E-Book, Deutsch, 208 Seiten
Martin Das geheime Leben der Tiere (Dschungel) - Verloren im Urwald
1. Auflage 2024
ISBN: 978-3-7320-2300-4
Verlag: Loewe Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Erlebe die Tierwelt und die Geheimnisse des Dschungels wie noch nie zuvor - Kinderbuch ab 8 Jahren
E-Book, Deutsch, 208 Seiten
Reihe: Das geheime Leben der Tiere - Dschungel
ISBN: 978-3-7320-2300-4
Verlag: Loewe Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Peer Martin wurde in Hannover geboren und ging im Anschluss an sein Studium als Sozialarbeiter nach Berlin. Dort lernte er seine Frau Catherine aus Kanada kennen, die dort studierte. Peer arbeitete in zahlreichen Projekten mit Jugendlichen in Berlin und an der Ostsee. 2013 zog er mit Catherine nach Kanada, wo es eine Menge Wälder gibt, die eigentlich auch Urwälder sind. Er lebt in Québec, hat drei Kinder und durchstreift gern mit ihnen und seiner betagten Hundedame Lola die Natur. Sein erster Roman, Sommer unter Schwarzen Flügeln, wurde mit dem Deutschen Jugendliteraturpreis 2016 ausgezeichnet. Beim Schreiben für jüngere Kinder hilft ihm seine wunderbare Tochter Hannah-Marie.
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„Du musst dich auf die Hinterbeine stellen und die Stängel mit den Vorderhufen knicken, so“, sagte er. „Am besten spreizt du alle vier Zehen. Dann bekommst du sie besser zu greifen.“
„Aha“, sagte sie. „Und wenn ich einfach einen gaaanz langen Hals mache? Dann komme ich auch an die Maiskolben.“
„Capybaras haben keine langen Hälse.“ Er kickte einen Maiskolben in ihre Richtung. Sie knabberte die Hülle ab und biss mit ihren schönen, scharfen Nagezähnen in das gelbe Fleisch. Es war sehr lecker.
Seit einer Weile kamen die beiden jeden Tag her. Das Feld war riesig. Die Menschen hatten es gepflanzt. Aber ganz bestimmt hatten sie nichts dagegen, wenn man sich ein bisschen Mais nahm? Sie brauchte Futter. Sie musste ihre Jungen säugen. Vor einer Woche hatte sie sie zur Welt gebracht und nun warteten sie in einem Gebüsch unten am Flussufer: vier wunderschöne, flauschige, hellbraune kleine Capybaras mit großen Knopfaugen und niedlichen runden Ohren. Sie war sehr stolz. Früher hatte sie sich Capy genannt, aber jetzt war sie Capymadre und sie liebte diesen Namen. Sie liebte den Namen und sie liebte Bara, den Vater der Jungen, der mit ihr Mais fraß. Und sie liebte ihr Leben, hier zwischen den Feldern und Weiden der Menschen. Sie war jung, erst zweimal hatte sie den Wechsel der Regen- und Trockenzeiten gesehen, und hier würde sie alt werden: Sie würde Mais und Gras fressen und im Fluss baden und Junge bekommen und im Schatten dösen und freundlich zu den anderen Tieren sein. Wie Capybaras es sind.
Nur vor den Raubvögeln musste man sich in Acht nehmen. Wenn die auftauchten, hüpfte man besser ins Wasser und hielt nur Nase, Augen und Ohren über der Oberfläche. Und wenn Krokodile oder Schlangen im Fluss auftauchten, hüpfte man aus dem Wasser und kroch in einen der blühenden Büsche am Ufer. Manchmal bekam man rosa Blütenblätter in die Nase, dann nieste man eben und die Blütenblätter hüpften wieder aus der Nase.
Alles war einfach und schön.
Nur dass der Fluss in letzter Zeit manchmal komisch schmeckte.
„Hier, nimm noch einen Maiskolben“, sagte Bara.
Da knallte auf einmal etwas. So laut, dass Capymadre die kleinen runden Ohren vor Schreck eng an den Kopf legte.
Ein Schwarm grüner Papageien stob aus den Bäumen beim Farmhaus auf.
„Was … Was war das?“, flüsterte Capymadre mit zitternden Schnurrhaaren.
Noch ein Knall.
