Marwan | Verpuppt | E-Book | sack.de
E-Book

E-Book, Deutsch, 220 Seiten, Format (B × H): 125 mm x 192 mm

Marwan Verpuppt


1. Auflage 2023
ISBN: 978-3-7013-6302-5
Verlag: Otto Müller Verlag GmbH
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark

E-Book, Deutsch, 220 Seiten, Format (B × H): 125 mm x 192 mm

ISBN: 978-3-7013-6302-5
Verlag: Otto Müller Verlag GmbH
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark



Rita findet sich nicht zurecht in der Welt. Ihr Leben lang hat sie sich in Genügsamkeit und Akzeptanz geübt; früh kommt sie zu der Erkenntnis, dass sich Träume oder Dinge, die verlorengehen, durch andere ersetzen lassen. Durch Beobachtung stellt sie fest: Der Mensch ist ein Gefäß, in das über die Jahre alles hineinkommt von außen - Meinungen, Verhaltensweisen, Gesten... Das Leben betrachtet sie als eine reine Aneinanderreihung von Spielchen; je nach Situation wird diese oder jene Version der eignen Person zur Schau gestellt und vor sich hergetragen. Was aus ihr werden soll, weiß sie nicht. Um das Chaos ihrer Welt zu bändigen, schreibt sie Geschichten, gestaltet Wahrheiten, erfindet sich Gefährten wie Ivo Je?, der - wie sie - im Ministerium tätig ist, Abteilung Raumfahrt. Oder handelt es sich um eine andere Art von Einrichtung und Ivo ist ein Mitpatient? Wird Rita therapiert oder wird die Ärztin von Rita manipuliert? Ist der freie Mensch frei oder ist derjenige ohne Zwang, dem die Entscheidungen abgenommen werden? 'Jede Geschichte ist eine Gewalt an die Wahrheit', schreibt Rita einmal. Verstehen wir dies als Einladung, den Wahrheitsgehalt der erzählten Geschichte infrage zu stellen.

Marwan, Ana   Angaben zur Person: 1980 in Murska Sobota/SLO geboren, aufgewachsen in Ljubljana. Studium der Vergleichenden Literaturwissenschaft in Ljubljana und der Romanistik in Wien. Schreibt Kurzgeschichten, Romane und Gedichte auf Deutsch und Slowenisch. Ausgezeichnet mit dem exilliteraturpreis'schreiben zwischen den kulturen' 2008, dem 'Kriti?ko sito' 2022 für das beste Buch des Jahres 2021 in Slowenien und dem Ingeborg-Bachmann-Preis 2022. Lebt als freie Autorin in Wien.
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Es dauerte eine ganze Weile, bis die Einsamkeit, die Jež umgab, auch in sein Inneres eingedrungen war und die Boshaftigkeit fast vollkommen aus ihm vertrieben hatte. Er selbst würde, obwohl sie weg war, noch immer nicht zugeben, dass es sich um Bosheit gehandelt hatte. Wut, Hass, Schadenfreude – das hätte er akzeptiert. Aber wenn diese aus dem Widerstand gegen das menschliche Böse entstehen, kann doch von Boshaftigkeit keine Rede sein.

Wie dem auch war, in seinen vier Wänden wurde Jež wieder unschuldig, unschuldig wie im Mutterleib. Es half, dass er still war. Normalerweise sagte er auch während des Arbeitstages nicht mehr als Guten Tag, Guten Appetit, Frau Lah, Bitte sehr, Entschuldigen Sie, Danke, Macht nichts, Erlauben Sie, Zum Wohl, Auf Wiedersehen. Nur schöne Worte.

So lässt sich allerdings nicht lange leben, in der Haltung eines Fötus, in Unschuld. Aber warum sollte er mit dem Kopf durch die Wand, er würde sich dem natürlichen Lauf der Dinge überlassen, dachte er sich jeden Tag aufs Neue, wenn er vom Dienst kam, den Morgenmantel überzog und auf der Couch und später im Bett las, bis er einschlief, oder einfach aus dem Fenster auf die Pappel starrte, die manchmal unter seinem Blick erzitterte.

Ja, es war eine Pappel. An einem Punkt ihres Wachsens, vor langer Zeit, hatte Jež zu seiner Frau gesagt: „Wie schnell der Baum wächst! Wie ein Vogel steigt er auf zum Himmel“, und seine Frau hatte geantwortet: „Pappeln wachsen schnell.“ Daraus hatte er geschlossen, dass dieser Baum eine Pappel war. Andere Bäume blieben Bäume. Seine Mutter hatte ihm nie beigebracht, zwischen Bäumen zu unterscheiden, so wie Mütter kleinen Inuitkindern beibringen, zwischen den Schneearten zu unterscheiden. Ježens Mutter hatte Bäume nicht für das gehalten, was sie am meisten umgab. Alles andere eher als Bäume. (An erster Stelle vermutlich menschliche Unzulänglichkeiten; so würde man wenigstens meinen.) Aber seine Frau war eine Meisterin im Differenzieren, nicht nur bei den Namen, die für sie sogar von nebensächlicher Bedeutung waren, sondern auch bei den Gefühlen, die sie weckten beziehungsweise wecken sollten. Ein wenig lernte er von ihr über Blumen. Orchideen solle er ihr nicht schenken, denn als Geschenk seien sie kleinbürgerlich, und Rosen seien ein leeres Klischee. In einem Strauß Blumen lauerten unzählige Gefahren. Wenn er sie selbst auf der Wiese pflückte, machte er in der Regel keinen Fehler, aber als er zu dieser Erkenntnis kam, war der Wille, sie zu pflücken, bereits verflogen. Je mehr er wusste, desto weniger wollte er sein Wissen nutzen; überhaupt war Wissen für ihn nur in einem Zustand der Wissbegierde attraktiv – ein Ziel an sich, niemals ein Werkzeug. So wenig bereit war er, nach einem Werkzeug zu greifen, und er wunderte sich, wenn die Dinge zu zerfallen begannen.

