E-Book, Deutsch, 352 Seiten
Mathieu Moxie. Zeit, zurückzuschlagen
1. Auflage 2018
ISBN: 978-3-03880-116-0
Verlag: Arctis ein Imprint der Atrium Verlag AG
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Zeit zurückzuschlagen
E-Book, Deutsch, 352 Seiten
ISBN: 978-3-03880-116-0
Verlag: Arctis ein Imprint der Atrium Verlag AG
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Jennifer Mathieu arbeitet als Journalistin und unterrichtet Englisch an einer Highschool, wo ihr die Idee zu Moxie kam. Sie lebt mit ihrem Ehemann und Sohn in Houston, Texas.
Weitere Infos & Material
Kapitel
Eins
Mein Englischlehrer Mr Davies fährt sich über seinen militärisch kurzen Bürstenschnitt. Am Haaransatz glitzern Schweißperlen, und seine aufgeblasenen Wangen sind gerötet. Er sieht aus wie ein betrunkenes Stachelschwein.
Betrunken könnte sogar stimmen. Auch wenn es Dienstagvormittag ist.
»Sprechen wir über die Symbolik in Zeile zwölf des Gedichts«, verkündet er, und ich greife zum Stift, um mir genau aufzuschreiben, was er sagt, als er uns erklärt, was das goldene Licht hinter den blauen Vorhängen in Wirklichkeit zu bedeuten hat. Mr Davies sagt zwar, sollen über die Symbolik sprechen, aber wenn wir später einen Test darüber schreiben, erwartet er von uns, dass wir wortwörtlich das wiedergeben, was uns erzählt hat.
Ich blinzele und versuche, wach zu bleiben. Die Hälfte der Klasse ist mit ihren Handys beschäftigt und grinst verhalten in den eigenen Schoß. Ich kann regelrecht spüren, wie mein Hirn sich zersetzt.
»Vivian, was meinen Sie?«, fragt Mr Davies mich. War ja klar.
»Na ja«, sage ich, sacke in mir zusammen und starre auf die Kopie mit dem Gedicht vor mir auf dem Tisch. »Ähm …« Ich werde rot. Warum muss Mr Davies ausgerechnet mich aufrufen? Warum knöpft er sich nicht einen von den Schoßgrinsern vor? Ich tue wenigstens so, als würde ich aufpassen.
Eine gefühlte Ewigkeit lang sagt keiner von uns etwas. Nervös rutsche ich auf meinem Stuhl herum. Mr Davies sieht mich an. Ich kaue verzagt auf der Unterlippe. Mr Davies sieht mich an. Ich zermartere mir das Hirn nach einer Antwort, aber inzwischen sind alle Blicke auf mich gerichtet, und da kann ich nicht klar denken. Irgendwann gibt Mr Davies auf.
»Lucy?«, ruft er die Neue auf, die sich schon meldet, seit er die Frage gestellt hat. Ausdruckslos sieht er sie an und wartet.
»Na ja«, setzt Lucy an, und man sieht genau, dass sie es kaum erwarten kann, loszulegen. Sie setzt sich sogar aufrechter hin. »Wenn man an das denkt, was das lyrische Ich in Zeile acht sagt, dann frage ich mich, ob das Licht nicht einen, ähm, wie nennt man das … irgendwie einen im Verständnis des lyrischen Ichs anzeigt …«
Ein Husten hinten im Klassenraum unterbricht sie, gefolgt von einem gemurmelten: »Mach mir ein Sandwich.«
Und dann wird überall gekichert und gelacht.
Ich muss mich nicht umdrehen, um zu wissen, dass es Mitchell Wilson ist, der da das Arschloch gibt, angefeuert von seinen Kotzbrocken von Footballkumpels.
Lucy schnappt nach Luft. » hast du da gerade gesagt?«, fragt sie und dreht sich um, die Augen vor Überraschung weit aufgerissen.
Mitchell grinst sie hämisch an, die blauen Augen halb unter seinem kastanienbraunen Haar verborgen. Er könnte sogar ganz niedlich sein, wenn er nie den Mund aufmachen, nicht hier rumlaufen, nicht atmen oder sonst irgendwas tun würde.
