-Kansas am Kaw River langführt.

Pa kümmerte sich hauptsächlich um Abschaum, Aufschneider, Sklavenhändler und Trinker, die über den Kansas-Trail zogen. Mit seiner Statur machte er nicht viel her, aber dafür putzte er sich gerne raus. Am liebsten trug er einen Zylinder, Hochwasserhosen, ein Hemd mit hohem Kragen und Stiefel mit Absätzen. Der Großteil seiner Kleider war Zeugs, das er irgendwo fand oder von weißen Toten klaute, die in der Prärie von der Wassersucht hingerafft worden waren oder denen ein Streit den Garaus gemacht hatte. In seinem Hemd waren Einschusslöcher so groß wie ein Vierteldollar, und sein Hut war ihm zwei Nummern zu klein. Seine Hose bestand aus zwei verschiedenfarbigen Exemplaren und war an der Stelle zusammengenäht, wo sich die Hinterbacken trafen. Seine Haare waren kraus genug, um ein Streichholz dran anzureißen, und die meisten Frauen hielten möglichst Abstand von ihm, meine Ma eingeschlossen, die ihre Augen für immer schloss, als sie mich in dieses Leben beförderte. Es heißt, dass sie ein sanftes Halbblut war. »Deine Ma war die einzige Frau in der Welt, die Manns genug war, meinen heiligen Gedanken zu lauschen«, tönte Pa, »denn ich bin ein Mensch mit vielen Talenten.«

Was immer das für Talente sein sollten, größer machten sie ihn nicht, denn aufrecht und rausgeputzt wie nur was, komplett mit Stiefeln und zehn Zentimetern Zylinder, kam Pa gerade mal auf knapp eins vierundvierzig, und davon war noch einiges Luft.

Doch was er an Größe vermissen ließ, machte er mit seiner Stimme wett. Mein Pa konnte jeden Weißen niederschreien, der je über Gottes grüne Erde lief, ohne Ausnahme. Seine Stimme war hoch und schrill, und wenn er was sagte, dachtest du, der hat ’ne Maultrommel verschluckt, denn die Worte kamen platzend und knallend aus ihm raus. Und wer mit ihm redete, dem wusch er gleich auch noch das Gesicht mit seiner Spucke. Wobei, das war noch nicht alles, da war noch sein Mundgeruch. Sein Atem stank nach Schweinsgedärm und Sägemehl, weil er viele Jahre in einem Schlachthof gearbeitet hatte, und die meisten Farbigen gingen ihm deshalb aus dem Weg.

Aber die Weißen, die mochten ihn. Oft hab ich abends gesehen, wie er sich mit Freudensaft volllaufen ließ, und dann ist er auf Dutch Henrys Theke gesprungen, hat mit seiner Schere in der Luft rumgeschnipselt und durch Rauchschwaden und Ginwolken gebrüllt: »Der Herr wird kommen! Und es wird ein großes Zähneknirschen und Haareausreißen geben!« Und mit diesem Geschrei warf er sich mitten zwischen die miesesten, übelsten, sturzbesoffensten Missouri-Rebellen, die du je erlebt hast. Und wenn sie ihn meist auch verprügelten und ihm die Zähne eintraten, waren sie ihm doch genauso wenig böse, weil er ja im Namen des heiligen Geistes über sie herfiel, wie sie’s einem Tornado gewesen wären, der sich ’ne Schneise durch die Kneipe geschlagen hätte, denn der Geist des Erlösers Der Sein Blut Vergoss war ’ne ernste Sache damals draußen in der Prärie und der einfache weiße Pionier wusste von der Hoffnung und allem. Die meisten von ihnen waren mit reichlich Hoffnung in den Westen gekommen, ohne dass es da so geklappt hätte, wie’s hätte klappen sollen, und so war alles, was ihnen aus dem Bett half, um ein paar Indianer umzubringen, besser, als vom Schüttelfrost oder einer Klapperschlange das Licht ausgeblasen zu kriegen. Helfen tat auch, dass Pa den besten Rachenputzer im ganzen Kansas-Territorium brannte. Er war zwar ein Prediger, aber deswegen keinem Schluck oder dreien abgeneigt, und was immer für ’n Rabauke ihm auch die Haare ausgerissen und ihn ausgeknockt hatte, anschließend half er ihm wieder hoch und sagte: »Trinken wir einen«, und die Bande zog los, heulte den Mond an und soff Pas Fusel. Pa war stolz auf seine Freundschaft mit der weißen Rasse, wobei er sich auch da auf die Bibel berief. »Sohn«, sagte er, »denk immer an das Buch Hiesekal, das zwölfte Kapitel und den siebzehnten Vers: ›Reiche das Glas deinem durstigen Nachbarn, Käpt’n Ahab, und lass es ihn leeren.‹«

