Martynkewicz | Das Café der trunkenen Philosophen | E-Book | www2.sack.de
E-Book

E-Book, Deutsch, 496 Seiten

Martynkewicz Das Café der trunkenen Philosophen

Wie Hannah Arendt, Adorno & Co. das Denken revolutionierten
1. Auflage 2022
ISBN: 978-3-8412-3034-8
Verlag: Aufbau Digital
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark

Wie Hannah Arendt, Adorno & Co. das Denken revolutionierten

E-Book, Deutsch, 496 Seiten

ISBN: 978-3-8412-3034-8
Verlag: Aufbau Digital
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark



Von den wilden Anfängen der Frankfurter Schule zum neuen Denken 

Das gepflegte Café Laumer in Frankfurt-Westend wurde im Sommer 1930 zum Treffpunkt einer illustren Gruppe: Von der geselligen Atmosphäre angelockt, trafen hier die Anhänger des Instituts für Sozialforschung auf den Kreis um Karl Mannheim und Norbert Elias. Die gegensätzlichsten Positionen prallten aufeinander, während in einem Punkt bemerkenswerte Einigkeit herrschte: In der Soziologie sah man die neue Königsdisziplin. Man riskierte einen völlig anderen Blick, befreite sich vom hochgestochenen metaphysischen Denken und wollte endlich die »wirkliche Welt« betrachten.

Wolfgang Martynkewicz verfolgt die Lebenswege der prominenten Diskutanten des »Kränzchens« von ihren Anfängen über das Exil bis in die junge Bundesrepublik und führt anschaulich vor Augen, wie die Revolutionierung der Lebensart mit der Revolutionierung des Denkens einherging. 

Mit Hannah Arendt, Theodor W. Adorno, Paul und Hannah Tillich, Gisèle Freund, Max Horkheimer u. v. a.



Wolfgang Martynkewicz, geboren 1955, ist freier Autor und Dozent für Literaturwissenschaft; zahlreiche Veröffentlichungen zur Literatur des 19. und 20. Jahrhunderts und zur Geschichte der Psychoanalyse. Mit seiner Abhandlung »Salon Deutschland. Geist und Macht 1900-1945« gelang ihm ein viel beachteter Erfolg bei Presse und Publikum. Zuletzt erschien sein Buch »1920. Am Nullpunkt des Sinns«.
Martynkewicz Das Café der trunkenen Philosophen jetzt bestellen!

Autoren/Hrsg.


Weitere Infos & Material


Prolog


Und alle, alle kamen – ein Gruppenbild

Schon Wochen vor dem großen Fest wurden die Einladungen verschickt. Für den 27. Februar 1932 baten der protestantische Theologieprofessor Paul Tillich und seine Frau Hannah zum Maskenball in ihrer Wohnung in Frankfurt-Niederrad, Vogelstraße 11. Wie sich Letztere später erinnert, spendeten Freunde und Bekannte in der Vorbereitungsphase die »besten Weine (›keine harten Getränke‹ war meine Bedingung gewesen)«, steuerten Essen, Gläser und Geschirr bei. Die Tillichs hatten zu diesem Anlass sogar einen »Butler« engagiert – Butler war wahrscheinlich eine etwas hochtrabende Bezeichnung, hinter der sich eine studentische Hilfskraft verbarg. Von solchen dienstbaren Geistern, die der Professor an der Hand hatte, war in den Tagen vor dem Fest die Wohnung voll, denn das ganze Erdgeschoss, das die Tillichs bewohnten, musste ausgeräumt werden. Man erwartete fünfzig bis sechzig Gäste und brauchte Platz, um ausgelassen feiern zu können. Außerdem sollten die teuren Mies-van-der-Rohe-Stühle sowie die Chintzvorhänge, die Hannah Tillich für ihr Frankfurter Domizil gekauft hatte, in Sicherheit gebracht werden.1

