E-Book, Deutsch, 251 Seiten
Matusiewicz / Henningsen / Ehlers Digitale Medizin
1. Auflage 2020
ISBN: 978-3-95466-583-9
Verlag: MWV Medizinisch Wissenschaftliche Verlagsgesellschaft
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Kompendium für Studium und Praxis. Mit einem Geleitwort von Jörg Debatin und Klaus Dieter Braun
E-Book, Deutsch, 251 Seiten
ISBN: 978-3-95466-583-9
Verlag: MWV Medizinisch Wissenschaftliche Verlagsgesellschaft
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
mit Beiträgen von J. Aulenkamp, K.F. Braun, J. Fehr, C. Forster, J. Harth, S. Heinemann, G. Hohenberg, J. Holm, A. Jorzig, H. Juhl, M. Kaufmann, S. Konigorski, E. von Leitner, V. Lemarié, C. Lippert, J. Lüssem, L. Mosch, D. Pförringer, J. Plugmann, P. Plugmann, A. Posenau, J. Schmidt, R. Schmitz, H. Trübel, R. Werner, L. Wirbelauer, J. Zerth
Zielgruppe
Medizinstudierende und ausgebildete Ärzte/-innen
Studierende von Studiengängen wie Medizinmanagement, Medizininformatik, Public Health und verwandten Disziplinen
Top-Entscheider/-innen aus Politik, Wissenschaft und Praxis geben fundierte Einblicke
Autoren/Hrsg.
Weitere Infos & Material
2Digitalisierung und institutionelle Verortung – wo unterscheiden sich Gesundheitssysteme?
Jürgen Zerth und Cordula Forster
2.1Digitalisierung im Gesundheitswesen: eine Herausforderung für Gesundheitssysteme
Gesundheitssysteme sehen sich zusehends mit der Herausforderung konfrontiert, die Möglichkeit der digitalen Entwicklung zu nutzen und eine Antwort darauf zu geben, wie sich bisherige Strategien institutioneller Gesundheitssysteme dazu stellen (vgl. hier exemplarisch Baas u. Schellinger 2019). Ein Blick auf die typischen Produktionsstrukturen des Gesundheitswesens lässt deutlich werden, dass diese in vielfältiger Hinsicht prädestiniert für den Einsatz digitaler Technologien sind, wie es etwa Mamlin und Tierney (2016) formulieren: Gesundheitsleistungen charakterisieren sich in der Regel als personenorientierte Dienstleistungen, jedenfalls in den Kernbereichen medizinischer und pflegerischer Leistungserstellung. Diese Beziehungen sind von ihrer Natur heraus mit der Erfassung, Auswertung und Interpretation von Informationen konfrontiert. Vor diesem Hintergrund kann im Sinne von Rachinger die Unterscheidung zwischen – analoge Datenströme werden in eine digitale Struktur überführt – und im engeren Sinne – die durch Digitisierung induzierten Veränderungen analoger, arbeitsteiliger Strukturen – für die weitere Betrachtung hilfreich sein (vgl. Rachinger et al. 2019).
Digitalisierung in diesem Sinne adressiert die Verhaltens- und Verhältnisstrukturen in definierten organisatorischen Settings der Gesundheitsversorgung, die gerade durch den primären Dienstleistungscharakter häufig mit Informationsasymmetrien und Qualitätsmängeln der Informationsverarbeitung konfrontiert sind. Die Interpretation von Digitalisierung in Gesundheitssystemen setzt vor diesem Hintergrund die Auseinandersetzung mit den Zielsetzungen von Digitalisierung – welche versorgungsrelevanten Ziele sollen in digitaler Form erreicht werden – als auch die institutionelle Umsetzung voraus (WHO 2016, S. 7).
Vor dem genannten Hintergrund gewinnt ein Blick auf die Umsetzung von Digitalisierung, mit besonderem Fokus auf deutsche Gesundheitssysteme, aber auch im Vergleich zu anderen Gesundheitssystemen, an Bedeutung.
2.2Integrative Gesundheitsversorgung als Anknüpfungspunkt von Digitalisierung
2.2.1Gesundheitsausgaben und Digitalisierungshypothesen
Ein Blick auf die Gesundheitsausgaben in Deutschland, aber auch in anderen Staaten zeichnet zunächst die gleichen grundlegenden Herausforderungen der Gesundheitsversorgung post-industrieller Staaten nach. Mustergültig können die erklären, auch wenn es vielfältige Querverbindungen gibt.
Erklärungsfaktoren sind (vgl. Oberender et al. 2017, S. 131):
1.demografische Veränderungen (Bedeutungszuwachs höherer Alterskohorten),
2.das steigende durchschnittlich verfügbare Einkommen (veränderte Präferenz für Gesundheitsausgaben),
3.die Erweiterung von Regelversorgungsstrukturen (Veränderung sozialpolitischer Gesetzgebung),
4.Produktivitätsentwicklungen in der Gesundheits- und Pflegeversorgung (inter- und intraorganisationale Zusammenarbeit) sowie
5.letztendlich der durch den medizinisch-technischen Fortschritt stetig wachsende Möglichkeitenraum möglicher diagnostischer, therapeutischer und organisatorischer Gestaltungsoptionen.
Gerade die Frage, wie etwa der Einfluss des medizinisch-technischen Fortschritts selbst demografische Entwicklungen mit beeinflusst und vor allem auch, in welcher Weise mit zunehmender Chronizität der Versorgung das Zusammenwirken der medizinisch-pflegerischen Akteure an Bedeutung gewinnt, ist unmittelbar mit dem Digitalisierungsphänomen verbunden.