Nun verdeckte diese Pappel direkt vor dem Fenster, an dem er stand, die Sicht so vollkommen, dass es unmöglich war, etwas anderes zu sehen. Aber sie störte nicht, im Gegenteil – sie verbarg sehr schön. Außerdem konnte auch niemand mehr Jež sehen, denn durch dasselbe Fenster, durch das er auf die Welt geblickt hatte, hatte die Welt auf ihn geblickt.

Sie wird vielleicht noch ein Stockwerk höher wachsen, mehr vermutlich nicht – Jež hatte Glück, dass er nicht weiter oben wohnte. Oft hatte er Glück, oft begann er einen Satz mit „Ein Glück, dass …“.

Trotzdem blieb sein Blick traurig.

Über Jež Über Jež Über Jež

Das letzte Mal war Jež am achtundvierzigsten Geburtstag von Frau Klammer in Gesellschaft.

Er wollte nicht hingehen, aber seine Wünsche hatten keinen allzu großen Einfluss auf die Ereignisse. Diese Lektion hätte er schon als Kind lernen können, sie wurde ihm nicht vorenthalten, aber damals dachte er, dickköpfig wie er war, dass alles anders sein würde, wenn er groß wäre. Es stellte sich aber heraus, dass er sich umso weniger wünschen durfte, je größer er wurde. Wenn es so weiterging, würde er sich am Ende nur noch eines wünschen können.

Die Einladung kam vier Monate vor dem Ereignis mit der Post, sie war mit Tinte geschrieben, die Handschrift war gekünstelt, aber es war keine Schönschrift, sie war schwer lesbar, sie verlangte Aufmerksamkeit und Mühe.

Auf der einen Seite stand:

Ich bin schon vierundzwanzig Jahre, ich arbeite nun schon so lange, und was hab ich erreicht? Mein Gehirn ist wie ausgetrocknet, ich bin abgemagert, verdummt, gealtert […]. (Tschechow, )

Und auf der anderen:

Auch wenn ich selbst doppelt so alt werde, würde ich trotzdem gerne mit Ihnen feiern! Ich lade Sie herzlich zu einem Abendessen mit meinen engsten Freunden am 16. März um 19 Uhr ein. Bitte bestätigen Sie Ihr Kommen schriftlich – ich würde ungern vergeblich auf Sie warten.

Ich freue mich!

Mathilde Klammer

Die Einladung zeigte das Wesen der Klammer besser, als es jedes noch so gelungene Porträt hätte tun können, wenn auch ein Bild mehr als tausend Worte sagt und eine Einladung nur ein paar Dutzend.

„Du sprichst, als ob das etwas Schlimmes wäre. Ich wäre froh, wenn alles, was ich tue, mich so treu repräsentieren würde“, sagte seine Frau.

Sie unterstützte ihn bei seiner Ablehnung der Klammer nicht. Sie habe auch gute Seiten, stellte sie fest, niemand sei perfekt und sie sei eine treue Freundin. Jež sagte etwas über Treue als Mangel an Wahlmöglichkeiten und kam sich klug vor, ohne sich bewusst zu sein, bis wohin diese kleine Wahrheit reichte. Später, wenn er alles bedauern wird, wird ihn alles ärgern, auch dass sie sich an diesem Tag nicht geschämt hatte, zweimal hintereinander „treu“ zu sagen. Daran erinnerte er sich gut. Es kann dir ein Mal aus Versehen aus dem Mund fallen, aber dem müssen in Zukunft Scham, Reue und Vorsicht folgen. Vieles wäre Jež erspart geblieben, hätte er nicht ein so gutes Gedächtnis gehabt.

Als sie warteten, dass ihnen Frau Klammer die Tür öffnete, wusste keiner von ihnen, dass es das letzte Mal sein würde, und so warteten sie ohne Gefühle. Einige Dinge wurden Jež von Zeit zu Zeit doch für einen Moment erspart. Aber alles ist nur eine Frage der Zeit.

„Oh, willkommen!“, freute sich die Klammer in dem schreiend roten Kleid theatralisch und umarmte die Frau, dann näherte sie ihre linke Wange Ježens linker Wange und ihre rechte seiner rechten, wobei es zu keiner Berührung kam, aber das brauchte niemand zu wissen.

Alle Eingeladenen waren bereits in dem Zimmer versammelt, das die Klammer als Empfangszimmer bezeichnen musste, damit der Ausdruck mit dem Erscheinungsbild und der Besitzerin harmonierte.

Das Zimmer war wie ein Salon aus dem vergangenen Jahrhundert eingerichtet. Es gab auch ein Klavier, obwohl sie...


Marwan, Ana
1980 in Murska Sobota/SLO geboren, aufgewachsen in Ljubljana. Studium der Vergleichenden Literaturwissenschaft in Ljubljana und der Romanistik in Wien. Schreibt Kurzgeschichten, Romane und Gedichte auf Deutsch und Slowenisch. Ausgezeichnet mit dem exilliteraturpreis„schreiben zwischen den kulturen“ 2008, dem „Kritiško sito“ 2022 für das beste Buch des Jahres 2021 in Slowenien und dem Ingeborg-Bachmann-Preis 2022. Lebt als freie Autorin in Wien.



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