E-Book, Deutsch, 336 Seiten
Martynkewicz 1920
1. Auflage 2019
ISBN: 978-3-8412-1806-3
Verlag: Aufbau Digital
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Am Nullpunkt des Sinns
E-Book, Deutsch, 336 Seiten
ISBN: 978-3-8412-1806-3
Verlag: Aufbau Digital
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Wolfgang Martynkewicz, geboren 1955, ist freier Autor und Dozent für Literaturwissenschaft; zahlreiche Veröffentlichungen zur Literatur des 19. und 20. Jahrhunderts und zur Geschichte der Psychoanalyse. Mit seiner Abhandlung »Salon Deutschland. Kunst und Macht 1900-1945« gelang ihm ein viel beachteter Erfolg bei Presse und Publikum.
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Prolog
Eine babylonische Welt
»Denn ein anderer Rhythmus war in der Welt.
Ein Jahr, was geschah jetzt alles in einem Jahr!«
Stefan Zweig: Die Welt von Gestern
»Abenddämmerung oder Morgendämmerung«
»Diese Zeit hat etwas durchaus Gespensterhaftes.«1 Mit diesem Satz beginnt Kurt Tucholskys Essay »Dämmerung«, erschienen im März 1920 in der Wochenschrift Die Weltbühne. Tucholsky beschreibt das Lebensgefühl in der Welt von 1920. Das bürgerliche Zeitalter war im Krieg untergegangen, aber man tat so, als sei nichts passiert – business as usual: »Seltsam, dieses Bürgertum. […] Seltsam dieses starre Festhalten an Formen, die leer sind, an Dingen, die es eigentlich nicht mehr gibt. Vorbei, vorbei – fühlt ihr das nicht?«, wundert sich Tucholsky. Äußerlich scheint alles normal, die Menschen arbeiten, gehen ihren Geschäften nach, vergnügen sich: »aber es ist alles nicht wahr«.2
Die Welt ist in Bewegung, »es rumort in der Tiefe, und der Boden schwankt leise«.3 Viele Selbstverständlichkeiten sind dahin – und davon gab es einige: »daß das Vaterland das Höchste ist«, »daß die Familie der Endpunkt der Entwicklung«, »daß der Kapitalismus notwendig oder gar nutzbringend sei«. Alles das ist nun, so Tucholsky, »sehr bestritten«. Klarheit herrscht nicht, es gibt keine gemeinsame Basis: »die babylonischen Menschen« sprechen verschiedene Sprachen, sie »sprechen aneinander vorbei, und sie haben weniger gemeinsam denn je«.4
Noch glauben die Menschen allerdings, dass die »gute alte Welt« eines Tages wiederkomme, aber – da ist sich Tucholsky sicher – sie kommt nicht wieder. »Ich fühle nur dumpf, daß da etwas herankriecht, das uns alle zu vernichten droht. Uns: das ist unser altes Leben […] – uns: das ist unsre alte Welt, an der wir – trotz allem – so gehangen haben.«5
Die Welt war seit August 1914 ins Rollen gekommen – und nun »stürzt« sie. Der Sinn des Lebens ist grundsätzlich in Frage gestellt. Nur nehmen – das ist für Tucholsky das Wahnwitzige – die wenigsten wirklich Notiz davon, krampfhaft hält man an den alten Vorstellungen vom Leben fest. Man spricht über Politik und Kunst, diskutiert über die neuen Romane, besingt die »gute alte Zeit«, als wenn nichts wäre – eine gespenstische Wirklichkeit, eine Wirklichkeit, in der nichts mehr wahr ist, in der alle Gewissheiten zweifelhaft geworden sind.
