Marwan | Der Kreis des Weberknechts | E-Book | sack.de
E-Book

E-Book, Deutsch, 196 Seiten

Marwan Der Kreis des Weberknechts


1. Auflage 2019
ISBN: 978-3-7013-6271-4
Verlag: Otto Müller Verlag GmbH
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark

E-Book, Deutsch, 196 Seiten

ISBN: 978-3-7013-6271-4
Verlag: Otto Müller Verlag GmbH
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark



Karl Lipitsch mag keine Menschen. Er wohnt alleine, da er eine tiefe Abneigung gegen die Gesellschaft hegt und Gespräche meiden möchte. Häufig sitzt er lesend im Garten oder schreibt an seiner umfassenden philosophischen Abhandlung. Doch die Überzeugung, fortan als Einsiedler in Einsamkeit zu leben und damit glücklich zu sein, gerät schnell ins Wanken. Durch einen Zufall (sofern es denn tatsächlich einer war) macht er nähere Bekanntschaft mit seiner Nachbarin Mathilde. Beide umkreisen den anderen, jeder in der Überzeugung, der Überlegene zu sein. Und so beobachten wir Lipitsch bei seinen Bemühungen, ihr nicht ins fein gesponnene Netz zu gehen. Doch je mehr Lipitsch zappelt, desto kräftiger verfängt er sich in Mathildes Fäden...

Marwan, Ana Angaben zur Person: Ana Marwan,1980 in Murska Sobota (Slowenien) geboren, aufgewachsen in Ljubljana. Studium der Vergleichenden Literaturwissenschaft in Ljubljana und Romanistik in Wien. Preisträgerin des exil-literaturpreises 'schreiben zwischen den Kulturen' 2008. Der Kreis des Weberknechts ist ihr erster Roman.
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Ach, Mathilde, Mathilde, wann kommst du wieder? Ich verzeihe dir alles, ich entschuldige mich für alles, ich stehe in deiner Schuld, du bist mein letztes Glück.

Manchmal war sie da, manchmal nicht, und der Tag kam, uneingeladen, aber nicht unerwartet, an dem Lipitsch bei dem Gedanken an Mathilde zum ersten Mal einen Schmerz fühlte. So einen Schmerz spürte er überhaupt zum ersten Mal. Er fing in der Mitte des Körpers an, lass uns das überspitzt das Herz nennen, und schoss wie in einem flüssigen Strahl gleichzeitig nach oben und nach unten. Er endete in einem Schauer hinter seinen Wangen. Es war kein gänzlich unangenehmer Schmerz: Man wollte ihn zwar beseitigen, aber man glaubte, dies wäre so einfach, dass man ruhig noch ein wenig genussvoll dabei verweilen durfte.

Und so dachte Lipitsch regelmäßig an Mathilde, fest davon überzeugt, dass er Herr seiner Gedanken war und dass er jederzeit aufhören konnte – bis es zu spät war.

Als an einem solch schmerzvollen Tage Mathilde Lipitsch am Gartenzaun fragte, wo er eigentlich gewesen war, damals, als sie sich am Flughafen getroffen hatten, schaute Lipitsch weg, links an ihr vorbei, und gestattete seiner momentanen Traurigkeit für eine alte einzuspringen und sich so verkleidet zu zeigen. Sogar seine Augen waren wässrig geworden. Mathilde wollte ihm nicht zu nahe treten! Nein, nein, es ist schon gut, sie hatte es ja nicht wissen können.

Er meinte, er hätte nicht fahren sollen. Alle hatten ihm ihre persönliche Traurigkeit aufgedrängt, als ob es selbstverständlich war, dass er keine eigene hatte, vor allem diese eine Frau, die immer glaubte, dass sich alles um sie drehte, weil Lipitsch sie einmal geliebt hatte, und Liebe schließlich alles trumpft, meinte sie in ihrer weiblichen Begrenztheit, obwohl alles rund um sie darauf hindeutete, dass es die Zeit ist, die alles besiegt und noch dazu vernichtet.

Und dann waren auch die Neugierigen da, die frohlockten, weil sie am Leben waren und noch aufs Neue hoffen durften und gierig danach waren. Sie wollten wissen, genau er sich umgebracht hatte und andere Geschmacklosigkeiten.

