Matar | Geschichte eines Verschwindens | E-Book | sack.de
E-Book

E-Book, Deutsch, Band 74599, 192 Seiten

Reihe: btb

Matar Geschichte eines Verschwindens

Roman
1. Auflage 2023
ISBN: 978-3-641-31233-6
Verlag: btb
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark

Roman

E-Book, Deutsch, Band 74599, 192 Seiten

Reihe: btb

ISBN: 978-3-641-31233-6
Verlag: btb
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark



Ein herausragender Roman über die Folgen von Willkür und Gewalt - mit autobiographischem Hintergrund.
Schlimmer als der Tod ist das spurlose Verschwinden eines geliebten Menschen. Hisham Matar, dessen Vater vor zwei Jahrzehnten von libyschen Sicherheitskräften entführt wurde, erzählt in seinem neuen Roman von der Verschleppung eines arabischen Dissidenten - und wie diese Entführung das Leben derjenigen, die zurückbleiben, für immer überschattet und verändert. '?Ich glaube nicht, dass mein Vater tot ist, aber ich glaube auch nicht, dass er noch lebt.? Diesen Satz aus dem Roman hat auch Hisham Matar selbst über sein Leben und seine Vater-Hoffnung einmal gesagt. Von dieser Unmöglichkeit handelt dieses großartige Buch .' (Volker Weidermann, FAS)

Hisham Matar, Sohn libyscher Eltern, wurde 1970 in New York City geboren, wuchs in Tripolis und, nach der Emigration der Familie, in Kairo auf. Seit 1986 lebt Hisham Matar in England. Er hat zwei international vielbeachtete Romane verfasst, 'Im Land der Männer' und 'Geschichte eines Verschwindens', die mit zahlreichen Literaturpreisen ausgezeichnet wurden. Für seine Memoiren 'Die Rückkehr. Auf der Suche nach meinem verlorenen Vater' erhielt Hisham Matar u.a. den Geschwister-Scholl-Preis, den PEN/Jean Stein Book Award, den Folio Prize und den Pulitzerpreis. Zuletzt erschien bei Luchterhand 'Ein Monat in Siena'.
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Kapitel drei


Es stimmt, mir fiel Mona zuerst auf.

Sie saß auf den Keramikfliesen, die den rechteckigen Swimmingpool des Magda Marina einfassten, und betrachtete ihre Fußsohle. Die Fliesen trugen ein Muster, das die maschinelle Kopie eines Wandmosaiks der Alhambra war, wie ich Jahre später bei einer Reise nach Granada feststellte. Versonnen fuhr ich mit den Fingerspitzen darüber und gedachte jenes fernen Sommers 1971 in Agami, als ich zwölf gewesen war. Monas Haar war zu einem praktischen Pferdeschwanz gebunden, und sie trug einen unerhört hellgelben Badeanzug, der ihre Haut dunkler und sie selbst jünger erscheinen ließ. Einen Augenblick lang hielt ich sie für ein junges Mädchen. Einen Augenblick lang erinnerte mich der gelbe Stoffstreifen auf ihrem Rücken an das gelbe Krankenhausarmband, das meine Mutter ums Handgelenk getragen hatte. Schwachblau schimmernd spiegelte sich das Licht im Wasser und legte sich auf Monas Körper.

»Dieses Stück Haut ist arabisch, das dort von deiner englischen Mutter«, würde ich sie später necken.

Sie zog ihren Fuß an sich heran, beugte den Kopf vor, und ich sah, wie sich der Grat ihrer Wirbelsäule gegen den gelben Stoff drückte. Denke ich heute daran zurück, bin ich neidisch auf das Selbstvertrauen, mit dem ich mich ihr näherte. Als überquerte ich eine Straße, um einer auf dem Rücken liegenden Schildkröte zu helfen. Diese natürliche Selbstsicherheit hat mich längst verlassen. Während es Vater über die Jahre gelang, den Mantel seiner Befangenheit abzustreifen, wurde meiner umso schwerer.

Ich setzte mich im Schneidersitz vor sie hin und nahm, ohne um Erlaubnis zu fragen, ihren schmerzenden Fuß auf meinen Schoß. Nacheinander inspizierte ich jeden einzelnen Zeh. Sie wehrte sich nicht. Und dann fand ich ihn, in der weichen Unterseite eines der Zehen: den braunen Fleck eines Dorns, der sich im rosa Fleisch verlor.

»Letzte Woche«, erklärte ich ihr und drehte den Fuß etwas, um besser heranzukommen, »ist mir das Gleiche passiert. Das Ding hat mich den ganzen Tag über verrückt gemacht, bis ich es nicht mehr ausgehalten habe, und bevor ich ins Bett bin, habe ich ihn rausgeholt.«

Ich bekam den Dorn mit zwei Fingernägeln zu fassen. Sie zuckte zusammen, aber ich ließ ihren Fuß nicht los.