Doch es gibt auch, folgen wir Tucholsky, Hoffnung, das Alte geht nicht nur unwiderruflich unter, es zeigt sich auch das Neue: »Horcht hin, und ihr hört einen neuen Herzschlag der Zeit.«6 Doch was man da hörte, war nicht frei von Angst – »Angst vor dem Neuen, das keiner kennt«.7
Wie ein Refrain zieht sich eine Frage durch den Text: »Wohin führt das alles?« – »Wohin treiben wir?«8 Es gibt keinen, der lenkt, keinen, der steuert. Tucholsky beschreibt das Gefühl einer allgemeinen Bodenlosigkeit, es gibt nichts Festes mehr, alles wankt, droht nachzugeben, zu zerfallen, zu sinken. Es gibt keine Richtung, keine Orientierung. »Es dämmert, und wir wissen nicht, was das ist: eine Abenddämmerung oder eine Morgendämmerung.«9
Erkennen wir überhaupt etwas von der Zeit, wenn wir uns in ihrer Gegenwart befinden?, fragt sich Tucholsky: »Was wissen wir von der Zeit? Wir stehen davor wie der Wanderer vor der roten Felswand, viel zu nah, um ihre Struktur, geschweige denn ihre Schönheit zu sehen!«10
Stefan Zweig hingegen hat die Welt von 1920 als Zeit des Aufbruchs, des neuen Lebens, der Hoffnung und Befreiung, aber auch des Chaos, des Rausches und der Ekstase beschrieben. Anders als Tucholsky, dessen Essay 1920 entstanden ist, blickte Zweig allerdings aus großem zeitlichem Abstand auf die Ereignisse zurück. Seine Erinnerungen schrieb er um 1940, in den letzten Jahren seines Exils. Sie erschienen postum 1942 unter dem Titel Die Welt von Gestern.
Das Bemerkenswerteste an dieser Welt von 1920 ist für Zweig der Verfall, ja die Verachtung der Autoritäten. Sie hatten in den Augen der ›Jungen‹, der Neuerer – zumindest für den Moment – allen Kredit verspielt, was immer sie sagten, man glaubte ihnen nicht mehr und wollte vor allem eins, sich vom ›Alten‹ befreien. »Mit einem Ruck emanzipierte sich die Nachkriegsgeneration brutal von allem bisher Gültigen und wandte jedweder Tradition den Rücken zu, entschlossen, ihr Schicksal selbst in die Hand zu nehmen, weg von alten Vergangenheiten und mit einem Schwung in die Zukunft. Eine vollkommen neue Welt, eine ganz andere Ordnung sollte auf jedem Gebiet des Lebens mit ihr beginnen; und selbstverständlich begann alles mit wilden Übertreibungen.«11
Es war eine Phase, so Zweig, der antiautoritären Revolte. Und man revoltierte gegen alles, gegen die Polarität der Geschlechter und sexuellen Dispositionen, gegen die konventionelle Musik, gegen die tradierte Architektur und das Guckkastentheater. »Auf allen Gebieten begann eine Epoche wildesten Experimentierens, die alles Gewesene, Gewordene, Geleistete mit einem einzigen hitzigen Sprung überholen wollte.«12 Das alles geschah vor dem Hintergrund der beginnenden Inflation: »mit dem schwindenden Wert des Geldes« kamen auch »alle anderen Werte« ins Rutschen. »Eine Epoche begeisterter Ekstase und wüster Schwindelei, eine einmalige Mischung von Ungeduld und Fanatismus. Alles, was extravagant und unkontrollierbar war, erlebte goldene Zeiten: Theosophie, Okkultismus, Spiritismus, Somnambulismus, Anthroposophie, Handleserei, Graphologie, indische Yohjilehren und paracelsischer Mystizismus.«13
Aufrührerisch und subversiv seien die Jahre nach dem Krieg gewesen – wohin das Auge blickte, herrschte Tempo und Aufbruchsgeist. Von Normalität und Mäßigung keine Spur. Vieles, was da zum Vorschein kam, sei nicht seriös, sei Bluff und ohne jede Substanz gewesen. Zweig sieht ein wirres Nebeneinander von Ideen und Konzepten, eine aufgeregte Suche nach Sinn und Bedeutung. Das Neue, Wandel und Veränderung hätten Konjunktur gehabt, es sei eine Zeit der großen Kontraste, zugleich aber auch eine Zeit der allgemeinen Konfusion, in der es keine verlässlichen Strukturen mehr gab.
