E-Book, Deutsch, Band 6578, 118 Seiten
Reihe: Beck Paperback
Masala Wenn Russland gewinnt
6. Auflage 2025
ISBN: 978-3-406-82449-4
Verlag: Verlag C. H. Beck GmbH & Co. KG
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Ein Szenario
E-Book, Deutsch, Band 6578, 118 Seiten
Reihe: Beck Paperback
ISBN: 978-3-406-82449-4
Verlag: Verlag C. H. Beck GmbH & Co. KG
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
CARLO MASALA ist Professor für Internationale Politik an der Universität der Bundeswehr und gefragter Kommentator für deutsche und ausländische Medien sowie häufiger Gast in den großen Polit-Talkshows.
Autoren/Hrsg.
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Bedingt abwehrbereit
Muss man Russland abschrecken? Und wenn ja, reichen die Fähigkeiten der Nato dafür aus? Als in der Ukraine noch die großen Kämpfe tobten, gab es unter den europäischen Staaten ein gewisses Bewusstsein dafür, dass in die eigenen Abschreckungsfähigkeiten investiert werden müsse. Doch gilt das auch jetzt noch? Obwohl die Vereinigten Staaten die europäischen Verbündeten weiterhin nachdrücklich auffordern, mehr für ihre Verteidigung auszugeben und ihnen auch sehr deutlich machen, dass sie aufgrund der Umorientierung nach Asien in absehbarer Zeit mit einer Reduzierung der amerikanischen Truppenstationierung in Europa zu rechnen haben, geht die Diskussion in vielen europäischen Hauptstädten in die gegenläufige Richtung.
Nun, da Russland seinen Krieg gegen die Ukraine beendet habe, und vor allen Dingen seine Landstreitkräfte erhebliche Verluste in diesem Krieg erfahren hätten, müssten die europäischen Verteidigungsanstrengungen auf die Unterstützung der Ukraine konzentriert werden und weniger auf die fortgeführte Aufrüstung der NATO-Staaten, meinen einige.
Andere argumentieren, dass man bereits seit Jahren an der Schließung der beiden größten Fähigkeitslücken arbeite, nämlich der mangelhaften Luftverteidigung Europas und der Schwächen im Bereich konventioneller Marschflugkörper mit einer Reichweite bis tief in das russische Territorium hinein. Da inzwischen im Rahmen der Multidomain Task Force in Wiesbaden Dark-Eagle-Hyperschallraketen stationiert wurden, sei bereits genügend Abschreckung vorhanden. Russland werde es nicht wagen, einen umfänglichen Angriff gegen einen NATO-Staat zu führen, da man so in der Lage sei, in kürzester Zeit wichtige russische Flugplätze, Einheiten, Logistik- und Kommunikationszentren zu zerstören. Und die Entwicklung eigener europäischer Systeme, die zwischen Frankreich, Polen, Italien und der Bundesrepublik vereinbart wurde, sei auf gutem Wege.
Im Übrigen, so versichern die schärfsten Kritiker einer stärkeren und damit auch kostspieligeren Verteidigungspolitik, sei die NATO den russischen Streitkräften konventionell haushoch überlegen. Und überhaupt solle man dem neuen russischen Staatspräsidenten doch erst mal eine Chance geben, seinen neuen moderaten Kurs glaubwürdig unter Beweis zu stellen. Eine verschärfte westliche Aufrüstung werde es ihm nur unnötig erschweren, seine inneren Reformen in Russland durchzusetzen. Durch eine Fortführung der Abschreckungspolitik werde man nur eines erreichen, nämlich die konservativen Kräfte in Russland zu stärken. Das müsse doch selbst dem schießwütigsten Cowboy klar sein. Europa habe schließlich eine andere Geschichte und aus den verheerenden Kriegen des 20. Jahrhunderts eines gelernt: Man müsse alles tun, um den Frieden zu sichern und die militärischen Eskalationslogiken zu durchbrechen, die nur in die Zerstörung führten – es sei nichts Verwerfliches daran, sich bis zur Selbstverleugnung für die Verständigung einzusetzen.
In Mittel- und Osteuropa sowie in den baltischen Staaten wird diese Entwicklung mit Sorge betrachtet. Die zunehmende Abkehr von dem während des Krieges bestehenden Konsens, dass Russland auf absehbare Zeit die größte sicherheitspolitische Bedrohung für den europäischen Kontinent darstelle, weckt dort die Furcht, dass die Glaubwürdigkeit der kollektiven Bündnisverteidigung im Rahmen von Artikel 5 der NATO unterhöhlt werden könnte.
Berichte aus den militärischen Strukturen der NATO in Brüssel sowie aus ihren strategischen Hauptquartieren, dass der Allianz in vielerlei Hinsicht die entscheidenden Fähigkeiten fehlen, um einen möglichen russischen Angriff auf NATO-Territorium überall schnell und entscheidend zurückzuschlagen, werden von den meisten westeuropäischen Regierungen als übertrieben zurückgewiesen. Ihnen ist die Aufrechterhaltung des gesellschaftlichen Friedens im eigenen Land wichtiger als die kostspielige Vorbereitung auf eine militärische Auseinandersetzung der Allianz mit Russland.
