E-Book, Deutsch, 266 Seiten
Massimo Der Klang der Sirenen
1. Auflage 2023
ISBN: 978-3-7549-9349-1
Verlag: neobooks
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
E-Book, Deutsch, 266 Seiten
ISBN: 978-3-7549-9349-1
Verlag: neobooks
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
In der Mitte ihres Lebens ist Helen plötzlich alleine. Ihr Mann hat sie verlassen, ihr Sohn lebt auf einem anderen Kontinent und befindet sich auf einer Everest Expedition. Als eines Morgens ihre Katze erschossen wird und kurz darauf ihre Mutter stirbt, befindet Helen sich endgültig im Niemandsland zwischen dem Ende ihres alten Lebens und einem unbekannten Anfang. Die Menschen, die ihr auf ihrer Reise in eine fremde, unvertraute Freiheit begegnen, werden von ihren eigenen Wünschen und Sehnsüchten angezogen, wie vom Klang der Sirenen.
Stephan Massimo ist Komponist und Songwriter. Der Klang der Sirenen ist sein erster Roman.
Autoren/Hrsg.
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PEDRO
Pedro Gonzales erhebt sich von der Gymnastikmatte, auf der er seit geraumer Zeit versucht, sich auf seine Übungen zu konzentrieren. Jenseits der Fenster seines Apartments blutet die Sonne aus. Jedem Morgenrot folgt ein schlechter Tag, sagt man da, wo er herkommt. Wenn der Lärm auch nur noch eine einzige Minute anhält, befürchtet Pedro sich darin zu verirren wie in einem Spiegelkabinett. Um fünf Uhr morgens hat ihn der tropfende Wasserhahn in der Küche geweckt. Inzwischen hat sich der Krach vermehrt wie Karnickel. Seit einer Stunde hämmern stampfende Bässe und die orgiastischen Wogen eines nicht enden wollenden Beischlafs aus der angrenzenden Wohnung gegen die Wände seines Wohnzimmers. Im Reihenhaus schräg gegenüber will das Schreien eines Babys nicht aufhören und hat sich mit den Klagelauten einer Katze vermischt, die durch den Garten der angrenzenden Villa streunt. Pedro rammt einen Besenstiel gegen die Wand. »Hört endlich auf! Wie viele seid ihr da drüben eigentlich?« schreit er und hämmert wieder und wieder gegen das Mauerwerk, aber wie seine Ohren, so gehorcht auch seine Wut dem Rhythmus der obszönen Schreie, die wie ein kreischender Zug einem Prellbock entgegenrasen, einem Abgrund. Sie entspringen der Kehle von Ella Grushin, bei der Pedro sich mehr als einmal beschwert hat. Auch sie ist in dieses Land gekommen, um ihr Glück zu machen, aber während er noch immer danach sucht, hat sie es längst mit all den Soldaten annektiert, die sie im Schützengraben zwischen ihren Schenkeln kämpfen und schießen lässt. Aus ihr brüllt der Tumor der Lust, der sich nach Vollständigkeit sehnt, nach einem eigenen Leben. Ella Grushin ist einer der Dämonen, die Pedro verfolgen, die seinen müden Penis belächeln, der sich nicht mehr an seinem Leben beteiligt, seit der Lärm der Welt ihn zur Geisel genommen hat. Das jämmerliche Arsenal seiner Gegenwehr besteht aus seinen geballten Fäusten, die gegen die Wand schlagen. Er prügelt darauf ein, bis der unbekannte Soldat jenseits der Wand Ella Grushin endlich zum Sieg verhilft. Pedro sinkt an der Wand herab, leckt sich die aufgeplatzten, blutigen Hände, schließt die Augen und kehrt zurück an die moosbewachsenen Felsen unterhalb des Wasserfalls von Sào Pedro da Cadeira. Als Kind lag er dort oft