E-Book, Deutsch, 172 Seiten
Maset / Schmidt Norwegen für Zeitreisende
2. Auflage 2025
ISBN: 978-3-7693-8499-4
Verlag: BoD - Books on Demand
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
E-Book, Deutsch, 172 Seiten
ISBN: 978-3-7693-8499-4
Verlag: BoD - Books on Demand
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Reisende finden in Norwegen grandiose Landschaften, Stabkirchen, Polarlichter und in die Zukunft weisende Städte vor und zugleich eine Welt mit großartiger Literatur, bildender Kunst und Musik. Die Beschäftigung mit der Kultur eines Landes beinhaltet stets Momente einer Zeitreise - sei es in die Gegenwart, in die Vergangenheit, in die Zukunft oder in vibrierende Zwischenzeiten. Von den Anfängen des Norwegen-Tourismus im 19. Jahrhundert bis zu zeitgenössischen Bauten im Oslo der Gegenwart, von poetischer Literatur zu den Polarlichtern bis zum Symbol der Königsbirke in Molde wird in unserem Buch ein Panorama entworfen. Geschichtliches wie Zeitgenössisches wird herausgestellt, doch auch das scheinbar Beiläufige - z.B. das Beerensammeln oder das Entkorken von Weinflaschen in Restaurants - kommt zur Geltung. Für die lesenden Zeitreisenden entsteht hierbei ein persönliches und vielschichtiges Porträt des faszinierenden nordischen Landes.
Pierangelo Maset, Autor und Kunstvermittler, lehrte an der Universität Lüneburg. Publikationen in den Gebieten Ästhetik, Gegenwartskunst und Kunstpädagogik. Veröffentlichung von Tonträgern (Dr. Misch, ExKurs, Modern Entertainment), Essays und Romanen.
Autoren/Hrsg.
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Tourismus und der Turistvegen in Tromsdalen
Wer den Tourismus in Norwegen in den letzten Jahrzehnten beobachtet hat, wird kaum sagen können, wer wen verändert hat: der Tourismus das Land oder das Land den Tourismus. Praktisch bis zur Jahrtausendwende hat die norwegische Öffentlichkeit Tourismus abgelehnt und kaum zugelassen. Ein Foto, das wir leider nicht abdrucken können, zeigt das: Das Heck eines für uns Laien nicht identifizierbaren, aber elegant wirkenden Wagens ragt hinter einer Bretterbude hervor. Die trägt die Aufschrift: Cafe Nordkap. Natürlich war es ein Witz, als der in den frühen sechziger Jahren des letzten Jahrhunderts noch als Berliner Bürgermeister fungierende Parteifunktionär Willi Brandt zum ihm aus gemeinsamen Tagen im norwegischen Widerstand vertrauten Ministerpräsidenten Gerhardsen sagte: »Du, Einar, wenn ihr Tourismus wollt, dann müsst ihr aber was für eure Straßen tun«. »Aber wir wollen doch gar keinen Tourismus, lieber Willi«, soll Gerhardsen erschrocken geantwortet haben. Inzwischen sind all die Eisenkrämer, Kurzwarenläden, Buchhandlungen und kleinen Lebensmittelhändler, die einmal die spezifische Urbanität kleiner norwegischer Städte ausmachten, touristischen Zielen wie Schnellimbissen und endlosen Ketten von Pulloverläden gewichen. Die Saison, außerhalb derer es schwierig sein konnte, auch nur ein Nachtquartier zu finden, dauerte knapp zweieinhalb Monate, von Mitte Juni bis Ende August. Der parallele Verlauf zu den langen Sommerferien zeigt, dass es sich in erster Linie um ein Angebot für inländische, für norwegische Touristen gehandelt hatte. Inzwischen ist jahrum der Bär los. Selbst die unwirtlichen, dunklen Gebiete des Nordens ziehen mit ihren spezifischen Attraktionen wie der Polarnacht und dem Nordlicht Wintertouristen aus aller Welt an. Anders als in anderen Teilen Europas und selbst noch des europäischen Nordens waren die wenigen Norwegenreisenden bis ins 19. Jahrhundert hinein gleichsam