Und jetzt waren da Stimmen, die Stimmen der Menschen von der Farm, wütend. Und raschelnde Schritte im Mais. Dann hörte Capymadre, was sie sagten. Sie hatte gelernt, die Menschen zu verstehen, schließlich hatte sie ihr ganzes Leben in der Nähe der Farm verbracht.
„… und deshalb müssen wir diese verflixten Wasserschweine endlich loswerden! Genau wie die Pakas! Sie vernichten die ganze Ernte! Wie sollen wir genug verkaufen, wenn sie unseren Mais fressen? Und das Zuckerrohr? Wenn die neue Straße hier ist und wir die Felder vergrößern, kommen noch mehr! Es ist eine Plage! Je mehr wir pflanzen, desto mehr fressen sie! Da! Da vorn sind welche!“
Capymadre sah Bara an. Er hatte es auch gehört.
„Wir müssen weg!“, flüsterte sie – ihr Flüstern war eine Serie winziger warnender Pfeiflaute zwischen den langen Nagezähnen hindurch. Und dann flohen sie zu zweit in gestrecktem Galopp durch das schützende Feld, während es noch einmal hinter ihnen knallte … Und erreichten das Haus, dieses große eckige Ding, in dem die Menschen wohnten. Es war da, seit Capymadre denken konnte – schon als sie selbst ein Kind in einem Wurf aus anderen Kindern gewesen war und Milch bei ihrer Mutter getrunken hatte, unten am Ufer. Genauso, wie die Menschen immer da gewesen waren und sie immer ihren Mais gefressen hatten. Und das Zuckerrohr auf dem anderen Feld. Warum waren die Menschen jetzt böse auf sie?
Capymadres Geschwister waren fortgezogen, den Fluss entlang, oder jedenfalls waren sie eines Tages nicht mehr da gewesen.
Etwas direkt neben ihr knirschte und sie erschrak noch mehr. Dann sah Capymadre es. Es war klein, braun und mit hübschen Längsstreifen aus einzelnen Punkten verziert: ein Paka. Die Pakas lebten auch vom Mais, sie waren kleiner und zierlicher als die Capybaras. Dieses Paka knirschte mit den Zähnen.
„Pssst!“, machte Capymadre. „Warum machst du das?“
„Ich verjage die Angreifer“, sagte das Paka stolz. „Wir machen das immer so. Wenn wir mit den Zähnen knirschen, bekommen die Angreifer Angst und hauen ab. Eigentlich sollten wir nachtaktiv sein … Aber wir hatten Hunger … Ich tue das für meine Liebste. Sie ist noch im Maisfeld und frisst. Wir haben uns vor Kurzem vermählt. Es war sehr romantisch. Du weißt ja, wir bleiben ein Leben lang zusammen … Wir haben uns gegenseitig mit unserem Duft eingesprüht und …“
„Die Menschen haben keine Angst vor dir, du Dummkopf!“, pfiff Capymadre. „Hör auf zu knirschen und flieh!“
Und jetzt pfiff Bara laut: „Komm! Hier rein!“
Mit ein paar Sätzen war Capymadre bei ihm, duckte sich ins kühle Dunkel einer umgefallenen Metalltonne. Sie roch giftig von innen. Es war eine Flüssigkeit darin gewesen, die nicht schmeckte, als sie davon probierte. Die Autos der Menschen rochen so. Vielleicht war es Futter für Autos. Ihre Mutter hatte sie damals vor den Autos gewarnt, sie waren große Raubtiere. Sie waren blind. Bisher hatte es nur zwei Autos auf der Farm gegeben.
„Sie kommen!“, pfiff Bara ganz leise. „Totstellen!“
Sie drängten sich eng aneinander in der Tonne, ihre Herzen klopften wie eines.
Es war gut, nicht allein zu sein. Capybaras sind nicht gern allein.
„Ja, ja, sie wollen euch loswerden!“, kreischte jemand von oben. Ein Vogel. Er musste ganz in der Nähe auf einem der uralten Bäume sitzen, die den Weg zum Farmhaus säumten.
„Sie wollen die Felder noch größer machen! Sie nehmen immer mehr Land. Es wird laut werden. Eine Straße soll kommen, aus Teer. Wenig Mais lohnt nicht, es muss viel sein! Die Leute zahlen nicht mehr so viel für den Mais. Jaja. Die mit den großen, großen, groooßen Riesenfeldern verkaufen ihn billiger! Ich hab die Menschen reden hören, ich komme viel rum.“
„Was bedeutet billiger?“, fragte Capymadre und steckte den Kopf aus der Metalltonne. In den Ästen über ihnen saß ein Tukan, schwarz, mit einem riesigen gelben Schnabel.