»Ich habe gesagt«, setzt Mitchell an und amüsiert sich köstlich, »mach … mir … ein … Sandwich.« Seine Speichellecker lachen, als wäre das die originellste Comedy-Zeile ever, obwohl sie diesen Spruch seit dem Frühjahr alle rauf- und runterleiern.
Lucy wendet sich wieder nach vorn. Von der Brust an aufwärts bekommt sie lauter rote Flecken. »Das ist nicht witzig«, bringt sie leise hervor. Sie lässt ihr langes schwarzes Haar nach vorn gleiten, als wollte sie sich dahinter verstecken.
Mr Davies schüttelt den Kopf und runzelt die Stirn.
»Wenn es hier nicht möglich ist, eine vernünftige Diskussion zu führen, müssen wir das eben anders machen«, sagt er zu uns. »Holen Sie alle Ihre Grammatikbücher heraus und fangen Sie mit den Übungen auf Seite 25 und 26 an. Sie haben Zeit bis morgen.« Ich könnte schwören, dass er diese Seiten vollkommen willkürlich ausgesucht hat. Wer weiß, ob wir den Stoff dazu überhaupt schon hatten.
Während meine Klassenkameraden kollektiv stöhnen und ich in meinem Rucksack nach dem Buch suche, fasst Lucy wieder ein bisschen Mut und meldet sich zu Wort: »Mr Davies, das ist nicht gerecht. Wir eine vernünftige Diskussion. Aber die da« – sie nickt nach hinten – »sind doch die, die sie ruiniert haben. Ich verstehe nicht, warum Sie uns alle dafür bestrafen.«
Innerlich krümme ich mich. Lucy ist neu auf der East Rockport High. Sie weiß noch nicht, was jetzt kommt.
»Lucy, habe ich nicht gerade gesagt, dass alle mit den Übungen auf Seite 25 und 26 des Grammatikbuchs anfangen sollen?«, stößt Mr Davies hervor, und Lucy runterzuputzen, scheint ihm wesentlich mehr Spaß zu machen als die Erörterung des goldenen Lichts hinter den blauen Vorhängen.
»Doch, aber …«, setzt Lucy an.
»Nein, Schluss jetzt«, unterbricht Mr Davies sie. »Schluss damit. Sie dürfen zusätzlich auch die Übungen auf Seite 27 bearbeiten.«
Mitchell und seine Freunde lachen sich schlapp, während Lucy wie betäubt dasitzt und Mr Davies mit großen Augen anstarrt. Als hätte in ihrem ganzen Leben noch kein Lehrer so mit ihr geredet.
Ein paar Augenblicke später wird es Mitchell und seinen Freunden zu langweilig, und sie kriegen sich wieder ein. Nach und nach machen sich alle resigniert an die Aufgaben. Meine Stirn ist auf das Wort gerichtet, aber mein Blick wandert verstohlen zu Lucy. Sie starrt ihr ungeöffnetes Grammatikbuch an, als hätte jemand sie damit geohrfeigt und sie hätte sich noch nicht davon erholt. Ich zucke innerlich zusammen. Es ist nicht zu übersehen, dass sie sich bemüht, nicht zu weinen.
Als es endlich klingelt, schnappe ich mir meine Sachen und verlasse den Klassenraum so schnell wie möglich. Lucy sitzt noch an ihrem Platz und packt mit gesenktem Kopf ihre Sachen in ihren Rucksack.
Auf dem Flur sehe ich Claudia auf mich zukommen.
»Hey«, sage ich und setze den Rucksack auf.
