E-Book, Deutsch, 400 Seiten
Martin The Island - Auf der Flucht
2. Auflage 2025
ISBN: 978-3-608-12391-3
Verlag: Klett-Cotta
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Thriller
E-Book, Deutsch, 400 Seiten
ISBN: 978-3-608-12391-3
Verlag: Klett-Cotta
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Nicola Martin studierte an der University of East Anglia und an der University of California, Berkeley. Sie lebt in Bristol, wo sie als Marketingmanagerin und freiberufliche Schriftstellerin arbeitet. Ihr erster Roman, Dead Ringer, erschienen bei Saraband, gewann den Fiction Prize bei den Lakeland Book of the Year Awards 2021.
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1
Bei der Überfahrt auf die Insel stieß ich mit den Knien gegen Champagnerkisten und Kühlboxen mit schwarzen Trüffeln. Eine Importlieferung wie jede andere.
Ich hatte drei Flüge und zwei Fähren gebraucht, um diese abgelegene Karibikinsel zu erreichen. Während der zweiunddreißigstündigen Reise hatte ich kein Auge zugetan, aber mittlerweile hatte sich meine Erschöpfung in eine nervöse Wachsamkeit verwandelt. Ich lehnte am Bug und versuchte die ersten Details meines neuen Zuhauses auszumachen. Dabei musste ich gegen die frühe Morgensonne anblinzeln, die von dem wolkenlosen Himmel strahlte.
Keeper Island war ein Smaragd, der aus dieser Entfernung so klein war, dass er in meine Hand zu passen schien. In der Mitte der Insel ragte ein grün bewaldeter Gipfel auf. Beim Näherkommen erblickte ich einen Sandstrand, Palmen winkten mir zu.
Dies würde mein sicherer Hafen sein. Mein Zufluchtsort.
Gedankenverloren berührte ich meinen Wangenknochen, schaute dann auf meine Fingernägel. Immer wieder musste ich sie kontrollieren, stellte mir vor, es befände sich Blut darunter. Nein. Sie waren sauber. Alles war in Ordnung.
Wir näherten uns einem langen Holzsteg, aber der Steuermann machte keine Anstalten, das Tempo zu drosseln. Er erzählte lebhaft irgendeine Anekdote (»… und sie sagte, du bist verdammt ungehobelt, du bist krank, Mann!«). Die anderen drei Passagiere waren muskulöse Männer, und vermutlich allesamt Jungferninsulaner. Sie waren höflich gewesen, als sie mir an Bord geholfen hatten, aber ihr Gesichtsausdruck hatte etwas Verhaltenes.
Meine Hände klammerten sich an die salzig-klebrige Brüstung. Der Pier schien auf uns zuzurasen. Der Skipper legte den Rückwärtsgang ein und das Heckwasser rauschte. Während meine Begleiter entspannt die Balance hielten, stolperte ich gegen die Reling. Einer von ihnen stieß ein paar Fender vom Boot, und wir prallten gegen die Seite des Piers.
Sobald das Motorboot festgemacht war, begannen die Männer mit dem Abladen der Waren. Sie hoben meinen überfüllten lilafarbenen Koffer heraus und rollten ihn zusammen mit dem Brie und dem Blauflossenthunfisch zu einer Reihe wartender Golfwagen. »Ist schon gut, das ist nicht nötig«, rief ich ihnen hinterher, aber der Koffer war schon weg.
Der Skipper reichte mir die Hand, um mir vom Boot zu helfen. Er hatte federndes Haar und verschlafene Augen.
»Danke.« Ich kletterte an Land. »Wissen Sie, wo ich Moxham finden kann?«
Mike Moxham. Mein neuer Chef. Der Grund, warum ich hier war – in mehr als einer Hinsicht.
»Er ist hier irgendwo.« Der Steuermann hievte eine Kiste vom Boden und joggte dann seinen Begleitern hinterher.