Und manche Geschmacklosen hatten sich herausgeputzt für den Event, sie trugen aufwendige, zusammenpassende Kleidungsstücke, vorausschauend wasserfeste Schminke, sicherheitshalber, man weiß es ja nie, damit sie auch traurig schön und präsentabel blieben, und manche trugen sogar Schmuck. Ich bin eine schöne Trauernde, meinten sie sicherlich. Ich bin in jeder Lebenslage schön, auch wenn vor mir ein Toter liegt.

Es machte Mathilde traurig, dass Lipitsch so traurig wirkte. Sie wollte ihn in die Arme nehmen, streicheln, stillen. Solche sensiblen Seelen sind nicht für diese harte Welt gedacht; sie sind vom Aussterben bedroht, sie sind selten, also kostbar. Aber gleich warnte sie sich schon vor sich selbst: hüte dich vor dem Mitleid, Mathilde, du weißt ganz genau, dass das die Hintertür in dein Herz ist. Und du weißt auch ganz genau, wie die meisten, die es einmal hineingeschafft haben, dann dazu verleitet werden, es sich dort gemütlich zu machen, und obwohl die Miete hoch ist, schreckt das niemanden ab, denn sie wird meist einfach nicht bezahlt.

Allem Anschein nach verwechselte Mathilde wieder einmal die Ursache mit der Folge und erkannte nicht, dass man, um Mitleid überhaupt erregen zu können, schon in ihrem Herzen sein musste. Sie zog all die Leidenden, an denen sie ungestört vorbeiging, bei ihrer Selbstbetrachtung nicht in Betracht – einfach, weil sie sie nie bemerkt hatte.

Als Lipitsch gemerkt hatte, er hatte Mathilde berührt, entschied er, es war nun die richtige Zeit, sie zu formen, solange sie noch weich war. Unter dem Vorwand, dass der Winter einbricht, aber nur draußen und nicht ins Haus, lud er sie auf eine Tasse Kaffee ein. Sie war weich und biegsam wie noch nie, so traute sich Lipitsch angesichts ihres Zustands am Schluss sogar einen vorzuschlagen: Eine Tasse Kaffee jeden Freitag nach der Arbeit. Sie willigte ein.

Die ersten Male wartete er mit großem Unbehagen, bestehend bald aus Angst, dass sie nicht kommen würde, bald aus vorzeitiger Wut, weil sie vielleicht nicht gekommen sein wird, oder aber auch aus mühsam vorgetäuschter Indifferenz, ob sie kommen würde oder nicht. Ihre Pünktlichkeit wiegte ihn jedoch bald in ein Gefühl von Sicherheit, denn sie wusste ihr Spinnennetz als Hängematte anzubieten.

Sie stellte viele Fragen. Sie wollte Dinge wissen. Neugierige Frau, dachte sich Lipitsch, einmal auch laut, was unhöflich klang (witzigerweise machte es die ‚Frau‘ unhöflich und nicht die Beschreibung, obwohl Ersteres wahr war und sich über das Zweitere streiten ließe), und er musste sich wieder entschuldigen.

Man schützt sich halt, wenn man mit Blicken und Fragen durchbohrt wird, man möchte ganz bleiben und nicht durchlöchert, man glaubt, man habe ein Geheimnis zu hüten. Wenn es jedoch niemanden interessiert, was in einem steckt, dann kommt es aus allen Löchern heraus, dann trägt man es auf einem Tablett herum und versucht, so viele Menschen wie möglich damit zwangszubeglücken. Aber nur, was der andere will, ist etwas wert. Die Nachfrage bestimmt den Preis, und Lipitsch fühlte sich im Moment wertvoll, „es geht mir heute gut, danke der Nachfrage“.

Er merkte nicht, dass die Situation, die Mathilde zu einer ‚neugierigen Frau‘ machte, dadurch entstand, dass er selbst keine Fragen stellte. Somit war sie genötigt, immer wieder mit einer Frage das Gespräch voranzutreiben. Wenn er sich dagegen wehrte, ging sie einfach frühzeitig. Höflich, lächelnd, durchaus gleichgültig. Sie bestimmte selbst, wie schnell sie ihren Kaffee trank. So erzog sie ihn bald dazu, sich ohne Widerrede gleich zu öffnen, und er musste sich eingestehen, dass ihm das gefiel.

