E-Book, Deutsch, 240 Seiten
Martini Nicht Anfang und nicht Ende
1. Auflage 2015
ISBN: 978-3-03855-018-1
Verlag: Limmat Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Roman einer Rückkehr
E-Book, Deutsch, 240 Seiten
ISBN: 978-3-03855-018-1
Verlag: Limmat Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Plinio Martini, geboren 1923 in Cavergno, wuchs als Sohn eines Bäckers mit sieben Brüdern in ärmlichen Verhältnissen auf. Nach seiner obligatorischen Schulzeit besuchte Martini das Lehrerseminar in Locarno und unterrichtete anschliessend in Cavergno und später in Cevio. Martini heiratete und wurde Vater von drei Kindern. In den 60er Jahren erkrankte er erstmals an einem Hirntumor, an welchem er nach jahrelangem Leiden 1979 im Alter von 56 Jahren erlag. Erste Erzählungen konnte Martini Anfang der 1950er Jahre im 'Giornale del popolo' veröffentlichen. 1951 und 1953 erschienen die Gedichtbände 'Paese così' und 'Diario forse d'amore'. 1970 folgte sein erster Roman 'Il fondo del sacco', der vier Jahre später in der deutschen Übersetzung unter dem Titel 'Nicht Anfang und nicht Ende' erschien. Sein zweiter Roman 'Requiem für Tante Domenica' erschien 1975 in deutscher Sprache. In seinem Werk hat Martini die klischierten Tessinbilder revidiert. Er gehört längst zu den Klassikern der Tessiner Literatur.
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Ich fahre nicht mehr nach Amerika zurück. Vielleicht werde ich sogar der Versuchung widerstehen, einen Sprung hinüberzumachen, um meine Freunde zu besuchen. Ich weiß jetzt schon, wie einem zumute ist, wenn man Menschen wiedersieht, die alt geworden sind, und Orte, die sich selber nicht mehr gleichen. Ich muss mich abfinden. Ich bin nur noch ein armer Mann, der ein Bündel Kummer mit sich herumschleppt. Mein jetziges Dasein ist wie ein Augustsonntag, an dem man zu Hause sitzt, während alle anderen ausgeflogen sind; und wenn ich so zum Fenster hinausschaue und die altgewohnten Dinge sehe, denke ich, wie schön es doch wäre, wenn man das Leben zurückdrehen könnte, wie den Kilometerzähler im Auto, und wieder auf null stellen: auf den Bahnhof an jenem Tag, als ich abreiste und Maddalena da war. Der Bahnhof war eine Zündholzschachtel, die man am Anfang der zwei Schmalspurgeleise in unserem Tal aufgestellt hatte, und ich verfluche noch heute das Bähnchen, das mich forttrug. Wenn ich noch einmal zurückkönnte – ich schwöre dir, ich würde mich auf meinen Koffer setzen und mich nicht von der Stelle rühren, wie ein Kalb, das sich stur weigert weiterzugehen, so dass einem nichts übrig bleibt, als es auf halbem Weg zum Stall draußen übernachten zu lassen. Aber das sind Überlegungen von heute. Damals war ich ein Junge, und weil ich die Fahrkarte in der Tasche hatte, dachte ich, ich müsse auch wegfahren.
Maddalena war mitten unter uns aufgewachsen, doch sie schien ein Wesen anderer Art zu sein. Wir – wir waren nicht einmal imstande, normal zu gehen; aber wenn sie daherkam, drehten sich die Leute auf der Straße nach ihr um und hörten mitten im Satz zu reden auf. Wenn sie lachte oder sich das Haar zurückstrich, hätte man meinen können, dass kein anderer Mensch jemals auf diese Art gelacht oder die Hand gehoben hätte. Ich bin einzig dieser Erinnerung wegen nach Cavergno zurückgekommen; und um sie mir aus dem Sinn zu schlagen, sollte ich mich vielleicht einmal richtig aussprechen, ganz von Anfang an schildern, wie schwer wir es dort hatten, ehe ich fortzog, unser ganzes damaliges Leben, das Vieh, das Heuen, die Alp, das Misten, die Kreuzschmerzen – und auch das Gute, denn gerechterweise muss ich sagen, dass es auch Gutes gab. Vielleicht wird es mir wohl tun, einmal gründlich auszupacken.
