Maupassant | Ein Leben | E-Book | sack.de
E-Book

E-Book, Deutsch, 384 Seiten

Maupassant Ein Leben

Roman
1. Auflage 2018
ISBN: 978-3-8321-8439-1
Verlag: DuMont Buchverlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark

Roman

E-Book, Deutsch, 384 Seiten

ISBN: 978-3-8321-8439-1
Verlag: DuMont Buchverlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark



Ein feudales Landgut an der Küste der Normandie zu Beginn des 19. Jahrhunderts: Frisch aus der Klosterschule entlassen, kann die junge Jeanne es kaum erwarten, die große weite Welt zu entdecken. Sie ist entzückt, als der gut aussehende Julien de Lamare sie zur Frau erwählt. Doch schon die Hochzeitsnacht ist ein Schock für die zu Naivität und Unmündigkeit erzogene Jeanne. Während der Flitterwochen muss sie darüber hinaus feststellen, dass sie einen unerträglichen Geizhals geheiratet hat. Und dies sind nur die ersten in einer langen Reihe von Enttäuschungen …

»Da wurde ihr klar, dass sie nichts mehr zu tun hatte«, heißt es über Jeanne kurz nach ihrer Hochzeit. In seinem 1883 erschienenen Roman bringt Maupassant die damalige eheliche Situation wohlhabender Frauen und die Nichtsnutzigkeit einer ganzen sozialen Klasse auf den Punkt. Die Darstellung weiblicher Psychologie und Sexualität mutet außergewöhnlich modern an und führte seinerzeit dazu, dass der Roman aus Bahnhofsbuchhandlungen verbannt wurde und sogar im Parlament Aufsehen erregte.
Dieser Gesellschaftsroman, den Tolstoi zu den besten französischen Romanen seiner Zeit zählte, erscheint nun erstmals in einer modernen deutschen Übersetzung im Taschenbuch.

