Martin | Untrue | E-Book | sack.de
E-Book

E-Book, Deutsch, 432 Seiten

Martin Untrue

Warum fast alles, was wir über weibliche Untreue zu wissen glauben, unwahr ist
19001. Auflage 2019
ISBN: 978-3-8270-7997-8
Verlag: Berlin Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark

Warum fast alles, was wir über weibliche Untreue zu wissen glauben, unwahr ist

E-Book, Deutsch, 432 Seiten

ISBN: 978-3-8270-7997-8
Verlag: Berlin Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark



"Ich will Sex die ganze Nacht – nur nicht mit meinem Mann."Von der antiken Tragödie bis hin zu Netflix-Serien und Popsongs - Frauen, die untreu sind, werden diffamiert. In dieser Kulturgeschichte des Seitensprungs geht Wednesday Martin jahrhundertealten Vorurteilen auf den Grund.Auf unterhaltsame Weise verbindet sie Sozialwissenschaften mit Interviews mit Sexualwissenschaftlern, Anthropologen und Frauen aus allen Lebensbereichen. Jüngste Untersuchungen deuten darauf hin, dass Frauen mehr Probleme mit sexueller Exklusivität haben als Männer. Martin gelangt zu der Auffassung, dass die sexuelle Autonomie von Frauen das ultimative Maß der Geschlechtergerechtigkeit ist. Eine zeitgemäße Darstellung weiblicher Untreue, die alles auf den Kopf stellt, was wir über Frauen und Sex zu wissen meinen.
Martin Untrue jetzt bestellen!

Weitere Infos & Material


Erstes Kapitel


Entfessle deinen Geist

Was zieht man bloß an zu einem ganztägigen Workshop zur einvernehmlichen Nichtmonogamie?

Es war ein typisch freudloser Vorfrühlingsmorgen in Manhattan, verregneter und kälter als erhofft. Der Kurs, an dem ich teilnahm, war eigentlich auf Psychotherapeuten zugeschnitten, aber gegen einen Obolus von 190 Dollar waren auch neugierige Autorinnen und Durchschnittsbürgerinnen wie ich willkommen.

Vielleicht machte ich mir auch zu viele Gedanken, als ich so vor meinem überquellenden Kleiderschrank stand und die Möglichkeiten durchspielte. Doch dieses dringende Bedürfnis, nicht nur etwas Angemessenes zu tragen, sondern sich auch angemessen und zugleich ein klein wenig rebellisch zu geben, erinnerte mich an den ständigen Tauschhandel mit uns selbst, in den wir uns stürzen, wenn es um Monogamie geht.

Ich starrte auf all die Blusen, Hosen und Kleider und dachte an unsere großen und kleinen Zugeständnisse und an den gewaltigsten Handel überhaupt: den, bei dem wir die totale, schwindelerregende sexuelle Autonomie und Selbstbestimmtheit gegen die Sicherheit der Zweisamkeit eintauschen. Dieses Mysterium – ich muss jenen Teil von mir auslöschen, der sich nach einem ganzen Universum aus anderen verzehrt, und erkaufe mir damit das Vermögen, Kinder aufzuziehen, zu arbeiten und die Nacht durchzuschlafen, ohne mich mit der Frage herumzuquälen, was du, mein ein und einziger Anderer, wohl gerade so treibst, wenn wir nicht beisammen sind – ist das schlagende, klagende Herz von Freuds Das Unbehagen in der Kultur und noch vielem anderen, was über das Eingehen der lebenslangen Paarbindung geschrieben worden ist.[21] Die Libido muss aufgegeben oder bezähmt werden, um der Stabilität willen. Irgendwie unterstellen wir, dieser Akt sei gewissermaßen ein entwicklungsgemäßer Imperativ, das Gütesiegel der Reife und Gesundheit, und dass er überdies Frauen leichterfalle, dass er ihrer »Natur« entgegenkomme.

War dieser Kompromiss, samt seinen stillschweigenden Annahmen über Geschlecht und Begehren, auf irgendeine Weise vermeidbar? Heute würde ich vielleicht etwas Neues lernen, von Menschen, die versucht haben, ihn zu umschiffen. Ich hatte sie schon regelrecht vor Augen, die wissent- und willentlich Nichtmonogamen und ihre Helfer vor Ort – Ninjas in scharfen schwarzen Jumpsuits und Aviator-Sonnenbrillen, verstohlen, geschult in Selbstverteidigung und von außerordentlicher körperlicher Geschmeidigkeit.

Ich entschied mich schließlich für eine geblümte Bluse, einen roten Mantel und schwarze Jeans. In letzter Minute schminkte ich mir noch die Lippen knallrot, weil es Freitag war und ich zu einem Workshop über einvernehmliche Nichtmonogamie ging, auch wenn ich den Begriff jedes Mal, wenn ich jemandem davon erzählte, zu einem Workshop für »nicht einvernehmliche Monogamie« verballhornte.