Ab und zu regte sie ihn sogar zum Nachdenken an. Natürlich war sie ihm nicht ebenbürtig, seriös konnte man mit ihr über Dinge nicht diskutieren, aber ihre Gedanken blieben bei ihm hängen. Als er ihr bei Gelegenheit seine gründlich überlegte und fundierte Meinung über die Schwachstellen der Demokratie schilderte, und sie mit ihm nicht einverstanden war, spürte er kurz danach wieder den alten Überdruss, den die uniformen Meinungen der nachplappernden Meute in ihm auslösten und ihn eigentlich in seinen antidemokratischen Einstellungen nur bestärkten. Auf Missverständnis zu stoßen, war also für ihn nichts Neues, er rechnete damit und hatte sein Gefühl der Überlegenheit einsatzbereit, was aber diesmal schon neu war, war ihre Begründung. Sie meinte, die meisten Leute können nicht wirklich singen, es ist eher außergewöhnlich, auf jemanden zu stoßen, der ein Lied vorsingen kann und im Stande ist, jeden Ton sicher zu treffen. Die Menge, hingegen, schafft das immer. Nehmen wir als Beispiel ein Fußballstadion, da kann man ruhig von einer Meute reden, aber gesungen wird immer richtig, eine große Gruppe singt nie eine falsche Melodie. Daraufhin konnte Lipitsch nur gezwungen lachen und gezwungen über ihre Fähigkeiten, einen argumentativen Diskurs zu führen, spotten. (Dadurch wurde ihr klar, dass sie ihn in die Ecke getrieben hatte, und ließ großzügig los. Sie wusste, aus Erfahrung leider, dass, sobald sich eine Frau überlegen fühlt, jeder Mann verjagt wird.)

Manchmal wurde er auch ermutigt, sich zu erinnern. Sie wollte wissen, wie er als kleines Kind gewesen war. Seine ehemaligen Freunde wussten es, sie waren dabei gewesen, ihnen konnte er nichts vormachen. Jetzt konnte er plötzlich mit Sätzen seine Kindheit neu bauen, und darüber freute er sich wie ein Kind.

Und wenn er sich über seine ehemaligen Freunde beklagte, sagte sie vielleicht etwas wie: „Sie wissen doch, was Proust sagt: ‚Man glaubt nie an die Genialität eines Menschen, mit dem man am Vortag zusammen in der Oper war‘“, was ein angenehmer Balsam für seine Seele war, und er ließ ihn gerne einziehen, ließ sich gerne in den Denkfehler verführen, dass der Mangel an Wertschätzung seiner Freunde schon Beweis genug für seine Genialität war.

Bald empfand er seine Vergangenheit und eigentlich die ganze Welt nur noch als Stoff für die Gespräche mit Mathilde. Und immer, zumindest in seiner Wahrnehmung, wenn er etwas Besonderes mitzuteilen hatte und überlegte, wie er das Gespräch darauf lenken konnte, legte sie ihm eine Rutsche. Das waren Zufälle, bei denen er versucht war, sie als göttlich zu beschreiben.

Ja, Mathilde war gut. Er bekam nie genug von ihr, und auch sich selbst konnte er in ihrer Gesellschaft gut ertragen. Vielleicht war es doch nicht wahr, dass er für die Einsamkeit erschaffen wurde. Vielleicht war es nur die Menge, in der er nicht bestehen konnte. Vielleicht war es sein Schicksal, sich immer wieder nur in einer einzelnen Person zu verlieren…

Lipitsch meinte, es falle ihm schwer, über die dunkle Seite der Menschheit zu schreiben, seitdem er Mathilde kannte. Das war als Kompliment gemeint, mehr konnte man...


Marwan, Ana
Ana Marwan,1980 in Murska Sobota (Slowenien) geboren, aufgewachsen in Ljubljana. Studium der Vergleichenden Literaturwissenschaft in Ljubljana und Romanistik in Wien. Preisträgerin des exil-literaturpreises „schreiben zwischen den Kulturen“ 2008. Der Kreis des Weberknechts ist ihr erster Roman.



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