Und da Staaten wie Deutschland, Frankreich, Italien oder Großbritannien sich nicht dazu durchringen können, ihren Verteidigungshaushalt substanziell aufzustocken, bleiben die Lücken bei der Munitionsbeschaffung, Logistik und den digitalen Fähigkeiten, insbesondere bei der Kommunikation, bestehen.
Auch die Frage der Aufwuchsfähigkeit von NATO-Streitkräften, also die Möglichkeit, während eines Krieges mit Russland schnell zusätzliche Soldaten zu mobilisieren, wird zusehends vernachlässigt. War man sich während des russischen Angriffskrieges noch darin einig, dass man zum einen mehr aktive Soldaten in den Streitkräften brauche, zum anderen aber auch dafür Sorge tragen müsse, dass die Aufwuchsfähigkeit dieser Streitkräfte im Konfliktfall gewährleistet sei, wurden beide Komponenten jetzt erneut stiefmütterlich behandelt.
Selbst die schließlich verbindlich erfolgte Ankündigung der US-Administration, ihre Truppenstärke in Europa zeitnah zu reduzieren und sich stärker auf den Indopazifik zu konzentrieren, kann die meisten Staats- und Regierungschefs der NATO-Staaten nicht dazu bewegen, eine substanzielle Veränderung ihrer Verteidigungspolitik vorzunehmen.
Damit bleibt unklar, ob die bereits 2023 entwickelten Operationspläne, in denen die Verteidigung des NATO-Territoriums gegen einem russischen Angriff detailliert geregelt wurde, adäquat umgesetzt werden können. Zu viele Staaten kommen den Aufforderungen des NATO-Oberbefehlshabers in Europa, konkrete Einheiten für die Abdeckung diverser geographischer Zonen zu benennen, nur sehr schleppend nach. Als Ausrede verweist man auf die Stationierung europäischer Einheiten im Rahmen der UN-Observer Mission in der Ukraine und argumentiert, dass diese ja bereits unmittelbar vor Ort die Abschreckung Russlands garantieren würden. Die Abschreckung an der Ostflanke der Allianz, also im Baltikum, sei also gar nicht mehr so zentral.
Im Brüsseler NATO-Hauptquartier ist man angesichts des Phlegmas in den europäischen Hauptstädten aufs höchste besorgt. Wenn, so die Befürchtung vieler Militärplaner, die konventionelle amerikanische Unterstützung erheblich reduziert wird oder gar aufgrund eines parallel laufenden Konfliktes im Indopazifik komplett ausbleibt, gibt es in Europa nicht genügend Soldaten, um in einem langen Konflikt gegen Russland bestehen zu können. Diese Defizite auf der militärischen Ebene würden einige europäische Politiker durch ihre Rhetorik zu bemänteln versuchen. Es sei aber unwahrscheinlich, dass sich Russland davon beeindrucken ließe.
Vor allem der deutsche Bundeskanzler wird nicht müde zu betonen, dass die von Olaf Scholz 2022 ausgesprochene Versicherung, dass Deutschland bereit sei, jeden Quadratmeter des NATO-Territoriums zu verteidigen, auch für seine Regierung gelte. Wenn die frustrierten Stabsoffiziere im Bendlerblock darauf angesprochen werden, zucken sie allerdings nur mit den Schultern und fragen: Womit?
Derweil läuft die russische Rüstungsproduktion weiterhin auf Hochtouren. Jedes Jahr gelingt es Russland, um die 150.000 Soldaten für den Wiederaufbau seiner Landstreitkräfte zu rekrutieren und auszurüsten. Dank der Unterstützung Chinas und Indiens kann die russische Rüstungsindustrie selbst Entwicklungen im Bereich der Hochtechnologie vorantreiben. Dies betrifft vor allem den Bau neuer Fregatten sowie neuer Kampfflugzeuge. Auf diese immensen Rüstungsanstrengungen angesprochen, entgegnet der neue russische Präsident Obmantschikow in der Regel, dass es seinem Land, das selbstverständlich keinerlei aggressive Absichten gegenüber irgendwelchen Ländern hege, erlaubt sein müsse, seine Armee zur Landesverteidigung wieder aufzubauen.
Verteidigungsplaner in ganz Europa äußern die Befürchtung, die europäischen Streitkräfte würden im Falle eines umfassenden Konfliktes mit Russland so viele Fähigkeitslücken aufweisen, dass man das NATO-Territorium nur unter erheblichen Verlusten verteidigen könne. Zugleich weisen sie darauf hin, dass die offen zutage liegenden Schwächen der Allianz hochgefährlich seien. Denn aus russischer Perspektive würden sie die Erfolgsaussichten eines begrenzten militärischen Vorgehens gegen ein NATO-Mitgliedsland steigern.
Allerdings werden diese kritischen Stimmen, die zumeist aus dem Militär...