Über das kollektive Lebensgefühl der Kriegs- und Nachkriegszeit dachte 1920 auch Robert Musil nach. Er arbeitete in dieser Zeit im Archiv des Pressedienstes im Außenministerium, ab September 1920 im Staatsamt für Heereswesen. Dort befasste er sich mit der Aus- und Weiterbildung der Soldaten im nun republikanischen Heer. Musil war auf dem Sprung zum freien Schriftsteller. Das Jahr 1920 sollte zum Entrée werden: Im Frühjahr lernte er in Berlin Ernst Rowohlt kennen. Mitte des Jahres kam es zu einem Vertrag, der dem Autor auf Jahre ein Honorar sicherte, damit er seinen Roman, den Mann ohne Eigenschaften, schreiben konnte. Das Werk, das Epoche machen sollte, hieß damals noch »Der Spion«. Ein Jahr später trug es den Arbeitstitel »Der Erlöser«, dann »Die Zwillingsschwester«. Die Titel wechselten, auch die Namen der Protagonisten. Die Beweggründe aber, diesen Roman zu schreiben, änderten sich nicht. Musil suchte nach Erklärungen für den Zerfall der Monarchie, den Ausbruch des Krieges und den Zusammenbruch – er suchte Erklärungen nicht zuletzt auch für das eigene Versagen, seine Kriegsbegeisterung, sein Eintreten für das Deutschtum. Um diese Zeit hatte bei ihm ein Prozess des Aufarbeitens, des Reinemachens, des Suchens und Sortierens eingesetzt.
In dem 1922 erschienenen Essay »Das hilflose Europa« betrachtet Musil die Jahre unmittelbar nach dem Krieg und kommt gleich am Anfang zu einer bemerkenswerten Einschätzung, die von der Sichtweise Tucholskys und Zweigs, aber auch von der damals üblichen Betrachtungsweise völlig abweicht: Der Mensch habe sich durch den Krieg kaum verändert, er sei nicht viel anders als vorher auch: »wir waren früher betriebsame Bürger, sind dann Mörder, Totschläger, Diebe, Brandstifter und ähnliches geworden: und haben doch nichts erlebt«.14 Sicher, es gab Wandel und Veränderung, im Grunde aber doch nur einen Wechsel des Metiers, mit Sicherheit sieht Musil keine Regression, keinen Rückfall in die Barbarei – wie man den Sündenfall 1914 damals gesehen hat und auch heute noch sieht. So sehr anders, sagt Musil, ist der Mensch gar nicht. Er bleibt sich gleich, ob er nun in den Krieg zieht oder ins Büro geht. Die Jahre des Krieges hätten gezeigt, dass der Mensch »eine überraschend viel bildsamere Masse« sei, »als man gemeinhin annahm«.15 Insoweit könne man die Erfahrung des Krieges als ein ungeheures Massenexperiment betrachten, es hätte sich erwiesen, »daß der Mensch sich leicht zu den äußersten Extremen und wieder zurück bewegen kann, ohne sich im Wesen zu ändern. Er ändert sich, aber er ändert nicht sich.«16 Dafür sei die Welt um 1920 der beste Beweis: »Das Leben geht doch genau so dahin wie früher, bloß etwas geschwächter und mit etwas Krankenvorsicht; der Krieg wirkte mehr karnevalisch als dionysisch, und die Revolution hat sich parlamentarisiert.«17 Im Grunde habe sich wenig verändert, nur unruhiger sei es geworden, aufgeregte Debatten hätten sich entzündet, alles sei – scheinbar – in Bewegung geraten, alles werde ventiliert und zur Disposition gestellt. Was die »Unruhe« angeht, so würde Musil der Einschätzung Zweigs vom aufrührerischen Geist durchaus zustimmen, doch er sieht es gelassener, ja, man könnte sagen, sarkastischer: »Deutschland wimmelt von Sekten. Man blickt nach Rußland, nach Ostasien, nach...