Ich war längst ein erwachsener Mann, als ich erfuhr, dass es gar kein Buch Hiesekal in der Bibel gab. Und auch keinen Käpt’n Ahab. Tatsache ist, dass Pa keinen Buchstaben vom anderen unterscheiden konnte, und er zitierte nur Bibelverse, die er bei den Weißen aufgeschnappt hatte.

Es stimmt, dass es eine Bewegung in der Stadt gab, die meinen Pa hängen wollte, weil er sich mit dem heiligen Geist füllte und über die nach Westen ziehenden Siedler herfiel, die bei Dutch Henry haltmachten, um ihre Vorräte aufzufrischen: Spekulanten, Trapper, Kinder, Händler, Mormonen und sogar weiße Frauen. Die armen Siedler hatten genug, weswegen sie sich sorgen mussten: Klapperschlangen kamen unter den Bodendielen vor, Hinterlader gingen ohne Grund los, und wenn sie ihren Kamin falsch bauten, erstickten sie nachts. Da brauchten sie nicht auch noch einen Neger, der im Namen Des Großen Erlösers Der Die Krone Trug über sie herfiel. Tatsächlich wurde 1856, da war ich zehn Jahre alt, in der Stadt offen drüber geredet, ob sie meinem Pa nicht das Hirn rausblasen sollten.

Und sie hätten’s auch getan, denk ich, wär in dem Frühjahr nicht ein Besucher gekommen, der es ihnen abnahm.

Dutch Henrys Kneipe lag direkt an der Grenze zu Missouri. Sie diente gleichzeitig als Postamt, Gerichtshaus, Gerüchteküche und Gin-Kaschemme für Missouri-Rebellen, die aus dem Kansas-Territorium kamen, um zu trinken, Karten zu spielen, Lügen zu erzählen, Huren zu besuchen, den Mond wegen der Nigger anzuheulen, die drauf aus waren, die Welt zu übernehmen, und drüber zu lamentieren, dass die Rechte des weißen Mannes von den Yankees im Scheißhaus versenkt wurden, und so weiter. Ich achtete nicht weiter auf das Gerede, mein Ziel war’s in jenen Tagen, Schuhe zu putzen, während mein Pa Haare schnitt, reichlich Fladenbrot zu verdrücken und so viel Ale in meinen kleinen roten Schlund zu trichtern wie nur möglich. Aber als der Frühling kam, gingen bei Dutch Gerüchte über einen gewissen blutrünstigen Weißen namens Old John Brown um, einen Yank aus dem Osten, der ins Kansas-Territorium gekommen war, um mit seinem Gefolge, den Pottawatomie Rifles, Unruhe zu stiften. Wenn man den Leuten glauben wollte, hatten Old John Brown und seine blutrünstigen Söhne vor, jeden Mann, jede Frau und jedes Kind der Prärie in den Tod zu schicken. Old John Brown stahl Pferde. Old John Brown brannte Häuser nieder. Old John Brown tat Frauen Gewalt an und schnitt den Leuten die Köpfe ab. Old John Brown tat dies, Old John Brown tat das, und bei Gott, wenn sie endlich von ihm aufhörten, kam er dir wie der Furcht erregendste, mörderischste, übelste Hurensohn vor, von dem du je gehört hattest, und ich beschloss, sollte ich ihm je über den Weg laufen, o mein Gott, dann würde ich ihn selbst einen Kopf kürzer machen, einfach wegen dem, was er den guten weißen Menschen, die ich kannte, angetan hatte und noch antun würde.

