Maschner | Der Riss in der Wand | E-Book | www2.sack.de
E-Book

E-Book, Deutsch, 176 Seiten

Maschner Der Riss in der Wand

Roman
1. Auflage 2023
ISBN: 978-3-641-30872-8
Verlag: Diederichs
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark

Roman

E-Book, Deutsch, 176 Seiten

ISBN: 978-3-641-30872-8
Verlag: Diederichs
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark



Nur wer zu sich selbst steht, kann frei sein

Ich höre ein Klack. Die Tür ist ins Schloss gefallen. Ich lege langsam meine Hand um die Türklinke, doch sie lässt sich nicht öffnen. Immer schneller drücke ich die Klinke hinauf- und hinunter und zerre daran. Doch die Tür rührt sich kein Stück. Die Wolle meines Pullovers kratzt die Haut an meinem Hals. Mit meiner anderen Hand packe ich den Kragen und ziehe ihn herunter. Aber er ist es nicht, der mir den Hals zuschnürt. Ich schlage gegen die Tür und fange zu wimmern an: »Lasst mich raus! Bitte, lasst mich doch raus!«

Hedwig lebt noch bei ihren Eltern, obwohl sie lieber hinaus in die Welt möchte. Die Sicherheit des Elternhauses hält sie zwar, aber sie will mehr, weiß aber nicht so recht was und wie. Um ihren Gefühlen und Wünschen Raum zu geben, liebt sie es zu zeichnen. Eines Tages fasst sie sich schließlich ein Herz und bewirbt sich für ein Kunststudium, von dem sie schon seit langem träumt. Doch immer wieder zögert sie, mal aus Schuldgefühlen ihren Eltern gegenüber, mal aus Angst vor dem Unbekannten. Sie ist schon kurz davor, ihren Traum aufzugeben, als plötzlich seltsame Dinge im Haus geschehen. Sie sieht, was nicht da ist, Gegenstände verschwinden und tauchen woanders wieder auf, sie fühlt eine Präsenz, die zunehmend stärker wird.

Während sie dem Spuk auf den Grund geht, wird ihr nach und nach klar, dass diese Erscheinungen von ihren eigenen innersten Wünsche hervorgerufen werden. Sie wird mutiger, entwickelt Selbstvertrauen und ist bereit für ein neues Leben. Doch wird sie ihre Ängste wirklich besiegen?
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Zu Hause ist es am schönsten

Ich fegte mit meiner Hand den Abrieb des Radiergummis von meiner Zeichnung und pustete die restlichen Gummikrümel, die noch am Papier klebten, fort. Ich betrachtete mein Bleistiftwerk. Ich hatte einen Garten gezeichnet mit einem Torbogen im Mittelpunkt, unter Berücksichtigung des Goldenen Schnittes. Der Torbogen war überwuchert mit Efeu. Im Hintergrund befand sich, ganz klein, eine schemenhafte Kapuzengestalt. Das Zeichnen der einzelnen Efeublätter um den Bogen war das schwierigste, aber ich hatte es geschafft. Ich war sehr stolz und zufrieden mit meinem Werk.

Plötzlich fing der Raum an, sich um mich zu drehen. Ich sah das Zimmer nur noch verschwommen. Dann ließ der Schwindel nach. Das war doch nicht schon wieder …?

Ich griff nach meinem Smartphone und sah auf das Display. 16:32 Uhr. Ich massierte meine Schläfen. Es war schon wieder passiert. Ich war so sehr in meine Zeichnung vertieft gewesen, dass ich Essen und Trinken vollkommen vergessen hatte. Das rächte sich nun.

Vorsichtig stand ich auf. Nur nicht zu schnell. Nicht dass der Schwindel wiederkam. Dann ging ich hinunter in die Küche. Noch bevor ich die letzte Stufe der Treppe erreicht hatte, hörte ich die Stimme meines Vaters: »Hedwig, hol mal die Post von draußen rein!«

»Ja, mach ich«, rief ich zurück und trat durch die Haustür ins Freie. Die Sonne schien, und es war angenehm warm. Ich liebte Sommertage und Sonnenschein. Die Welt war in ein wundervolles Licht getaucht, und die Natur zeigte sich von ihrer besten Seite. Kurz genoss ich die Strahlen in meinem Gesicht und die Aussicht um mich herum. Ich nahm mir vor, öfter draußen zu sitzen und zu zeichnen.

Unser Haus war nichts Besonderes. Es war ein Reihenhaus aus den 1960ern am Rande von Innsbruck. Im Hintergrund ragten imposant die mit Schnee bedeckten blauen Berge der Alpen empor.