»Er war genau wie der hier«, sagte ich und hielt ihr den Dorn auf der Spitze meines Zeigefingers hin. Unsere Köpfe waren sich jetzt so nahe, dass ich eine Strähne ihres Haars auf der Stirn spürte.

»Danke«, sagte sie in etwas kantigem Arabisch.

Ich konnte sehen, dass sich ihre Schultern gelockert hatten.

»Wie heißt du?«

Es war ein englischer Akzent. Da war ich sicher.

Sie strich mir mit der Hand über die Wange, umfasste mein Kinn und sah mich an. Sie hatte unbeständige Augen, die gleichzeitig braun, grün und silbern schimmerten.

»Nuri«, antwortete ich und wich zurück. »Nuri el-Alfi.«

»Es freut mich, dich kennenzulernen, Nuri el-Alfi«, sagte sie und lächelte auf eine Art, die ich nicht verstand.

Ich ging zurück zu meinem Vater, der sich sonnte. Jetzt hatte er sich auf die Ellbogen gestützt, hielt mir die breite Brust entgegen.

»Wer ist das?«, wollte er wissen und sah zu Mona hinüber.

Ich überlegte, ob ich zurücklaufen und sie nach ihrem Namen fragen sollte, aber sie stand gerade auf, fuhr sich links und rechts mit zwei Fingern unter den Rand des Badeanzugs und zog sich den Stoff über den Po. Ganz schwach war das Muster der Keramikfliesen an einem ihrer Schenkel zu erkennen. Sie wandte sich uns zu, und ich fragte mich, ob sie mich oder Vater ansah oder vielleicht uns beide. Dann ging sie und setzte sich an einen Tisch, auf dem ein Glas Limonade stand. Vater legte sich wieder zurück, die Ellbogen vom Druck gerötet, und schloss die Augen. Die Lippen unter seinem perfekt gestutzten Schnauzbart verzogen sich zu einem eindeutigen Lächeln, wissend, ironisch, als genösse er die eigene Intelligenz, nachdem er ein Rätsel in der Hälfte der dafür zur Verfügung stehenden Zeit gelöst hatte. Sie blickte erneut zu uns herüber, steckte sich eine Zigarette an und tat so, als sähe sie anderswohin. Schließlich schloss sie die Augen vor der Sonne. Ich beobachtete sie ohne alle Zurückhaltung. Ich wollte sie tragen, wie man ein Kleidungsstück trug, mich hinter ihre Rippen schieben, ein Stein in ihrem Mund sein. Ich tat so, als spazierte ich rund um den Pool. Aus allen Winkeln wollte ich sie betrachten. Unversehens öffnete sie die Augen und sah mich an, ohne überrascht zu sein, unbeweglich. Sie trat an den Rand des Pools, steckte einen Fuß ins Wasser, dann den anderen und trippelte davon. Ich sah die nassen Fußspuren wegtrocknen. Das Glas Limonade stand immer noch da, geduldig und voll. Einer der schwitzenden Kellner mit schwarzer Fliege und Weste kam und holte es. Ich bedauerte, nicht schneller gewesen zu sein. Wie wundervoll wäre es gewesen, etwas zu trinken, das für sie gedacht war.

Als ich zurückkam, lag Vater auf dem Bauch, die hölzernen Latten des Liegestuhls hatten ein rotes Streifenmuster auf seinen Rücken gezeichnet.

Den Rest des Morgens tauchte sie nicht wieder auf, und als wir uns zum Mittagessen an unseren Tisch setzten, sah ich, dass auch Vater den Speisesaal absuchte. Immer wenn jemand hereinkam, blickte ich von meinem Teller auf, und Vater musterte mich, als wäre mein Gesicht ein Spiegel. Einmal wandte er den Kopf, um zu sehen, wer hereingekommen war, und ich hatte das Gefühl, ihn in die Irre geführt zu haben.

Nach dem Essen zogen sich die meisten Gäste in ihre Zimmer zurück, um der Sonne zu entgehen. Ein paar Europäer blieben draußen beim Pool liegen, ihre Haut hatte die Farbe von Orangenschalen. Hin und wieder fuhr eine Brise in die Seiten der Bücher und Zeitschriften auf dem Boden neben ihnen, aber ihre Körper lagen glänzend und reglos in der weißen Hitze.

Ich ging mit meinem Ball auf den gepflegten Rasen, der die Zimmer einfasste. Jede Einheit sah aus wie eine Schachtel und hatte eine gläserne Fassade aus verspiegelten Schiebetüren, damit niemand hineinsehen konnte. Die Klimaanlagen bliesen zischend heiße Luft nach draußen. Ich hatte das Gefühl, von den Gästen drinnen beobachtet zu werden, obwohl sie wahrscheinlich wie Vater hinter zugezogenen Vorhängen dösend auf ihren Betten lagen. Meist hielt er dabei seine knisternde Zeitung in der Hand, die Füße übereinandergeschlagen, den Kopf leicht zum Lampenschirm geneigt.