„Wie soll man einem Capybara billiger erklären?“, rief der Tukan und lachte. „Zu schwierig, zu schwierig. Capybaras sind dumm. Kennen kein Geld. Ich komme rum. Geld ist der Untergang der Welt, jaja! Die Menschen lieben es. Ein anderer Mensch hat die Farm aufgekauft. Für Geld. Und er will mehr Mais pflanzen, um noch mehr Geld zu verdienen! Mehr, mehr, mehr! Er hat den Bauern gesagt, sie müssen die Capybaras loswerden!“ Er lachte wieder. „Jaja!“
„Wir sind nicht dumm und man muss uns nicht loswerden“, sagte Capymadre ärgerlich. „Wo soll denn noch mehr Mais hin? Es ist gar kein Platz da. Da sind die Weiden und der Fluss und der Mais und dahinter wachsen Bäume. Wollen sie den Mais auf die Bäume pflanzen?“
„Nein, nein!“, kreischte der Tukan und schüttelte sich vor Lachen. „Sie sägen die Bäume ab, du Dummerchen!“
„Wir sind nicht dumm“, pfiff Bara wütend und Capymadre nickte und stellte ihre Ohren verärgert schräg.
„Wenn ihr hierbleibt, seid ihr dumm“, sagte der Tukan. „Wenn ich ihr wäre, würde ich weggehen. Weit weg.“
„Was ist weit weg?“, fragte Capymadre. „Ist es ein Haus? Oder ein Fluss?“
Der Tukan verdrehte auf seinem Ast die Augen.
„Es ist ein Fluss woanders. Ohne Haus. Man muss viele, viele Tage wandern. Immer stromaufwärts. Bis zu den Bergen. Den Anden, wo das Land den Himmel berührt.“
„Und wenn man angekommen ist in Weitweg? Was ist dort?“
„Wald, viel Wald“, sagte der Tukan. „Ich bin darüber geflogen. Wald ohne Straßen. Ohne Autos, die einen platt machen, wenn sie über einen rasen. Ohne Menschen. Es gibt Wald hier und Wald dort und sie sägen ihn hier ab und dort ab, aber über einen bin ich geflogen, da lassen sie die Bäume in Ruhe. Dort gibt es sogar Aufpasser. Menschen-Aufpasser. Sie schützen den Wald. Vor Sägen. Vor Jägern. Vor Gift. Es ist ein Ort für Tiere und Bäume. Für Capybaras und Tukane. Für Schmetterlinge und auch für Eidechsen. Ein Ort voller Wunder.“
Capymadre wollte fragen, wie oft die Sonne auf- und untergehen musste, ehe man dort ankam. Doch in diesem Moment sah sie die Menschen aus dem Feld auftauchen, sie kamen auf die Tonne zu und sie zog rasch den Kopf ein.
„Sie sind hier!“, sagte einer der Menschen. „Haben sich irgendwo versteckt! Blöde Riesenmeerschweinchen!“
„Totstellen, totstellen, totstellen!“, flüsterte Bara.
Doch dann war er es, der rannte. Er rannte in der Tonne und die Tonne rollte los. Capymadre fiel um, wurde einmal im Kreis geschleudert und begann ebenfalls zu rennen. Jetzt rannten sie zu zweit. Die Tonne rollte wie ein Rad.
„Die Tonne!“, brüllte der Mensch. „Wieso rollt die Tonne weg?“
„Hm – Hexerei?“, fragte der andere, jüngere Mensch.
„Hexerei, Hexerei, da sind die Tiere drin!“, schrie der ältere.
Er rannte hinter der Tonne her.
„Schneller! Schneller!“, keuchte Capymadre.
Sie rannten schneller, aber es war verwirrend, in einer Tonne zu rennen, und manchmal schlug einer von ihnen aus Versehen einen Purzelbaum.
Jetzt! Jetzt ging es abwärts! Zum Fluss, die Tonne rollte zum Fluss!
Und dann war sie im Wasser, zwischen den Schwimmblättern. Bara machte einen Satz hinaus,...