Entdeckungsreisende. Ihnen stand keinerlei überlokale Struktur weder für einen Transport noch zwecks Übernachtung zur Verfügung, die Überquerung der zahlreichen Fjorde musste lokal verhandelt werden. Kein Vergleich zur seinerzeit vergleichsweise bequemen Reise von Stockholm zum Nordkap. Das änderte sich erst in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, als Dampfschiffe ganz Skandinavien für mitteleuropäische Reisende leichter erreichbar machten und als Eisenbahnen den Süden des Subkontinents erschlossen. Es entstand ein Tourismus, der aber eine Sache der Wohlhabenden war und es lange Zeit auch blieb. Als um 1900 die ersten Kreuzfahrtschiffe gebaut wurden, die sich in ihrem Luxus sehr von den schwimmenden Hühnerfarmen unserer Tage unterschieden, war Norwegen einschließlich des nördlichen Landesteils neben den deutlich sonnigeren Gefilden der Karibik und des Mittelmeerraums eine der ersten Zielregionen. Der Turistvegen im Tromsøer Ortsteil Tromsdalen heißt so, weil er bereits vor dem Ersten Weltkrieg ein Weg für Touristen war. Er führt vom Brückenkopf der freilich erst seit 1960 den Sund überspannenden Brücke hinein in das relativ breite Tal des Troms-Flusses, das also wie der Ort selbst Tromsdalen, Troms-Tal, heißt und hin auf die Tromsdalstinde, den höchsten Berg der Region, führt. Wer dort geht, bewegt sich also auf eine eindrucksvolle Berglandschaft zu, ohne sich allzu sehr anstrengen zu müssen. Heute ist er für Kraftfahrzeuge, denen aber bald ein Schlagbaum einen Stop setzt. Damals war er für Pferdefuhrwerke befahrbar. Die touristische Attraktion des Tals zeigt das Foto. Es handelt sich um eine von Touristen umlagerte samische Gamme. Dort konnte man Duodji kaufen, samische Dinge auf der Scheide zwischen Alltagskultur und Kunsthandwerk. Eine Postkarte (mit verwischtem Stempel) um 1900 zeigt, wie ein Ehepaar aus dem Rheingau dort weiter nicht spezifizierte samische Dinge für das Enkelkind »Baby« erwarb. Bei den Touristen auf dem Bild handelt es sich mit hoher Wahrscheinlichkeit um Reisende, die im Jahre 1912 mit dem Kreuzfahrtschiff Viktoria Louise nach Tromsø kamen. Vermutlich wurden sie von einem der Boote des auf Reede liegenden Schiffs an der Küste des seinerzeit noch kaum besiedelten Festlands ausgesetzt; es ist aber auch möglich, dass sie die Fähre nutzten, die bis 1960 die Stadt mit dem Ort Tromsdalen verband. Die meisten der Touristen dürften zur Gamme gelaufen sein, einige wurden vermutlich aber auch von dem im Bildhintergrund sichtbaren Pferdefuhrwerk transportiert. Mehrheitlich handelt es sich um Männer, nur fünf der insgesamt 24 Personen sind - an der Kleidung erkennbar - Frauen. Besonders praktisch gekleidet ist niemand, die Menschen tragen Gesellschaftskleidung wie auf dem Schiff. Bemerkenswert sind die Kopfbedeckungen: eine der Frauen und viele Männer tragen Mützen, wie sie seinerzeit ein Bestandteil der Marine-Uniformen waren. Zwei der Männer, die jeweils die dritte Position von links und von rechts einnehmen, tragen indessen Schiebermützen. Hutträger*innen sind bei den Männern die Minderzahl, bei den Frauen die Mehrzahl. Das ist Zeitgeist: Man ahmte einen Kaiser nach, der ständig Sprüche wie »Seegeltung tut not« oder »Deutschlands Zukunft liegt auf dem Wasser« absonderte, ein agressives und andere europäische Mächte provozierendes Kriegsflottenprogramm forcierte und der gleichsam der erste Norwegenreisende seines Reiches war. Und das selbstverständlich in Uniform. Die Mützen hatten gegenüber den Hüten nicht nur den Vorteil eines männlich-martialischeren