unter dem blauen Himmel der Algarve, versunken in die Musik des Wassers, die sogar den Lärm des Presslufthammers tilgen würde, der ihm seit zwei Jahren zusetzt. Er nimmt einen Schluck Wasser, fährt sich durch die Haare, die schon grau werden, obwohl er vor zwei Wochen gerade einmal dreißig geworden ist. Manchmal zittern seine Hände abends noch lange im Rhythmus des Presslufthammers weiter und es fällt ihm schwer, ein Glas oder das Besteck festzuhalten. Seit vier Monaten ist er clean, trinkt keinen Kaffee mehr, keinen Alkohol. Sogar Simone, die seinen Fernseher mehr zu lieben schien als ihn, hat er zusammen mit dem Apparat aus seinem Leben verbannt. Er atmet ein wie die Yoga-Lehrerin es ihm beigebracht hat, kommt mit jedem Atemzug mehr zur Ruhe, aber dann jagt plötzlich ein Hubschrauber über das Haus und macht alle Bemühungen zunichte. Sofort vermehrt sich der Lärm wieder, addiert sich zu einer bösen Abrechnung mit seinen Nerven. Der Besen kippt von der Wand, touchiert die grüne Vase mit den verwelkten Amaryllen, aus der sich Blumenwasser über das helle Laminat ergießt. Das Baby beginnt wieder zu schreien und die Katze antwortet völlig sinnlos darauf. Als hätten sich alle gegen Pedro verschworen, rammt auch der unbekannte Soldat sein Bajonett nochmals in Ella Grushin. Sofort feuert sie ihn wieder an, ihre nimmersatte Fotze zu beackern, stachelt damit auch Pedro an, die Dämonen nicht einfach nur zu bekämpfen, sondern sie ein für alle Mal zu besiegen. Das Gewehr seines Vaters steht noch immer im Dielenschrank. Simone hatte ihn mehrmals gebeten, es aus dem Haus zu schaffen. Sie glaubt, dass jede Waffe eines Tages benützt wird. Mit zittriger Hand drückt Pedro die Patronen in den Lauf. Er atmet vier, fünf Mal ins Zwerchfell, tritt dann ans Fenster, spürt den Widerstand des Abzugs an seinem Zeigefinger. Durch das Zielfernrohr wirkt das Gesicht des Babys so nah, als könne er es berühren. Eine junge Frau betritt das Zimmer, nimmt das Baby auf den Arm, wiegt es sanft, küsst es. Wenn er jetzt den Zeigefinger bewegte, wäre es nicht mehr, als würde er einen Schalter betätigen und das Licht löschen. Aber zu seinem Erstaunen folgt der Berührung des Kindes wundersame Stille. Babys, die in den ersten Stunden und Tagen nach ihrer Geburt nicht berührt werden, sterben, hat seine Großmutter ihm einmal erzählt. Pedro denkt an die ausladenden Brüste und die warmen Schenkel von Simone, die er seit einem halben Jahr mehr vermisst als Simone. Einen Augenblick wünscht er, sie hätte ihren Körper zurückgelassen, dann könnte er sich damit zudecken, ihre Brüste nachts als Schalldämpfer benützen. Das Baby lächelt, zumindest hat es den Anschein. Pedro stellt sich vor, wie es zwischen der jungen Mutter und ihm liegt, wie er es mit seinen schwieligen Händen so sanft wie möglich streichelt. Die Frau öffnet ihr Nachthemd, hebt eine ihrer Brüste an, nach denen Pedro sich nicht weniger sehnt, als das Baby. Sie beginnt zu singen, wiegt ihr Kind in ihren Armen, stillt es. Pedro kann ihren Gesang nicht hören, glaubt jedoch, ihn wie eine Vibration zu spüren, die sich von ihrem warmen Körper ausbreitet und sie alle drei miteinander vereint. Wenn er einen Wunsch frei hätte, dann jenen, diesen Moment zur Ewigkeit zu verpflichten. Aber