Die Tür eines der Zimmer stand etwa zwei Fingerbreit offen. Ich konnte laufendes Wasser hören, ein englisches Lied und dazu die Stimme einer Frau. Ich schob die Tür weit genug auf, um hineingehen zu können, wartete aber, bis sich meine Augen an das Schattenlicht gewöhnt hatten. Das Zimmer war genau wie unseres, mit der gleichen Bettwäsche, der gleichen Tapete und den gleichen Möbeln, allerdings gab es nur ein einziges Bett, das dafür so groß wie unsere beiden zusammen war. Die Badezimmertür war einen Spalt geöffnet, und an der Klinke hing der gelbe Badeanzug. Mir wurde bewusst, dass ich nach ihr gesucht hatte und darauf hoffte, sie ungestört vom Blick meines Vaters zu treffen. Ich verspürte eine fiebrige Erregung, in ihrem Zimmer zu sein, im privaten Reich dieser geheimnisvollen Frau, die allein zu reisen schien. Wer war sie? Wie kam es, dass sie unsere Sprache sprach? Nur sehr wenige Nicht-Araber sprachen Arabisch, und tatsächlich einen zu treffen war so aufregend, als entdeckte man einen Freund im Zuschauerraum eines riesigen Theaters, kurz bevor die Lichter ausgingen. Dazu kam die Art, wie sie sich bewegte und quer über den Pool zu mir herübergesehen hatte, ihre selbstsichere Gelassenheit, die darauf hindeutete, dass sie nicht einfach nur Urlaub machte und sich ausruhen wollte. Sie verfügte über die Anziehungskraft all derer, die wie mein Vater ihr Leben im Geheimen zu leben schienen.

Ich setzte mich an das Fußende des Bettes und legte den Ball neben mich. Vor dem Sessel stand ein Paar Schuhe. Einer davon lag auf der Seite, so dass man die cremefarbene, von ihrem Fuß geprägte lederne Innensohle sah. Auf dem Chiffonnier stand eine Parfümflasche neben einer Perlenkette und einer Haarbürste. Eine Hand auf der Türklinke und dem nassen Badeanzug, linste ich durch die schmale Öffnung. Ich sah ihren nackten, vom Duschvorhang vernebelten Körper, das Dreieck schwarzen Haars verschwommen und in Bewegung wie der dunkle Fleck, der einem vor Augen erscheint, wenn man direkt in die Sonne gesehen hat. Ich machte kein Geräusch und war sicher, dass sie mich nicht sehen konnte, dennoch sagte sie plötzlich: »Wer ist da?« Ohne darauf zu achten, wie viel Lärm ich machte, lief ich davon, lief aus ihrem Zimmer, so schnell ich konnte, und dachte erst an den Ball, als es zu spät war, noch einmal zurückzukehren und ihn zu holen.

Sobald Vater seinen Mittagsschlaf beendet hatte, erzählte ich ihm von meinem Ball.

»Er ist in eines der Zimmer gerollt, und ich fand es nicht richtig, hineinzugehen und ihn zu holen.«

»Und?«, sagte er, während er sich rasierte. Er rasierte sich immer abends, vor dem Essen, und nicht morgens wie die meisten Männer.

»Ich will nicht, dass irgendwer denkt, ich spioniere herum oder so was.«

»Aber ich weiß doch, dass du ein kleiner Spion bist«, sagte er und lächelte mich im Spiegel an.

Er legte die Klinge an den Hals und rasierte sich mit einer leichten Bewegung einen Streifen Schaum weg.

Abends sah ich sie in einem schwarzen Kleid an unserem Tisch im Speisesaal stehen und mit Vater sprechen. Eine Hand lag auf der Rückenlehne des Stuhls, der ihm gegenüberstand, meines Stuhls, und sie...


Matar, Hisham
Hisham Matar, Sohn libyscher Eltern, wurde 1970 in New York City geboren, wuchs in Tripolis und, nach der Emigration der Familie, in Kairo auf. Seit 1986 lebt Hisham Matar in England. Er hat zwei international vielbeachtete Romane verfasst, »Im Land der Männer« und »Geschichte eines Verschwindens«, die mit zahlreichen Literaturpreisen ausgezeichnet wurden. Für seine Memoiren »Die Rückkehr. Auf der Suche nach meinem verlorenen Vater« erhielt Hisham Matar u.a. den Geschwister-Scholl-Preis, den PEN/Jean Stein Book Award, den Folio Prize und den Pulitzerpreis. Zuletzt erschien bei Luchterhand »Ein Monat in Siena«.

Löcher-Lawrence, Werner
Werner Löcher-Lawrence, geb. 1956, studierte Journalismus, Literatur und Philosophie, arbeitete als wissenschaftlicher Assistent an der Universität München und als Lektor in verschiedenen Verlagen. Er ist der Übersetzer von u.a. Ethan Canin, Patricia Duncker, Michael Ignatieff, Jane Urquhart.



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