Das obere Viertel des Hauses war mit Holz verkleidet, die Balkone sowie die Fensterläden waren ebenfalls aus Holz, das im Sonnenschein in einem warmen Hellbraun mit leicht oranger Färbung leuchtete. Das Haus fügte sich ins Gesamtbild des Viertels und stach nicht heraus. Es war wie jedes andere Haus in der Straße. Der Garten war gepflegt, aber nicht bemerkenswert.

Dann ging ich zum Briefkasten und holte die Post. Auf dem Weg zurück ins Haus sah ich die Sendungen durch. Darunter waren das Billa-Flugblatt mit den aktuellen Angeboten der Woche, ein Modekatalog, den meine Mutter immer durchblätterte, ein Brief von der Versicherung an meinen Vater, ein Brief von Greenpeace – sicherlich ein Spendenaufruf – und – ich konnte es kaum glauben und hätte fast alle anderen Sendungen fallen lassen – ein Brief an mich von der Akademie der bildenden Künste Wien.

Vor einiger Zeit hatte es mich gepackt, und ich hatte mich an der Kunsthochschule in Wien beworben, beseelt von dem Traum, bildende Kunst zu studieren. Zeichnen war meine Leidenschaft, und ich wollte mehr lernen. Das Studium versprach eine vielseitige Ausbildung: eigene Formsprache, neue Techniken und Wahrnehmungsschärfung. Auch das wissenschaftliche Arbeiten faszinierte mich. Die Chance zur Zulassung stand günstig, und nach der Prüfung kam endlich die ersehnte Zusage.

Jetzt, Ende Mai, hielt ich einen Brief von der Akademie in den Händen. Ich sprang vor Freude in die Luft und ein quietschender Laut der Freude entwich mir. Ich freute mich wie ein kleines Kind, buchstäblich wie ein Honigkuchenpferd.

Ich lief zurück ins Haus. Ich musste meinem Vater davon erzählen! Ich spürte ein Kribbeln in meinem ganzen Körper, eine vitale Energie, die mich durchfuhr, und dann ein Stich in den Magen. Ich blieb stehen und sah an die leere Wand. Ich fühlte mich plötzlich ebenso leer wie es der Flur war. Ich konnte mich erinnern, dass eben hier die Medaillen und Pokale meines Bruders präsentiert wurden. Heute war davon nichts mehr zu sehen.

Dann hörte ich sie. Eine Stimme in meinem Kopf, sanft wie Watte, aber intensiv und klebrig wie geschmolzener Zucker.

Kannst du deinem Vater wirklich davon erzählen? Denkst du, er würde sich für dich freuen? Du kennst ihn doch. Er ist Realist, durch und durch. Träume sind Schäume, das sagt er doch immer.

Aber vielleicht, dachte ich, könnte ich ihm begreiflich machen, wie wichtig dieses Studium für mich wäre. Was für eine großartige Chance diese Zulassung für mich böte.

Eher würde er dein Bestreben, Künstlerin zu werden, nicht unterstützen. Zu unsicher, kein festes Gehalt. Was soll denn aus dir werden?

Was, wenn ich ihm unrecht tat, fragte ich mich. Er machte sich nur Sorgen um mich. Er wollte doch nur, dass es mir gut ging. Ich beschloss, es einfach zu versuchen. Ich würde ja sehen, wie er reagieren würde.

Na klar. Renn in dein Verderben. Schön in den Abgrund hinunter.

Ich spähte in unsere Küche. Zuerst fiel mein Blick auf ein Blechschild, auf dem mit großen, geschwungenen Lettern stand: Zu Hause ist es am schönsten.

Mein Vater spülte Töpfe und Pfannen ab, während er in seinen weißen Bart hineinfluchte. Es roch nach geschmolzenem Käse, Tomatensoße und etwas Eisenhaltigem … Hackfleisch, vermutete ich. Dem Geruch nach hatte mein Vater Lasagne gemacht. Überlagert wurde der Geruch vom Zitronenduft des Spülmittels.

Ich legte die Post auf die Anrichte. Danach goss ich Orangensaft in ein Glas und leerte es in einem Zug.

»Papa«, sagte ich.

Als Antwort bekam ich ein undefinierbares Geräusch, das sich mehr nach einem Husten anhörte als nach einer kommunikativen Entgegnung. Das kannte ich von ihm. Er drehte sich nicht mal zu mir um. Ich spürte einen Stich in der Brust, atmete tief durch und straffte meinen Rücken.

»Ich habe mich entschieden«, versuchte ich es wieder. Irgendwie hoffte ich immer, dass mein Vater sich doch noch einmal zu mir umdrehte und mir zuhörte. Wenigstens ein Mal.