Such- und Kommunikationsprozesse entörtlichte entzeitlichte
Hier können etwa über telekonsiliarische Leistungen Arzt-Arzt-Beziehungen befördert werden oder durch telemedizinische Ansätze im Sinne kontinuierlicher Monitoringlösungen zur Begleitung chronischer Erkrankungen diagnostisch-therapeutische Lücken geschlossen werden.
Derartige Digitalisierungsstrategien verändern die Zusammenarbeit zwischen den Akteuren einer Gesundheits- oder Pflegebeziehung und verändern nicht ausschließlich, aber in systematischer Weise arbeitsteilige Effekte (vgl. etwa Albrecht et al. 2018, S. 341).
2.2.2Effektivitäts- und Effizienzpotenziale: ein rudimentärer Blick in die Literatur
Ein Blick in die internationale Literatur zur Effektivität und Effizienz von digitalen Lösungen im Gesundheitswesen wirft den Blick auf organisatorische und institutionelle Verhältnis- und Anreizstrukturen. Orientiert an einer Klassifikation von unterschiedlichen Wirkkanälen von Digitalisierung, wiederum verstanden als die Umsetzung von digitalen Technologien in analogen Anreiz- und Interaktionsbeziehungen, lassen sich folgende Differenzierungen in grober Anlehnung an Weiner et al. (2013) sowie Zerth (2018) charakterisieren:
digitale Lösungen, die an Patienten oder Akteuren direkt ansetzen, exemplarisch App-Dienstleistungen für Versicherte und Patienten;
unterstützende Informations- und Dokumentationssysteme für Interaktionsbeziehungen, wie etwa Elektronische Dokumentationssysteme, aber auch eine elektronische Patientenakte (ePA);
Telemedizin im engeren Sinne, wo mithilfe einer Sensorik und u.U. Aktorik sowohl Monitoringaufgaben etwa in den eigenen Vier-Wänden erbracht werden können, aber auch perspektivisch gedacht, robotische Systeme wirksam werden;
als verknüpfendes Element für alle drei Leistungskategorien greifen dann noch Ansätze zur systematischen Datennutzung und -auswertung, im Sinne eines „Big-Data-Ansatzes“.
Exemplarisch lässt sich mit Blick auf Studien in den Vereinigten Staaten (vgl. hier Weiner et al. 2013 oder auch McCullough et al. 2016) festhalten, dass elektronische Gesundheits- und Patientenakten insbesondere mit wachsender Fallschwere von Patienten wirksame Effekte zeigen und diese ein organisatorisches und auch institutionelles Lernen in den jeweiligen Gesundheitseinrichtungen voraussetzen. Auch Scoping-Arbeiten zu den ökonomisch relevanten Wirkungen von digitalen Technologien etwa im Bereich Pflege zeichnen noch eine sehr unzureichende empirische Studienlage zu Effektivitäts- und Effizienzbeziehungen nach (vgl. Krick et al. 2019). Somit werden die Grundbedingungen institutioneller Umsetzung in Gesundheitssystemen und auch ein Vergleich der Digitalisierungsziele zwischen einzelnen Ländern interessant.
2.3Digitalisierung im internationalen Vergleich
2.3.1Digital Health Index und methodische Grundlagen des Vergleichs
Der Blick auf die Umsetzung von Digitalisierung im internationalen Vergleich lenkt etwa auf den von der Bertelsmann-Stiftung herausgebrachten Digital Health Index (DHI), der den Stand der Digitalisierung in 14 ausgewählten EU- und drei weiteren OECD-Ländern in den Bereichen und sowie der vornimmt (vgl. Thiel et al. 2018). Der DHI kann einen Wert zwischen 0 und 100 Punkten annehmen.
Exemplarisch sollen in diesem Aufsatz drei Länder mit Deutschland verglichen werden, nämlich Estland, Dänemark und die Schweiz. Deutschland erreicht nach der Bertelsmann-Analyse aus dem Jahr 2018 den Platz 16 mit 30 Punkten im DHI-Score und liegt sozusagen am Ende der Tabelle. Spitzenreiter war Estland mit 81,9 Punkten und auch im Spitzenbereich lässt sich Dänemark mit einem DHI von 72,5 finden. Die an Deutschland benachbarte Schweiz erreicht in dieser Hitliste 40,6 Punkte (vgl. Thiel et al. 2018).
Beim Blick auf den Vergleich unterschiedlicher Gesundheitssysteme gilt es festzuhalten, dass die grundlegende Sicherungsphilosophie von Gesundheitssystemen als Differenzierungsfaktor herangezogen werden muss, nicht nur um Gesundheitssysteme in allgemeiner Hinsicht zu vergleichen, sondern insbesondere auch um einen Ergebnisvergleich der Digitalisierung vornehmen zu können (vgl. Schölkopf u. Pressel 2017, S. 1ff.):
Systemtyp 1 sind Gesundheitssysteme, die einen eigenständigen Anspruch auf Gesundheitsversorgung an eine eigenstände Versicherungsbeziehung binden. Dieser Leistungsanspruch, die Finanzierung und die Organisation der Leistungserstellung stehen dann komplementär zur staatlichen Daseinsversorgung. Als Gattungsbegriff hat sich in der Literatur die Bezeichnung „Bismarck-System“ etabliert. Das deutsche GKV-System gehört dazu, ebenfalls das Schweizer Gesundheitssystem oder das in den...