Reflexartig wollte ich auch mithelfen, aber von den Vorräten stand nichts mehr auf dem Pier. Auch die Männer waren verschwunden, Gott weiß wohin. Ich war allein. Als ich mich zu der Nachbarinsel umschaute, war ich überrascht, wie weit entfernt sie schien. Ein Rumpeln und Platschen draußen auf dem Wasser erregte meine Aufmerksamkeit. Fünfzig Meter vom Ufer entfernt hüpften zwei rote Jetskis über die Wellen. Es sah nach Spaß aus. Bestimmt erfrischend, an einem so heißen Tag wie heute.
Der Jetlag machte sich bemerkbar. Ich brauchte eine Dusche, eine Mahlzeit, ein Bett, eine Gehirntransplantation. Ich hoffte, diese Insel würde wenigstens ein Käsesandwich für mich in petto haben. Ich schlurfte über die abgenutzten Holzbretter des Piers ins Landesinnere zu einem gepflasterten Weg, der von Palmen und stacheligem grünem Laub gesäumt war.
»Hallo, hallo!«, ertönte eine Stimme.
Ein weiterer Golfwagen war eingetroffen. Eine schlanke Frau in einem rosa geblümten Maxikleid, glamourös und doch dezent, glitt aus dem Gefährt und schwebte zu mir herüber. Ich war todmüde, schenkte ihr aber mein engagiertestes Service-Lächeln. Sie schien direkt der Keeper-Island-Broschüre entstiegen zu sein, ihr langes schwarzes Haar fiel an ihr hinab wie Seide, und ihre Lippen waren korallenrot. Vermutlich war sie eine von denen, die Tausende von Dollar pro Nacht bezahlten, um sich auf dieser Privatinsel verwöhnen zu lassen.
»Du bist Lola«, sagte sie.
»Ähm, das sagt man mir nach, ja.«
»Ich bin Fizzy.« Sie gab mir kraftlos die Hand, fast so, als wollte sie mich nicht berühren. »Ich bringe dich zu deiner Unterkunft.«
Sie war also gar kein Gast. Bei genauerem Hinsehen entdeckte ich ein Funkgerät an ihrem Gürtel, zusammen mit einem dicken Schlüsselbund. Aus dem Funkgerät ertönten entfernte Stimmen, die Lautstärke war niedrig eingestellt.
»Ich hatte Moxham erwartet?«, sagte ich.
»Der ist total beschäftigt, so wie immer.«
Sie öffnete eine Kühlbox hinten auf dem Golfbuggy und reichte mir ein zusammengerolltes Handtuch. Es war eiskalt und roch nach Eukalyptus. Dankbar fuhr ich mir damit übers Gesicht, rieb mir den Schweiß ab, und bereute es sofort, als mein Daumen meinen Wangenknochen berührte. Der Concealer, den ich vor einer Stunde aufgetragen hatte, war jetzt vermutlich weg und alle Welt konnte den blauen Fleck darunter sehen.
Als Fizzys Blick über mein Gesicht huschte, versuchte ich sie mit einem Lächeln abzulenken. »Danke.«
»Weißt du, das ist eine ziemliche Überraschung.« Sie hatte den unbestimmbaren Akzent einer Jetsetterin, mit eingestreuten Vokalen, die amerikanisch klangen. Manchmal klang auch mein Akzent ganz ähnlich, aber meistens konnte man meine Heimat London immer noch heraushören.
»Moxham hat mir erst vor einer Stunde gesagt, dass du kommst«, sagte sie. »Ich wusste gar nicht, dass wir eine stellvertretende Managerin brauchen.«
Ich versuchte, nicht zusammenzuzucken. »War wahrscheinlich eine kurzfristige Entscheidung.« Ich fühlte mich matt, und das lag nicht nur am Jetlag.
»Mox, ich hab’ eine Scheißangst.«
»Showgirl …«
Vor zwei Nächten hatte ich zusammengekauert auf dem Badezimmerboden gelegen, das Telefon am Ohr, und um Hilfe gefleht.
»Du musst das in Ordnung bringen, Mox. Du bist doch ein verdammter Problemlöser, also lös das Problem.«
»Wie wäre es mit einem neuen Job? Einem Neuanfang.«
»Wo?«
»Im Paradies.«
Draußen auf dem Wasser war wieder ein aufheulender Motor zu hören. Die Jetskis waren zurück, diesmal näher am Ufer.