Er fluchte etwas, während er eine Auflaufform schrubbte. Der eingebrannte Käse wollte sich wohl nicht wegwaschen lassen. Dann schwieg er wieder, vertieft in seine Arbeit.

»Bist du wütend?«, fragte ich.

»Ich bin nicht wütend«, fuhr er mich an.

Eine Weile stand ich still neben ihm und hoffte darauf, dass ihm doch noch einfiele, dass ich hier war. Eine Minute verging. Dann die zweite.

Ich nahm ein Geschirrtuch zur Hand und trocknete die Sachen ab, die mein Vater abgespült hatte.

Dritter Versuch, dachte ich. »Weißt du, ich habe mir überlegt …«

»Ich muss noch einkaufen«, stöhnte er. »Ich muss doch wirklich alles allein machen!« Er trocknete seine Hände ab und fuhr sich dann durch das graue Haar.

Mein Mund öffnete sich, aber bevor ich etwas sagen konnte, hörte ich wieder die Stimme.

Lass es einfach. Diesen Kampf kannst du nicht gewinnen. Halt lieber den Mund. Du machst es sonst nur schlimmer, und dann bist du schuld, wenn der Haussegen schief hängt.

Ich nickte innerlich und wollte gerade gehen, aber dann … dann hörte ich es: ein ganz leises Geräusch. Als ob jemand einen Finger auf die Lippen legte und leise Psst machte. Psssst. Pssssst …

Es war nicht meine bekannte, zuckrig klebrige Stimme in mir. Ich drehte mich um. Aber niemand war in der Küche außer mir und meinem Vater. Ich schaute noch in den Flur hinaus. Aber wir waren wirklich allein. Dann hörte ich es wieder. Psssst. Es klang, als wäre es ganz nah an meinem Ohr. Als stünde jemand hinter mir. Ich drehte mich erneut um, aber da war nichts.

»Hörst du das?«, fragte ich.

Mein Vater sah zum ersten Mal auf und lächelte. Es war ein Lächeln, das nicht seine Augen erreichte, sondern nur sein Gesicht verzerrte. »Ich höre nur einen Haufen Arbeit, der nach mir ruft.«

Ich verdrehte die Augen. Mein Vater sah nur das, was nicht erledigt wurde.

Wieder hörte ich das leise Pssst. Woher kam es?

War es das Surren des Kühlschranks? Oder die Heizung? Konnte das sein? Ich ging zu den beiden vermeintlichen Verursachern und horchte. Aber die Heizung war aus und gab kein Geräusch von sich. Der Kühlschrank schnurrte wie eine Katze vor sich hin. Auch er war nicht für dieses Pssst verantwortlich.

»Sieh dir das an«, sagte mein Vater mit einem Lächeln, das ebenso echt war wie Margarine echte Butter war. »Kochen ist wirklich eine Traumarbeit.« Der Sarkasmus, den er an den Tag legte, troff aus jeder Silbe.

»Du musst das doch nicht tun«, sagte ich.

Meine Stimme war leise, und trotzdem kam sie mir hoch und brüchig vor. Um meine Unsicherheit zu verstecken, legte ich das Geschirrtuch sorgfältig über den Griff des Backofens.

»Das verstehst du eh nicht. Außerdem: Wer sollte es sonst tun?«, blaffte er. »Du?«

»Franz hat das doch auch gemacht«, sagte ich.

»Ist auch egal jetzt«, fuhr er mich an. Was er allerdings meinte, war: »Sprich nicht von deinem Bruder.« Sein Gesicht verfinsterte sich. Seine Augen waren zugekniffen, seine buschigen Brauen zusammengezogen, seine Lippen nur noch ein dünner Strich. Eine Ader an seiner Stirn stand leicht hervor und pulsierte.

Du weißt es doch besser, Hedwig. In diesem Haus spricht man nicht über Franz.

»Entschuldige«, antwortete ich fast tonlos und wusste nicht, ob ich mich bei meinem Vater oder der Stimme in meinem Kopf entschuldigte.

»Wie du meinst, egal«, sagte er nur und setzte seine Klagen fort: »Alles muss ich allein tun!« Dann sah er mich eindringlich an. »Aber schön, wie du deine freie Zeit hier...


Maschner, Ina
Ina Maschner wurde 1992 in Prien am Chiemsee geboren. An der LMU studierte sie Germanistik mit Schwerpunkt auf Schauerliteratur. Die Autor*innen der Münchner Autorengruppe Prosathek sagen von ihr: Was unauffällig in die Ecke gestellt, hastig unters Bett geschoben, in den Keller gesperrt und totgeschwiegen wurde – darüber schreibt Ina.Die Autorin ist Mitglied der Münchener Autorengruppe Prosathek.



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