»Hey«, antwortet sie und grinst mich genauso an wie damals, als wir in der Vorschule beste Freundinnen wurden, vereint durch unsere gemeinsamen Vorlieben für Sticker und Schokoladeneis. »Was geht ab?«
Ich vergewissere mich unauffällig, dass weder Mitchell noch seine Freunde in Hörweite sind. »Wir haben gerade krass viele Grammatikhausaufgaben bekommen. Mitchell hat dieses neue Mädchen, Lucy Hernandez, gemobbt, und anstatt ihn sich vorzuknöpfen, hat Mr Davies der ganzen Klasse zusätzliche Hausaufgaben aufgedrückt.«
»Lass mich raten«, sagt Claudia, während wir über den Flur gehen. »Mach mir ein Sandwich?«
»O mein Gott, wie bist du darauf nur gekommen?«, frage ich gespielt überrascht.
»Ach, nur so.« Claudia verdreht die Augen. Sie geht mir nur bis zur Schulter, und ich muss mich zu ihr hinabbeugen, um sie hören zu können. Ich bin eins achtundsiebzig und im vorletzten Highschooljahr, aber ich fürchte, ich wachse immer noch. Claudia dagegen ist schon seit der Sechsten so ein Winzling.
»Das ist so ein Bullshit«, murmele ich, als wir an meinem Spind stehen bleiben. »Und dabei ist es nicht mal originell. Ich meine, Alter, man könnte sich doch wenigstens mal was ausdenken, was nicht schon seit der Middle School durchs Internet schwirrt.«
»Allerdings«, stimmt Claudia mir zu und wartet, während ich in den höhlenartigen Tiefen meines unaufgeräumten Spinds nach meinem Lunchpaket suche. »Aber hey. Was kann man von dem schon erwarten.« Ich sehe Claudia an, und sie zuckt die Schultern. Auf der Middle School war Mitchell nur ein Junge unter vielen, und sein Dad war bloß ein langweiliger Geschichtslehrer, der die Unterrichtszeit gern damit totschlug, uns auf YouTube Videos von berüchtigten Footballverletzungen zu zeigen, am liebsten solche, bei denen die Knochen aus der Haut ragten. Damals war Mitchell eher wie ein Mückenstich. Nervig, aber leicht zu vergessen, wenn man ihn einfach ignorierte.
Fünf Jahre später ist Mr Wilson in der undurchschaubaren Schulhierarchie der Stadt East Rockport unverhofft aufgestiegen und hat es zum Direktor der Highschool gebracht, während Mitchell fünfzehn Kilo zugelegt und East Rockport entdeckt hat, dass er eine perfekte Spirale werfen kann. Also ist es total okay, wenn Mitchell Wilson und seine Freunde im Unterricht Mädchen ins Wort fallen und ihnen sagen, sie sollen ihnen ein Sandwich machen.
In der Cafeteria schlängeln Claudia und ich uns zwischen den Tischen hindurch und setzen uns zu den Mädchen, mit denen wir immer zusammen essen: Kaitlyn Price, Sara Gomez und Meg McCrone. Wie wir zwei sind sie nette, ziemlich normale Mädchen, und wir kennen uns schon ewig. Sie sind Mädchen, die noch nie woanders gelebt haben als in dem 6000-Einwohner-Nest East Rockport in Texas. Mädchen, die versuchen, nicht aufzufallen. Mädchen, die heimlich für Jungen schwärmen, die sie nie ansprechen werden. Mädchen, die im Unterricht still sind, ganz anständige Noten bekommen und hoffen, dass nicht ausgerechnet sie aufgerufen werden, um die Symbolik in Zeile zwölf eines Gedichts zu erklären.
Nette Mädchen halt.
Wir sitzen da, hecheln die letzten Unterrichtsstunden und den neuesten Tratsch durch, und während ich von meinem Apfel abbeiße, sehe ich Lucy Hernandez an einem Tisch mit ein paar anderen Einzelgängerinnen sitzen, die sich regelmäßig zusammentun, um nicht so einsam zu wirken. Ihr Tisch ist umgeben von dem Tisch der Sportskanonen, dem Tisch der Beliebten, dem Tisch der Kiffer und dem Tisch mit den anderen Leuten, die in keine Schublade passen. Lucys Tisch ist der deprimierendste. Sie redet mit niemandem, sondern rammt bloß eine Plastikgabel in eine abgestoßene Tupperdose mit einem unendlich traurig wirkenden...