Nachdem die Zimmer leer geräumt waren, wurde die Wohnung entsprechend präpariert, mit Bar und einem verdunkelten Zimmer ausgestattet, um das sich bis heute die Phantasien der Tillich-Forscher ranken.2 Die amerikanische Soziologin Gladys Meyer, die damals am Frankfurter Institut für Sozialforschung studierte, hat mit ihrer Erinnerung an das »Aphroditorium« genannte Zimmer den Stein ins Rollen gebracht.3 Die Wortschöpfung stammt wahrscheinlich von Paul Tillich, der für solche erotischen Anspielungen ein besonderes Faible hatte. Man sieht es förmlich vor sich, wie er mit augenzwinkernder Ironie seinen Gästen den Raum offeriert. Aphroditorium – das klingt, wie es sich für einen Maskenball gehört, nach Ausschweifung, Sünde und Enthemmung. Die Tillichs hatten ihren Spaß an der Inszenierung – und die Gäste vermutlich auch. Man wollte sich belustigen, und dazu gehörte Illumination, zumal bei einem Kostümfest. Hannah Tillich erinnert noch andere Details: »Wir baten eine Freundin, die sich nebenbei mit Malerei beschäftigte, die Wände mit Papierbahnen auszukleiden, die sie mit Faschingsthemen und Gedichten über die einzelnen Gäste bemalt hatte.«4 Auch die Musiktruhe, die man herbeigeschafft hatte, und dass Tochter Erdmuthe bei Freunden untergebracht worden war und der Vermieter, der im ersten Stock wohnte, die »Erlaubnis zu dem Ball gegeben« hatte – »und alle, alle kamen«.5

Es soll hoch hergegangen sein, ein »lustiger Maskenball«, an den sich manche Gäste noch Jahrzehnte später wehmütig erinnerten.6

Der Ablauf der Festivität war von den Einladenden generalstabsmäßig geplant worden. Die Tillichs waren – das muss man vorausschicken – hoch professionelle Gastgeber: Sie waren in ihrem Element, sie hatten sich bei einem Maskenball kennengelernt, und wenn sie etwas an Frankfurt liebten – so haben es Wilhelm und Marion Pauck, die Biographen Paul Tillichs, festgehalten –, dann »die vielen Maskenbälle, die um sie herum gefeiert wurden«. Aber sie waren nicht nur fleißige Besucher: »Die Tillichs waren häufig die Gastgeber.«7 Nichts wurde dem Zufall überlassen, denn am Ende sollte, unter Mitwirkung entsprechender alkoholischer Rauschmittel, ein gemeinsames Erlebnis stehen. Die Gäste, die allein oder paarweise erschienen, sollten aus der Vereinzelung herausgerissen und miteinander in Kontakt gebracht werden. Nichts schlimmer als ein Fest, bei dem die Gäste isolierte Grüppchen bilden – wer kennt das nicht. Als Gastgeber überlegt man sich Strategien, um ›vereinzelte Einzelne‹ zusammenzubringen und Hemmungen und Vorbehalte abzubauen. Die Tillichs haben ihre Strategie mit Begriffen aus der Instrumentenkiste der Hegel’schen Philosophie kundgetan – und für die ist bekanntlich der Dreischritt charakteristisch: von Spruch über Widerspruch zur Einheit. In diesem Sinne haben sie, zu »realer Dialektik«8 auffordernd, die Einladung unterzeichnet:

Spruch  Widerspruch  und Einheit

Paul und  Hannah     Tillich

Dass sie es so kompliziert machten, lag daran, dass Paul Tillich seit Wochen und Monaten mit Hegel beschäftigt war und alles Mögliche in dessen System übersetzte. Im Wintersemester 1931/32 hielt er eine vierstündige Vorlesung über Hegel sowie ein Lektüreseminar. Tatkräftig unterstützt wurde er dabei von seinem Assistenten Theodor W. Adorno, der sich damals noch Theodor Wiesengrund nannte.

Genau ein Jahr zuvor hatte Adorno mit Tillichs Unterstützung seine Habilitation über Kierkegaard im zweiten Anlauf abgeschlossen. Als er die Geschichte endlich hinter sich gebracht hatte, fühlte er sich von einem Albdruck befreit, der Weg zum Privatdozenten war kein Selbstläufer. Adorno und Tillich waren fortan ein Gespann mit klarer Aufgabenteilung: Adorno bereitete die Veranstaltungen vor und übernahm die Arbeit mit den Studenten, was er offenbar mit viel Engagement tat. Der Schriftsteller Ernst Erich Noth, der damals bei ihm studierte, erinnert sich an die »aktive Rolle«, die der Philosoph spielte, »insbesondere in den zwanglosen ›Nachseminaren‹, die meistens im Café Laumer stattfanden«. Diese haben »wahrscheinlich zu unserem Bildungsgang mehr beigetragen […] als der offizielle Vorlesungsbetrieb«.9