Auftretens, sondern es ist ungleich bequemer, zu salutieren oder auch nur an den Mützenschirm zu tippen, als immer und immer wieder den Hut ziehen zu müssen. Auf dem begrenzten Raum eines Schiffes, wo immer wieder Grußpflichtsituationen entstehen konnten, war das sicherlich angenehm. Umso mehr Respekt verdient die Bürgerlichkeit der vier barhäuptigen Herren mit Hüten, von denen der ganz links überdies eine auffallend lässige Haltung einnimmt, während der zweite Unbehütete auf der linken Seite der Kamera sein offensichtlich markantes Profil präsentiert. Interessant wäre es, zu wissen, warum die Frau eine Marinemütze trägt. Vielleicht macht ihr Beispiel den Übergang des Militärischen in die Alltagskultur besonders deutlich. Vielleicht neigte sie auch zu einem kessen Auftreten und nutzte die Gelegenheit einer Reise, wo sie ungleich weniger Sanktionen zu befürchten hatte als in ihrem Heimatort. Vielleicht galt auch für sie das Argument der Bequemlichkeit: Eine Mütze war deutlich weniger vom Wegfliegen bedroht als die breitkrempigen Hüte der anderen Damen. Ein Jahrmarkt der Eitelkeiten um ein und auf einem bescheidenen Bauwerk, dessen Besitzerin fast verschwindet zwischen all den anderen Menschen. Vier von ihnen sind ihr sogar aufs Dach gestiegen, eine Handlungsweise, die sie gewiss für Anarchie gehalten hätten, wäre sie ihnen in ihren Heimatorten begegnet. Wir sehen bereits bei diesen frühen Reisenden, die erste Massentouristen zu nennen nicht frei von Ironie wäre: Touristen neigen dazu, auf der Reise Verhaltensweisen zu kultivieren, die sie zuhause ablehnten. Sie wollen nicht sehen (das interessante Objekt, die Gamme, liegt hinter ihnen), sondern gesehen werden. Das relativ neue Medium der Fotografie ermöglicht, das zu dokumentieren, und seit dem Aufkommen der handlichen Kameras nach dem Ersten Weltkrieg gehören die zum Touristen wie das Kreuz zur Kirche. Touristen sind rücksichtslos und teils aggressiv im Umgang mit der örtlichen Bevölkerung, und sie tragen eine von der Alltagskleidung abweichende Kleidung wie eine Uniform. Zugleich erinnert das Aufsdachsteigen als Schwundform an einen Habitus der alten Reisenden, bei ihren Aufenthalten während der Reise einen hochgelegenen Punkt zu erklettern, von dem aus sie möglichst viel der umgebenden Landschaft betrachten konnten – entsprechendes Wetter vorausgesetzt. So verfuhr der deutsche Geologe Leopold von Buch, ein Kommilitone und Freund Alexander von Humboldts an der Bergakademie zu Freiberg, der in der Zeit der Napoleonischen Kriege Norwegen bereiste. Er durchwanderte seine Etappen zu Fuß, und er bediente sich eines Skyss (wie derartige Mitfahrgelegenheiten im Norwegischen genannt werden), auf dem Karren oder mit einem Boot, die er jeweils vor Ort fand, um größere Strecken zu überwinden oder einen Fjord zu überqueren. Er benutzte also ausschließlich lokale Verkehrsmittel während seiner Wanderungen. Er nahm nicht nur Land und Leute intensiv wahr, die er in seiner 1808 gedruckten Reisebeschreibung schilderte, sondern führte unterwegs auch geologische Untersuchungen durch, notierte und zeichnete. Aus einer Muschelbank bei Tromsø schloss er auf Erhöhungen der Kontinente und stiess damit eine wichtige naturwissenschaftliche Diskussion an, im Medium der Reisebeschreibung, wohlgemerkt. Ob er das Tromsdal oder gar die Tromsdalstinde erreichte, lässt sich den überlieferten Quellen nicht entnehmen. Jedenfalls verdankt das seinerzeit kleine und völlig unbedeutende Tromsø seinem Besuch den Eintrag in Alexander von Humboldts großer Weltbeschreibung...