Maddalena war ein Jahr jünger als ich. In der Schule war sie die Einzige, die Schuhe aus dem Laden trug; wir anderen gingen in Stofflatschen oder Zoccoli oder auch barfuß, aber sie hatte hohe Schuhe mit Schnürsenkeln, die kreuzweise verschnürt und dann zugeknüpft wurden. Vielleicht begann ich sie dieser Schuhe wegen gern zu haben und auch weil der Hals, den sie über das Schulheft neigte, so zart war. Aus der Schulbank quetschte sie sich immer auf meiner Seite, um zu zeigen, dass sie mir gut sei, aber das hätte ich nicht kapiert, wenn die anderen es mir nicht gesagt hätten. Ich für mein Teil begnügte mich damit, tief Atem zu holen, wenn sie dicht an mir vorbeiging, weil sie so gut roch. Dann erfuhr ich eines Tages, dass man sie in die deutsche Schweiz, ins Pensionat geschickt hatte. Ich hörte auf der Straße zwei Leute darüber reden und ging ganz unschuldig weiter, aber als ich nach Hause kam, warf meine Mutter nur einen Blick auf mein Gesicht und steckte mich mit dem Thermometer unter der Achsel ins Bett. Im Lauf der nächsten Jahre sah ich Maddalena bloß zu Weihnachten in der Kirche, jedes Jahr aus weiterer Ferne. Allmählich hörte ich auf, an sie zu denken. Mein Herz war schließlich zur Ruhe gekommen.
Doch einmal, an einem schönen Märztag, als ich schon auf die Papiere für Amerika wartete, kehrte ich von Preda* nach Cavergno zurück, und da sah ich sie plötzlich in der Mittagssonne in der gleichen Richtung vor mir hergehen, so zögernd, als wartete sie auf jemanden. Ich schämte mich mit einem Mal meiner Ziehharmonikahosen. Ums Leben gern wäre ich ihr ausgewichen, aber um sie nicht einzuholen, hätte ich geradezu stehen bleiben müssen, so langsam schlenderte sie dahin, und außerdem hatte ich den Verdacht, sie hätte mich schon erblickt. So beschleunigte ich meinen Schritt mit einer Miene, als dächte ich an eine wichtige Angelegenheit.
«Ciao, Gori», sagte sie, als ich an ihr vorbeikam, so als wären wir erst gestern Abend auseinander gegangen; dabei waren es fünf Jahre her, dass wir nicht miteinander gesprochen hatten.
«Ciao», sagte ich und wollte schon weiter.
«Ich höre, dass du nach Amerika willst», sagte sie, und ich musste höflicherweise stehen bleiben. «Man merkt, dass dir wenig an den Leuten liegt, die dich gern haben», fügte sie hinzu, und ich spürte, dass sie meinen Blick suchte, aber ich hielt die Augen auf den Fluss gerichtet. Ich antwortete über die Schulter hinweg:
«Offen gesagt, ich habe nie gedacht, dass jemand sich für mich interessiert.»
«Vielleicht hast du dich nicht richtig umgeschaut», erwiderte sie, und ich Esel stand mit gesenktem Kopf da und betrachtete angelegentlich den Fluss und die Wiesen am anderen Ufer. Wir waren allein, sie hatte auf mich gewartet, ich konnte doch nicht den Raubeinigen spielen und sie einfach stehen lassen. Sie sagte leise:
«Erinnerst du dich noch an den Zettel, den du mir in der Schule gegeben hast?»
Und ob ich mich erinnerte! Ich hatte ein schönes, von einem Pfeil durchbohrtes Herz mit unseren beiden Namen gemalt, und darüber züngelten rote Flammen. Die Idee, ihr diesen Liebesbrief zuzuschieben, stammte von Natale, der hoffte, dass ich dafür Prügel kriegen würde, aber sie zeigte ihn nicht dem Lehrer, wie es die anderen zimperlichen Dinger zu tun pflegten, sondern steckte ihn unter die Schürze, in den Ausschnitt ihres Pullovers. Dann wandte sie sich um und sah mich an. Doch inzwischen war die Zeit vergangen.
«Ich habe ihn noch immer», fuhr sie fort. «Im Pensionat hatte ich ihn in mein Gebetbuch gesteckt, und dort liegt er noch.»