»Das lässt tief blicken«, hatte eine befreundete Psychoanalytikerin gescherzt, als ich mir beim Plaudern wieder meinen Wortverdreher geleistet hatte. Sie hätte sich gern selbst angemeldet, aber zu viel zu tun. »Bitte bring mir einen Haufen anonymer Begegnungen mit!«, schrieb mir am bewussten Morgen eine andere Seelenklempnerfreundin, die es aus dem gleichen Grund nicht geschafft hatte, augenzwinkernd Psychiater, die Swingern helfen, mit Swingern gleichsetzend. Und mit Sexsüchtigen. »Der arme Joel«, neckte mich mein Agent voll falschen Mitleids mit meinem Gatten, als ich von meinem Tageseinsatzplan berichtete. Im Lauf der vielen Monate und Gespräche wurde mir eines sehr klar: Untreue, Promiskuität, Nichtmonogamie oder mit welchem Etikett man die Verweigerungspraxis sexueller Exklusivität auch bekleben will – das Thema fasziniert und verstört die Menschen ziemlich quer durch die Bank.

Und aufgrund meines vielen Nachhakens und Nachbohrens und des Lesens und der Interviews und einfach meines Daseins als Frau wusste ich, dass das Schreckgespenst der untreuen Frau noch immer gesträubte Nackenhaare, erhöhten Blutdruck und Wutausbrüche auslöst, gesellschaftsübergreifend. Für Sozialkonservative gilt weibliche Untreue – das Ergreifen dessen, was als männliches Privileg betrachtet wird, also im Sexuellen das zu tun, was man will – als Symptom allgemeiner Verderbnis und Bedrohung des Sozialgefüges. (»Madame! Was sind Sie doch für eine dekadente, erbärmliche Frau. Kein Wunder, dass das Abendland untergeht – schauen Sie doch einfach mal in den Spiegel«, mailte mir eine selbst ernannte »traditionalistische Medienpersönlichkeit«, nachdem ich einen Artikel über weibliche Sexualität veröffentlicht hatte.)

Unter Progressiven, besonders unter jenen, die sich als »sex-positiv« bezeichnen, mag weibliche sexuelle Selbstbestimmtheit toleriert werden, vielleicht sogar gepriesen. Doch auch in ihrer Welt dürfte eine Frau, die eine Affäre hat, mit einem wesentlich kritischeren Adjektiv bedacht werden als »selbstbestimmt«. (An der Echokammer der wahnhaften Hillary-Hasser aus dem Lager der Sanders- wie auch der Trump-Unterstützer konnte man beobachten, wie die Vorstellung weiblicher Autonomie den Geifer der Linken genauso entfesseln kann wie den der Rechten.) Viele Verfechter »offengelegter« Nichtmonogamie wiederum halten Transparenz für vorzugswürdig, dagegen Untreue sowohl von männlicher als auch von weiblicher Seite für unethisch. Aber bei den über lange Zeiträume abgelagerten Schichten aus Historie und Ideologie ist es schwer, einen Raum auszumachen, wo über der heimlich untreuen Frau keine Wolke der Düsternis schwebt, so aufgeklärt die Umstände ansonsten auch erscheinen mögen. Jeder und jede, so stellte ich fest, hatte offenbar eine Meinung über die Frau, die sich der sexuellen Exklusivität verweigert, ob sie es nun geradeheraus tut oder im Verborgenen.

Auf Cocktailpartys über mein Forschungsgebiet zu sprechen konnte den Peinlichkeitsfaktor merklich erhöhen. Etliche Menschen wollten gern mit mir über weibliche Untreue reden, hatten dazu selbst Fragen an mich. Aber nicht weniger häufig erwies sich der Stoff als Gesprächskiller. Nach ein paar unbehaglichen Konversationsverläufen zog ich es vor zu erzählen, ich schriebe ein Buch über »weibliche Autonomie«. Es schien nur rücksichtsvoll, ein unbequemes Faktum hinter einer Halbwahrheit zu verstecken, um jene zu schonen, die nicht wirklich Lust auf das Thema hatten. Oder um ihrem Zorn, ihrer Missbilligung zu entgehen, die mich mittraf, wenn ich das »U«-Wort in den Mund nahm. »Das haben schon einige von uns abgekriegt«, hörte ich mehr als einen Mann knurren, als müsste mir das Grund genug sein, doch lieber über Squaredance zu schreiben. Ein Kollege, mit dem ich offen über meine Arbeit sprechen konnte und auf dessen Meinung ich etwas gab, blickte mich über seinen Schreibtisch hinweg an und erklärte: »Ein Psychiater, den ich kenne, sagt, Frauen, die fremdgehen, sind alle nicht richtig im Kopf.«