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I
Als Jeanne ihre Koffer gepackt hatte, trat sie ans Fenster, aber der Regen nahm kein Ende. Die ganze Nacht hatte die Sturzflut auf Scheiben und Dächer geprasselt. Der tief hängende Himmel schien unter seiner Wasserlast geplatzt zu sein und sich auf die Erde zu ergießen, sie aufzuweichen in Brei, sie aufzulösen wie Zucker. In heftigen Böen strich drückende Hitze vorüber. Das Gurgeln der übergelaufenen Rinnsteine erfüllte die verlassenen Straßen, wo die Häuser wie Schwämme die eindringende Feuchtigkeit aufsaugten, was die Wände vom Keller bis zum Dachboden zum Schwitzen brachte. Jeanne, die am Vorabend das Kloster verlassen hatte, endlich für immer frei und bereit, alles Lebensglück zu ergreifen, von dem sie seit so Langem träumte, befürchtete, ihr Vater werde die Abreise verschieben, wenn sich das Wetter nicht aufhellte; und zum hundertsten Mal seit dem Morgen blickte sie forschend zum Horizont. Dann fiel ihr ein, dass sie vergessen hatte, ihren Kalender in ihre Reisetasche zu legen. Sie nahm die nach Monaten eingeteilte kleine Pappkarte von der Wand, welche inmitten einer Zeichnung in goldenen Ziffern die laufende Jahreszahl 1819 anzeigte. Dann löschte sie mit dem Bleistift die vier ersten Spalten, indem sie bis zum 2. Mai, dem Tag ihres Austritts aus dem Kloster, jeden Heiligennamen durchstrich. Eine Stimme hinter der Tür rief: »Jeannette!« Jeanne erwiderte: »Komm herein, Papa.« Und ihr Vater trat ein. Baron Simon-Jacques Le Perthuis des Vauds war ein Edelmann aus dem vergangenen Jahrhundert, kauzig und gutmütig. Als begeisterter Schüler von J.-J. Rousseau war er voll zärtlicher Liebe für Natur, Felder, Wälder und Tiere. Adelig von Geburt, hasste er Dreiundneunzig instinktiv; doch seinem Wesen nach Philosoph und liberal erzogen, verabscheute er die Tyrannei mit einem sich harmlos ereifernden Hass. Seine große Stärke und seine große Schwäche war die Güte, eine Güte, die nicht genügend Arme hatte zum Liebkosen, Schenken, An-sich-Drücken, die Güte eines schöpferischen Menschen, haltlos, widerstandslos, als sei der Willensnerv betäubt, als habe die Energie eine Lücke, nahezu lasterhaft. Als Theoretiker ersann er für seine Tochter eine Erziehung ganz nach Plan, er wollte sie glücklich, gut, aufrecht und liebevoll machen. Sie war bis zu ihrem zwölften Jahr im Hause geblieben, dann wurde sie, trotz der Tränen ihrer Mutter, ins Sacré-Cœur gebracht. Er hatte sie dort streng hinter Klostermauern abgesondert, unbeachtet und ohne jede Ahnung von menschlichen Belangen. Er wollte sie mit siebzehn Jahren in ihrer ganzen Unschuld zurückerhalten, um sie dann selbst in die rechte Poesie zu tauchen; ja, auf dem Weg über die Felder, auf befruchtetem Boden sollte ihre Seele geöffnet und ihr die Ahnungslosigkeit genommen werden beim Anblick der unverdorbenen Liebe, der schlichten Zärtlichkeiten der Tiere, der heiteren Gesetze des Lebens. Nun kam sie aus dem Kloster, strahlend, voller Lebenskraft und Verlangen nach Glück, bereit zu allen Freuden, allen reizenden Zufällen, die sie sich in der Untätigkeit der Tage, der Länge der Nächte, der Einsamkeit der Hoffnungen bereits ausgemalt hatte. Sie glich einem Porträt von Veronese mit ihrem leuchtend blonden Haar, das auf ihre Haut abgefärbt zu haben schien, eine vornehme Haut, unmerklich rosig getönt, überschattet von einem zarten Flaum, einer Art mattem Samt, den man ein wenig sah, wenn die Sonne sie streichelte. Ihre Augen waren blau, von jenem undurchsichtigen Blau, wie die Augen holländischer Fayencefiguren es haben. Auf dem linken Nasenflügel hatte sie ein kleines Schönheitsmal und ein anderes rechts auf dem Kinn, wo sich ein paar Härchen lockten, die so sehr dem Teint entsprachen, dass man sie kaum wahrnahm. Sie war groß, mit voll entwickelter Brust und biegsamer Taille. Ihre klare Stimme klang bisweilen zu hell; doch ihr offenes Lachen verbreitete rund um sie her Freude. In einer gewohnten Bewegung legte sie oft beide Hände an die Schläfen, wie um ihr Haar zu glätten. Sie lief zu ihrem Vater, küsste ihn und drückte ihn an sich: »Fahren wir nun?«, fragte sie. Er lächelte, schüttelte sein schon weißes Haar, das er ziemlich lang trug, und sagte zum Fenster weisend: »Wie willst du bei solchem Wetter verreisen?« Doch schmeichelnd und zärtlich flehte sie ihn an: »Oh, Papa, fahren wir, ich bitte dich. Nachmittags wird es schön sein.« »Aber deine Mutter wird niemals einwilligen.« »Doch, ich verspreche es dir, das übernehme ich.« »Wenn es dir gelingt, deine Mutter zu überzeugen, von mir aus gern.