Ja, das Pensionat, die Villa mit dem Garten, die goldene Uhrkette auf der Weste ihres Vaters … Heute ist das Haus der Lopetro ein Haus wie alle anderen, doch damals schien es uns eine richtige Villa zu sein, vor allem wegen des Gartens, in dem Narzissen und Dahlien und je nach der Jahreszeit andere feine Blumen blühten. Für uns war es schon viel, wenn unsere Mütter in einem Winkel des Feldes Platz für vier Chrysanthemen fanden, die man dann zu Allerseelen auf den Friedhof trug. Nein, ich durfte mir keine Illusionen machen, sie stand viel zu hoch über mir – und jetzt lag auch noch Amerika dazwischen. Ich sagte:
«Den Zettel wirf nur weg.»
«Warum denn, Gori?»
Sie wartete mit ernstem Gesicht auf eine Antwort, und ich wagte es, ihr einen Augenblick lang in die Augen zu sehen – nach so vielen Jahren.
«Maddalena», sagte ich mühsam, «wir sind keine Kinder mehr – und ich … Du weißt, dass ich nach Amerika muss, mir mein Brot verdienen.»
«Mir scheint, du gehst nicht sehr gern hinüber», sagte sie.
Wir wanderten unwillkürlich weiter. Mir war unbehaglich zumute, ich schwitzte, um ein Haar hätte ich zu heulen begonnen. Zum Glück näherten wir uns Schritt für Schritt der Biegung, wo man uns vom Dorf aus sehen konnte, und das hätte die Situation geändert. Doch sie blieb stehen und redete gleichgültiges Zeug, um die Zeit in die Länge zu ziehen. Sie sprach vom Wetter und fragte, ob wir die Ziegen schon nach Roseto gebracht hätten. Dann schwiegen wir still, und ich stand wie ein richtiger Tölpel mit hängendem Kopf da und ließ mich anschauen – mein graues Zeug, ihr leichtes Baumwollkleid.
«Wie du dich verändert hast», sagte sie traurig und fügte hinzu: «Aber du bist ein sehr hübscher Bursche, weißt du das?»
Da wandte ich mich wütend ab, denn ich dachte, sie wolle mich auslachen. Aber ich sah, dass sie ein wenig rot geworden war, sie war wunderschön, und ich kannte mich überhaupt nicht mehr aus. Hinter mir stand ein großer Kirschbaum mit dickem, glattem Stamm. Heute ist er abgehauen, doch der Stumpf steht noch dort, und du kannst dir denken, dass ich ihn jedes Mal ansehe, wenn ich vorbeikomme. An jenem Tag sah ihn auch Maddalena an und sagte:
«Es wäre schön, wenn du wieder ein Herz für mich zeichnen könntest. Gleich hier in die Rinde.»
Das hatte ich wahrhaftig nicht erwartet. Ich stand wie ein Stock da und starrte auf den Kirschbaum, so verwirrt, dass ich gar nicht merkte, wie sie davonschlüpfte. Dann begann ich ebenfalls zu laufen, mitten durch die Wiesen, die noch vom letzten Schnee nass waren. Jetzt war es die wichtigste Sache der Welt, noch einmal mit ihr zu reden, und so rannten wir, sie voraus und ich hinterdrein, wie zwei Kinder, die Fangen spielen. Ich sehe sie noch, wie sie sich lachend nach mir umdrehte. An ihrem Gartentor holte ich sie ein.
«Ich habe die Geschichte mit dem Kirschbaum nicht recht verstanden …», sagte ich, ganz außer Atem, während ich das Türchen festhielt, das sie – ohne besondere Eile – zu schließen suchte.
«Dann hat es keinen Zweck, dass ich sie dir erkläre», antwortete sie und lief wieder davon, aber an der Haustür wandte sie sich um und lachte mir zum Abschied zu. Die Tür schloss sich hinter ihr, und ich ging auf einem weiten Umweg durch die Felder nach Hause – von Kopf bis Fuß ein Esel.
Doch im Dorf gab es keine Arbeit, die wirklich Arbeit war, außer im Winter Mist zu tragen für Frauen, die es nicht mehr schafften. Dafür zahlten sie uns einen Franken fünfzig im Tag – zu viel für sie selber und zu wenig für uns. Die Kräftigsten brachten es manchmal auf zwei Franken, wie zum Beispiel ich, der mit achtzehn Jahren einen Meter achtzig lang und entsprechend schwer war. So...