Bei einer Essenseinladung fragte ich einen Paartherapeuten, der bis zu diesem Augenblick wirklich reizend gewirkt hatte, nach seiner Fachmeinung zum Gegenstand Nichtmonogamie. »Solche Menschen sind einfach … nicht recht gesund!«, haspelte er. Die Anwesenden – allesamt belesene, bedachte, überlegte und umsichtige Leute – stimmten ein, sprachen von »Krankheit« und »Instabilität«. »Sein Gebiet sind die Gesunden, und Ihr Thema sind Ungesunde«, sagte eine Frau liebenswürdig, als verstehe sich das von selbst. Und das waren alles noch nette Menschen. Sprach ich mit Freundinnen und Bekannten über meine Arbeit, äußerte ich oft versuchsweise die Thesen, verpflichtende Monogamie sei ein feministisches Problem und ohne weibliche sexuelle Autonomie sei die ganze weibliche Autonomie in Wahrheit gar keine. Damit konnte ich die volle Bandbreite von Reaktionen ernten, von begeisterter Zustimmung über völlige Verwirrung – was hatten Monogamie und Untreue mit Feminismus zu tun? – bis hin zur Verdammung fremdgehender Frauen als »gestört«, »egoistisch«, »nuttig« und, mein Favorit, »Rabenmütter«. Und das aus dem Munde von Frauen, die sich selbst als Feministinnen bezeichneten.

Doch die weitaus häufigsten Antworten waren Gegenfragen: »Warum interessierst gerade du dich für so etwas?« Und: »Was sagt dein Mann denn dazu?« Der Ton rangierte zwischen ostentativer Neugier und Anklage, und was damit eigentlich gemeint war, war klar: Meine Recherchen zur Untreue machten auch mich, zuallermindest mittelbar, zur Schlampe.

Doch ich hatte den Eindruck, dass die Leute beim Workshop hier etwas anders waren.

Die »Arbeit mit nichtmonogamen Paaren« fand in einem gesichtslosen Familienhilfezentrum im Nirgendwo zwischen Midtown West und Chelsea statt. (Später erfuhr ich, dass die Gegend einst zum sogenannten Tenderloin[22] gezählt hatte, im späten 19. und frühen 20. Jahrhundert das Vergnügungs- und Rotlichtviertel Manhattans, und dass sich just in dieser Straße einmal ein Bordell ans andere gereiht hatte.[23] Unter Sozialreformern hatte die Ecke »Zirkus Satans« und »modernes Gomorrha« geheißen.[24])

Das Gebäude befand sich in der Nähe eines Sushi-Restaurants und eines Handtaschengroßhändlers. Nachdem ich schon im Vorjahr am selben Ort eine Veranstaltung dieser Reihe besucht hatte (»Sex Therapy in the City«), wusste ich bereits, dass ich von Therapeuten umringt sein würde, die sich die Teilnahme für ihr Zertifikat anrechnen lassen wollten und sich von Kapazitäten ihres Gebiets die besten Herangehensweisen an Probleme vermitteln ließen, die ihnen im Arbeitsalltag wahrscheinlich begegnen würden. Ich brachte auch ein wenig Vorwissen über einvernehmliche Nichtmonogamie mit: Ich wusste, dass sie für Leute war,...


Martin, Wednesday
Wednesday Martin ist Anthropologin und Sozialforscherin, studierte in Yale und lehrte an der New School for Social Research in New York. Sie ist verheiratet, hat zwei leibliche und zwei Stiefkinder und lebt mit ihrer Familie in New York City. Als Journalistin und Autorin schreibt sie vor allem über Themen wie Familie, Gender und Popkultur. Ihre Beiträge erscheinen u. a. in The New York Times, The Daily Telegraph und Psychology Today.

Frey, Nina
Nina Frey studierte Anglistik und Germanistik, arbeitete im Kunsthandel in Hamburg, London und Berlin und lebt als Übersetzerin in Wien. Sie übersetzte u. a. Wednesday Martin und Jessica Lee.



Ihre Fragen, Wünsche oder Anmerkungen
Vorname*
Nachname*
Ihre E-Mail-Adresse*
Kundennr.
Ihre Nachricht*
Lediglich mit * gekennzeichnete Felder sind Pflichtfelder.
Wenn Sie die im Kontaktformular eingegebenen Daten durch Klick auf den nachfolgenden Button übersenden, erklären Sie sich damit einverstanden, dass wir Ihr Angaben für die Beantwortung Ihrer Anfrage verwenden. Selbstverständlich werden Ihre Daten vertraulich behandelt und nicht an Dritte weitergegeben. Sie können der Verwendung Ihrer Daten jederzeit widersprechen. Das Datenhandling bei Sack Fachmedien erklären wir Ihnen in unserer Datenschutzerklärung.