Nicht lange, nachdem ich diesen Beschluss gefasst hatte, kam ein alter, wackliger Ire bei Dutch Henry reingewankt und setzte sich auf Pas Barbierstuhl. Da war nichts Besonderes an ihm dran, in jenen Tagen liefen Hunderte Prärieärsche durchs Kansas-Territorium, die in den Westen mitgenommen werden wollten und oder auf ’n Job als Viehtreiber aus waren. Der Bursche war wirklich nichts Besonderes. Er war bucklig, dünn, kam frisch aus der Prärie, stank nach Büffeldung und hatte so ’n nervöses Zucken im Kiefer. Sein Kinn war voller struppiger Zotteln und sein Gesicht so voller Falten und Furchen zwischen Mund und Augen, dass man gebündelt ’n Kanal draus hätte machen können. Die dünnen Lippen hielt er ständig hochgezogen. Jacke, Weste, Hose und Schleife sahen aus wie von ’ner Mäuseplage heimgesucht, und die Stiefel waren völlig hinüber. Die Zehen ragten allesamt vorne raus. Der Mann machte einen bemitleidenswerten Eindruck, rundum, selbst nach Präriemaßstäben, aber er war weiß, und als er sich zum Haareschneiden und Rasieren auf Pas Stuhl setzte, hängte der ihm den Latz um und machte sich an die Arbeit. Wie üblich kümmerte sich Pa ums obere Ende und ich mich ums untere und putzte dem Kerl die Stiefel, die in dem Fall eben mehr aus Zehen als aus Leder bestanden.

Nach ein paar Minuten ließ der Ire den Blick schweifen, und als er sah, dass niemand zu nah war, fragte er Pa leise: »Sind Sie ein Mann der Bibel?«

Nun, Pa war ein Verrückter, wenn’s um Gott ging, und die Frage munterte ihn gleich auf. »Klar, Boss, das ganz sicher. Ich kenn alle Arten Bibelsprüche.«

Der alte Kauz lächelte. Ich kann nicht sagen, ob’s ein echtes Lächeln war, weil sein Gesicht so was von hart war, dass es gar nicht lächeln konnte. Aber die Lippen zogen sich was breiter. Die Rede vom Herrn gefiel ihm sichtlich, und recht hatte er, saß er doch nur mit dessen Gnade noch an Ort und Stelle, denn er war der Mörder John Brown höchstpersönlich, die Plage des Kansas-Territoriums. In Dutchs Kneipe. Fünfzehnhundert Dollar hatten sie auf seinen Kopf ausgesetzt, und das halbe Kansas-Territorium war...


McBride, James
James McBride – Autor, Musiker, Drehbuchschreiber, Journalist – wurde weltberühmt durch seinen autobiografischen Roman "Die Farbe von Wasser". Das Buch gilt inzwischen als Klassiker in den Vereinigten Staaten, es stand zwei Jahre lang auf der New York Times-Bestsellerliste. Sein Debüt "Das Wunder von St. Anna" wurde vom amerikanischen Kultregisseur Spike Lee verfilmt. Für "Das verrückte Tagebuch des Henry Shackleford" erhielt James McBride den renommierten National Book Award. 2015 wurde er von Barack Obama mit der National Humanities Medal ausgezeichnet.

Löcher-Lawrence, Werner
Werner Löcher-Lawrence, geb. 1956, studierte Journalismus, Literatur und Philosophie, arbeitete als wissenschaftlicher Assistent an der Universität München und als Lektor in verschiedenen Verlagen. Er ist der Übersetzer von u.a. Ethan Canin, Patricia Duncker, Michael Ignatieff, Jane Urquhart.



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