Das gepflegte Café im Frankfurter Westend, Bockenheimer Landstraße, das heute noch existiert, gehörte damals zu den favorisierten Treffpunkten der Soziologen und Philosophen des Instituts für Sozialforschung. Hier, in dem Café im Wiener Stil, verkehrten literarisch und politisch Interessierte, vor allem aber Dozenten und Studenten der nahen Universität, die bei Kaffee, Kuchen und geistigen Getränken die in den Hörsälen begonnenen Diskussionen fortsetzten. Man saß in entspannter Runde zusammen und diskutierte zuweilen bis weit nach Mitternacht. Paul Tillich ist einmal nachts um 1 Uhr erschöpft aufgestanden und hat sich mit den Worten verabschiedet: »Ihr könnt ja zu eurer Struktur gehen, aber ich gehe jetzt ins Bett.« Im Café Laumer tagte auch das »Kränzchen«, ein wahrscheinlich von Tillich ins Leben gerufener Kreis, der sich in unregelmäßigem Turnus traf. Max Horkheimer, Adorno, Friedrich Pollock, Karl Mannheim und andere Kollegen gehörten dazu – Intellektuelle, die aus gegensätzlichen Denktraditionen kamen, sich unterschiedlichen Weltanschauungen zugehörig fühlten und nach neuen Wegen in der Wissenschaft und im gesellschaftlichen Leben suchten. Nichts sollte so bleiben, wie es war, alles sollte anders werden, an den gesellschaftlichen Tatsachen ausgerichtet sein – zumindest darin war man sich einig. Eine Versammlung von Nonkonformisten, von solitären Existenzen, die den Drang hatten, sich durch neue Ideen und Begriffe als Denker zu abstrahieren: »War etwas an den berühmten zwanziger Jahren daran«, so Adorno, »so ließ es in diesem Kreis sich erfahren.«10

Während sich Wiesengrund-Adorno um die Studierenden kümmerte, die ihn bestaunten, weil er so »unerhört gescheit, geballt, intensiv«11 reden konnte, agierte sein Mentor etwas abgehobener. Er stand mit Freude auf dem Podium und dozierte. Tillich war ein ausgezeichneter Redner – »Vorlesungen halten«, so die Biographen, »war eine Leidenschaft, an die Tillich sein ganzes Leben lang gekettet blieb. […] Er mochte nichts lieber, als eine Menge Menschen vor sich zu haben, zu denen er sprach.«12 Und dazu hatte er in seiner Frankfurter Zeit reichlich Gelegenheit, die Einladungen zu Tagungen und Festveranstaltungen waren kaum zu bewältigen. Der gefragte Redner plante seine Auftritte minutiös und begeisterte seine Hörerschaft. Gerade einmal zehn Tage vor dem großen Maskenball hatte er als Dekan der Philosophischen Fakultät den Festvortrag bei der Reichsgründungsfeier der Universität Frankfurt gehalten; der Titel lautete – wir schreiben das Jahr 1932 –: Der junge Hegel und das Schicksal Deutschlands. Bei dieser Gelegenheit wirbt Tillich für das Ziel einer neuen, vermittelten Einheit, die aus der Einzelheit herausführt; das Ziel allen Strebens sei »das Leben als Vereinigung, ...



Ihre Fragen, Wünsche oder Anmerkungen
Vorname*
Nachname*
Ihre E-Mail-Adresse*
Kundennr.
Ihre Nachricht*
Lediglich mit * gekennzeichnete Felder sind Pflichtfelder.
Wenn Sie die im Kontaktformular eingegebenen Daten durch Klick auf den nachfolgenden Button übersenden, erklären Sie sich damit einverstanden, dass wir Ihr Angaben für die Beantwortung Ihrer Anfrage verwenden. Selbstverständlich werden Ihre Daten vertraulich behandelt und nicht an Dritte weitergegeben. Sie können der Verwendung Ihrer Daten jederzeit widersprechen. Das Datenhandling bei Sack Fachmedien erklären wir Ihnen in unserer Datenschutzerklärung.