als wolle das Schicksal beweisen wie unwichtig Pedro Gonzales ist, betritt ein Mann das Zimmer. Er nimmt das Baby an sich und sofort beginnt es wieder zu schreien. Die elende Katze stimmt ein und zusammen mit Ella Grushin entfachen sie einen schuldhaften Lärm, für den jetzt jemand bezahlen muss. Nur mit Mühe kann Pedro das Gewehr und seine Gedanken ruhig halten. Den Mann zu erschießen, scheint ihm gerecht. Die Frau, das Baby und dann sich selbst zu töten hingegen wie eine Verheißung. Aber zuerst wird er Ella Grushin und ihren Soldaten zum Schweigen bringen, dann den Mann. Danach wird alles gut sein. Es wird nur noch Stille geben, die Frau, das Baby und ihn. Pedro setzt einen langen Schritt über den Abgrund. Einen Augenblick lang wird ihm schwindlig, aber dann ertastet seine linke Hand das Geländer des Balkons vor dem Schlafzimmer von Ella Grushin. Im Garten der Villa, die sich mit hohen Hecken von den Mietshäusern absondert, als markierten sie die Grenze zu einem besseren Land, maunzt die elende Katze. Eine rostbefallene Kinderschaukel quietscht im stärker werdenden Wind einen monotonen Abgesang auf eine verwelkte Kindheit. Das Laub vom letzten Herbst bedeckt den Grund des wasserlosen Swimmingpools. Pedro hat die Besitzerin des Hauses noch nie darin schwimmen sehen. Ausgerechnet jetzt, da er zwischen Himmel und Erde schwebt, erinnert er sich wieder an ihren Namen, an den Augenblick, als er an ihre Tür klingelte, um sich über den Lärm ihres Laubbläsers zu beschweren. Ihr Name klingt, als sei er von einer Schauspieleragentur erfunden worden. Helen Demeraux. Sie öffnete die Haustüre. Ihr melancholischer Blick nahm ihm den Wind aus den Segeln. Er hatte Überheblichkeit erwartet, aber anstatt wütend zu sein, verspürte er das Bedürfnis, diese Frau zu umarmen und sie zu trösten. Die Türschwelle wirkte wie eine Grenze, die den Sommer vom Herbst trennte und Helen Demeraux vor dem ihr bevorstehenden Alter. Bevor Korallenriffe absterben, flammen sie in wunderschönen, fluoreszierenden Farben ein letztes Mal auf. Pedro sah sie nur an, erinnerte sich an den Grund seines Kommens, fand jedoch keine passenden Worte, flehte stattdessen mit den Augen um Gnade wie ein verwundetes Tier. Bitte keinen Lärm mehr. Der Lärm wird mich töten. Sie bat ihn zu warten, schloss die Tür, erschien kurz darauf wieder, drückte ihm zwanzig Euro in die Hand, verwechselte ihn vielleicht mit einem Bettler. Am Ende erfüllte sie doch noch seine Erwartung einer Frau, die in einer Welt lebt, zu der er niemals Zutritt haben wird. Pedro versucht sein rechtes Bein auf das Geländer des Balkons von Ella Grushin zu stellen, aber seine Füße sind drei Schuhgrößen zu kurz, um sicheren Halt zu finden. Unten drohen ihm Pflastersteine und Fahrradständer. Im Garten von Helen Demeraux landet eine Amsel im knöchelhohen Gras und sofort schlägt die Katze nach dem Vogel. Hau bloß ab – denkt Pedro, aber da beißt die Katze der Amsel schon ins Genick. Es blitzt, ein Donner zerreißt die Luft, ein Schuss löst sich aus dem Gewehr seines Vaters. Pedros Hand gleitet vom nassen Geländer. Er fällt und die Menschen, bei denen er sich über den Lärm der Welt beschwert hat, werden sagen – das hat er jetzt davon. Plötzlich ist es ganz still. Nur der Wasserfall von Sào...