« Und sie stürzte zum Zimmer der Baronin. Denn auf diesen Tag der Abreise hatte sie mit wachsender Ungeduld gewartet. Seit ihrem Eintritt ins Sacré-Cœur hatte sie Rouen nicht verlassen, da ihr Vater vor dem Alter, das er festgesetzt hatte, keinerlei Zerstreuung erlaubte. Zweimal hatte man sie für vierzehn Tage mit nach Paris genommen, doch das war wiederum eine Stadt, und sie träumte nur vom Land. Jetzt würde sie den Sommer auf dem Landgut namens Les Peuples verbringen, einem auf den Klippen bei Yport stehenden alten Schloss der Familie; und sie versprach sich eine unendliche Freude von diesem freien Leben am Rande der Meeresfluten. Und dann war auch vorgesehen, dass sie es zum Geschenk erhielte, dieses Herrenhaus, wo sie für immer wohnen würde, wenn sie verheiratet wäre. Und der Regen, der seit dem gestrigen Abend unaufhörlich niederrauschte, war der erste große Kummer ihres Lebens. Doch nach drei Minuten kam sie aus dem Zimmer ihrer Mutter gerannt und rief durchs ganze Haus: »Papa, Papa! Mama ist einverstanden; lass anspannen.« Die Sintflut ließ nicht nach; man hätte meinen können, sie verstärke sich noch, als die Kalesche vorfuhr. Jeanne war bereit zum Einsteigen, als ihre Mutter die Treppe herunterkam, auf der einen Seite gestützt von ihrem Mann, auf der anderen von einem Zimmermädchen, das groß und kräftig gebaut war wie ein Junge. Es war eine Normannin aus der Gegend von Caux, die wie mindestens zwanzig wirkte, obwohl sie höchstens achtzehn war. Man behandelte sie in der Familie ein wenig wie eine zweite Tochter, da sie die gleiche Amme gehabt hatte wie Jeanne. Sie hieß Rosalie. Ihre wichtigste Aufgabe bestand im Übrigen darin, ihre Herrin zu führen, welche seit ein paar Jahren infolge einer Hypertrophie des Herzens, über die sie pausenlos klagte, furchtbar dick geworden war. Die Baronin erreichte schwer atmend die Freitreppe der alten Stadtvilla, warf einen Blick in den Hof, wo in Strömen das Wasser rann, und murmelte: »Das ist wirklich unvernünftig.« Ihr Mann erwiderte, immer noch lächelnd: »Der Wunsch kam doch von Ihnen, Madame Adelaide.« Da sie den pompösen Namen Adelaide trug, setzte er mit einer gewissen, leicht spöttischen Hochachtung stets »Madame« davor. Dann kam sie wieder in Bewegung und stieg mühevoll in den Wagen, der in sämtlichen Federn nachgab. Der Baron setzte sich neben sie, Jeanne und Rosalie nahmen auf dem Rücksitz Platz. Die Köchin Ludivine brachte Berge von Mänteln, die man über die Knie legte, danach zwei Körbe, die unter den Beinen versteckt wurden; schließlich kletterte sie auf den Bock neben den alten Simon und wickelte sich in eine große Decke, die sie bis über den Kopf verhüllte. Der Pförtner und seine Frau winkten und schlossen das Tor; sie erhielten letzte Anordnungen für das Gepäck, das in einem Karren folgen sollte; und es ging los. Der alte Simon, der Kutscher, zog unter dem Regen den Kopf ein und kauerte sich zusammen, sodass er in seinem Reitrock mit dreifachem Kragen völlig verschwand. Der Sturm fuhr heulend gegen die Scheiben und setzte die Landstraße unter Wasser. Beim schnellen Trab der beiden Pferde rollte die Berline rasch hinunter auf die Uferstraße, zog vorbei an der Reihe der großen Schiffe, deren Masten, Rahen und Taue traurig wie kahle Bäume in den triefenden Himmel ragten; dann bog sie in den langen Boulevard du Mont Riboudet ein. Bald fuhr man durch die Wiesen; und ab und an tauchte ein regenüberströmter Weidenbaum, dessen Zweige mit der Leblosigkeit eines Leichnams herabhingen, ernst aus einem Wassernebel auf. Die Hufeisen der Pferde klapperten, und die vier Räder verspritzten einen Strahlenkranz von Schlamm. Sie schwiegen; selbst die Gemüter schienen durchnässt, wie der Erdboden. Mamachen lehnte sich zurück, stützte ihren Kopf in die Hand und schloss die Lider. Der Baron blickte müde auf die immer gleichen, durchweichten Felder. Ein Paket auf den Knien, träumte Rosalie mit dem animalischen Dösen der Leute aus dem Volk vor sich hin. Jeanne jedoch spürte, daß sie unter diesem lauen Rauschen auf lebte wie eine Zimmerpflanze, die man gerade an die Luft gesetzt hat; und wie ein Laubdach schützte die Stärke ihrer Freude ihr Herz vor Traurigkeit. Sie sagte nichts, aber am liebsten hätte sie gesungen, ihre Hand hinausgestreckt, um sie voll Wasser laufen zu lassen, das sie trinken würde; und sie genoss es, im schnellen Trab der Pferde davongetragen zu werden, die Öde der Landschaften zu sehen und sich mitten in dieser Überschwemmung geschützt zu fühlen. Und aus den glänzenden Kruppen der beiden Tiere stieg unter dem anhaltend strömenden Regen in heißen Schwaden der Dampf. Die Baronin schlief allmählich ein. Ihr von sechs gleichmäßig herabbaumelnden Lockenspiralen umrahmtes Gesicht erschlaffte nach und nach, weich gehalten von den drei großen Wellen ihres Halses, deren letztes Wogen sich in der Hochsee ihrer Brust verlor. Ihr Kopf hob sich bei jedem Atemzug und sank dann wieder zurück; die Wangen blähten sich, während aus ihren halb geöffneten...


Maupassant, Guy
Guy de Maupassant wurde 1850 in der Normandie geboren. Er gilt neben Stendhal, Balzac, Zola und Flaubert als einer der großen französischen Erzähler des 19. Jahrhunderts. In einem Leben zwischen allen Gesellschaftsschichten seiner Zeit schuf er als weit gereister Journalist, Novellist und Romancier wegweisende Werke der klassischen Moderne. Er starb nach langer Krankheit 1893 in Paris.



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