»In unser aller Namen heiße ich dich herzlich willkommen.« Es klang nicht ehrlich. Fizzy wirkte, als hätte sie so oft eine aufgesetzte Stimme benutzt, dass sie die Fähigkeit verloren hatte, normal zu sprechen. Das brachte das Hotelgewerbe mit sich.
»Danke«, sagte ich noch einmal, aber mein Blick war auf die Jetski-Fahrer geheftet. Zwei Männer, beide mit freiem Oberkörper. Einer war dunkelhaarig, einer rothaarig. Sie machten Kunststücke. Der eine fuhr eine scharfe Linkskurve, dann nach rechts, wie ein Cowboy auf einem bockenden Wildpferd. Der andere Mann lehnte sich nach hinten und zog die Nase des Jetskis hoch, sodass eine weiße Wasserfontäne vom Heck aufstieß wie von einem Raketenschiff.
Eine Sekunde lang war der Anblick beeindruckend. Dann wurde es verhängnisvoll. Der Jetski verwandelte sich in ein Feuerrad aus Wasser, geriet außer Kontrolle, und der dunkelhaarige Mann wurde von seinem Ross geschleudert und schlug mit einem Platschen im Wasser auf.
»Oh, mein Gott!«
Der Motor ging aus, aber der Jetski drehte sich weiter. Der Mann war immer noch nicht wieder aufgetaucht.
»Scheiße, geht es denen gut?« Instinktiv machte ich einen Schritt auf das Ufer zu. Erst jetzt bemerkte ich, dass keiner der Männer eine Rettungsweste trug.
In der letzten Woche hatte es zu viel Tod gegeben, ich konnte nicht noch mehr davon ertragen.
»Die machen doch nur Spaß.« Fizzy schaute nicht mal hin, sie war damit beschäftigt, mein zusammengeknülltes Handtuch zu verstauen.
Ein mir nur allzu vertrautes Hyänenlachen wehte über das Wasser zu mir. Dieses Lachen hätte ich überall erkannt. Moxham. Er war aufgetaucht und schwamm entspannt eine Runde um seinen Jetski, der auf der Seite im Wasser lag.
Ich presste die Lippen zusammen und atmete scharf durch die Nase aus. Natürlich ging es ihm gut. Er sollte nicht wissen, dass er mir einen Schrecken eingejagt hatte, also winkte ich, aber entweder sah er mich nicht oder er ignorierte mich. Sekunden später war Moxham wieder auf den Jetski geklettert, und er und der andere Mann fuhren aus meinem Sichtfeld.
»Du und Moxham kennt euch?«, fragte Fizzy.
»Wir haben früher zusammengearbeitet. Bis er hierhergekommen ist, um das Resort hier zu leiten.«
»Dann weißt du vermutlich schon alles über Keeper Island?«
»Ein wenig.«
Wer würde sich diesen Namen nicht merken, auch wenn die wenigsten ihn auf einer Karte hätten finden können?
Die Privatinsel, Teil der Britischen Jungferninseln, gehörte dem Milliardär Kip Clement, der hier seit den Neunzigern lebte. In meiner Kindheit und Jugend hatten Fotos von ihm und seiner Frau ganze Magazinseiten gefüllt. Unser luxuriöses Leben in den Tropen.
Als jemand, der im Hotelgewerbe zu Geld gekommen war, hatte Kip natürlich nicht widerstehen können, sein Zuhause in ein exklusives Resort zu verwandeln – eine Insel, auf der zu jeder Zeit eine Handvoll Gäste lebte sowie das Personal, das sich um jeden ihrer Wünsche kümmerte.
»Ich bin Kips Assistentin«, sagte Fizzy in einem Tonfall, der normalerweise für Ich bin mit der Königsfamilie verwandt reserviert war. »Ist gar nicht so leicht, wie es aussieht, einen so großen Mann wie ihn zu bändigen.«
»Ich wette, du weißt, wo seine Leichen vergraben...