E-Book, Deutsch, 480 Seiten
Marshall Double Vision
1. Auflage 2017
ISBN: 978-3-641-19475-8
Verlag: Heyne
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Thriller
E-Book, Deutsch, 480 Seiten
ISBN: 978-3-641-19475-8
Verlag: Heyne
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Tagsüber ist Colby Marshall Autorin, abends Tänzerin und Choreografin. Sie hat die Angewohnheit, jedes ihrer Hobbys zum Beruf zu machen, so dass ihr als Workaholic nie die Arbeit ausgeht. Neben ihren gefühlten 9502 normalen Jobs ist sie stolzes Mitglied der International Thriller Writers und der Sisters in Crime. Colby lebt mit ihrer Familie in Georgia. Und sie weiß, worüber sie bei der Graphem-Farb-Synästhesie schreibt, denn sie hat selbst diese seltene Gabe. Besuchen Sie sie online unter colbymarshall.com.
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2
Jenna Ramey drückte ihrem Bruder einen Schlüsselbund in die Hand.
»Und vergiss nicht, sowohl die Haustür als auch die Seitentür zu verriegeln, wenn du und Dad im Haus seid, und wenn ihr rausgeht, dann lasst die Verriegelung an der Seite offen. Ich habe heute das Passwort an der Alarmanlage neu eingegeben. Es lautet …«
»Sri Lanka 49 Captain C2«.
»Ich weiß, ich weiß. Du hast es mir schon mal gesagt«, knurrte Charley und nahm Jenna Ayana vom Arm. »Ich dachte, dass du jetzt wieder fürs FBI arbeitest, würde bedeuten, du traust Dad und mir die Bewachung der Festungsanlage zu. Schließlich hast du uns für diesen Job alle aus unserer gewohnten Umgebung gerissen und nach Virginia verschleppt. Und wir machen das ja auch schon seit Jahren.«
Aber das war vorher. »Ich weiß, verbuche es unter nervöse Mutter eines Kleinkinds, okay?«
Natürlich hatte die Tatsache, dass ihre Tochter ein Kleinkind war, nichts damit zu tun. Als ihr Dad und Charley früher auf Ayana aufgepasst hatten, war Claudia sicher in einer geschlossenen Anstalt weggesperrt gewesen. Doch im vergangenen Jahr war es ihrer Mutter irgendwie gelungen, das System zu überlisten. Jetzt streifte sie ungehindert durch die Straßen.
Charley ließ Ayana auf den Boden vor dem Fernseher plumpsen und schaltete den DVD-Player ein. Ayana hatte den Schnuller auch mit drei Jahren noch fest zwischen den Lippen, klatschte in die Hände, als auf dem Bildschirm der Vorspann zu Findet Nemo erschien.
Wie immer spulte Charley vor, bis die gruselige Stelle mit dem Barrakuda vorbei war. »Rain Man, ich weiß, warum du das machst, ich erinnere dich nur daran, dass wir das alles schon besprochen haben. Ich war einverstanden, dein irres Schließanlagensystem umzusetzen, und wir haben sogar ein Sicherheitstraining absolviert, das sich jemand ausgedacht hat, der noch paranoider ist als du. Und das will schon was heißen. Dieses Haus ist besser vor Hausfriedensbruch geschützt als das von dem Typen die Straße runter, der die Halloween-Filme ein bisschen zu ernst genommen hat. Und jetzt raus mit dir!«
Jenna gab Ayana einen Kuss auf das feine blonde Haar, aber das kleine Mädchen nahm keine Notiz davon. Im Fernseher brachte Marlin Nemo gerade bei, in die Anemone zu schwimmen und wieder heraus.
»Hab dich lieb!«, flüsterte Jenna ihr ins Ohr.
Bei diesen Worten nahm Ayana den Schnuller aus ihrem Mund. »Ha liiieeb!«
Und dann war der Schnuller schnell wieder drin und Ayanas Blick auf das Gerät gerichtet.
Charley zuckte die Achseln. »Disney nimmt auf niemanden Rücksicht.«
»Komm, lass mich raus«, sagte Jenna.
Sie wartete geduldig, bis Charley jedes einzelne Schloss entriegelt hatte. Die Schließanlage war nicht sonderlich kompliziert, sofern man mit ihr vertraut war, aber es gab nirgendwo eine schriftliche Anleitung. Jeder Schlüssel war farblich gekennzeichnet, aber die Schlüsselfarben stimmten nicht mit den Farben auf den Schlössern überein. Um zu wissen, welcher Schlüssel in welches Schloss gehörte, musste man die Kombination auswendig lernen. Roter Schlüssel in grünes Schloss, oranger Schlüssel in hellblaues Schloss, gelber Schlüssel in violettes Schloss. Wollte man sie alle öffnen, musste man sie auch in genau dieser Reihenfolge aufschließen. Andernfalls blockierten die Riegel der anderen Schlösser das erste, und die Tür blieb zu. Es existierte nur ein Satz mit den richtigen Schlüsseln, und den musste der »Hauptverantwortliche« im Haus zu allen Zeiten bei sich tragen. Den Schlüsselsatz konnte man nicht auseinandernehmen oder nachmachen, und er war mit einem Peilsender ausgestattet.
Auch die Passwörter wurden niemals aufgeschrieben, und Jenna änderte sie täglich. Deswegen ging Jenna sie auch so oft durch, bevor sie das Haus verließ – ihr Dad und ihr Bruder durften sie nicht vergessen. Es war ihnen ausdrücklich untersagt, sie zu mailen oder sonst wie zu übermitteln. Sie durften immer nur verbal und persönlich weitergegeben werden.
»Ich richte es Dad aus, wenn er von seinem Nickerchen aufwacht. Möchtest du, dass ich eine Urinprobe nehme, um sicherzustellen, dass es auch wirklich Dad ist, bevor ich das mache?«
»Nein danke, Klugscheißer«, erwiderte Jenna. »Der Bluttest reicht völlig. In ein paar Stunden bin ich wieder da.«
Die Tür fiel hinter ihr ins Schloss. Viermal machte es klick. Und damit war sie wieder im Rennen.
Als Jenna nach Quantico kam, war sie anscheinend die Letzte von den Leuten der Behavioural Analysis Unit, der Einheit für Verhaltensanalyse, kurz BAU, die den Raum betrat. Der Konferenztisch innerhalb der verglasten Wände war schon voll besetzt. Ein paar neugierige Blicke folgten ihr, als sie die Tür schloss und das Stimmengewirr von den Arbeitsnischen um sie herum abklang. Aber niemand sagte etwas. Sie sahen alle noch so jung aus, ganz frisch im Job. Ein College-Beau mit Baseballkappe, eine junge Frau in Charleys Alter, die aussah, als könne sie als Linebacker für die Dolphins antreten. Das versprach interessant zu werden.
Jenna setzte sich auf einen Stuhl an der Wand, schon gleich als Außenseiterin deklariert.
Saleda Ovarez, verantwortlicher Special Agent und die Einzige im Raum, mit der Jenna, mit Ausnahme des Kriminaltechnikers Irv, schon zusammengearbeitet hatte, heftete Bilder an ein riesiges Whiteboard. Die dunkelhäutige Frau warf einen Blick auf ihre Armbanduhr.
»Ich wollte eigentlich noch auf Agent Dodd warten, bevor wir weitermachen, aber es ist schon zwei Minuten nach. Wir müssen loslegen.« Ihr Bostoner Akzent war deutlich zu hören. Jenna war demnach doch nicht die Letzte. Sie nahm die spitze Bemerkung ihrer Vorgesetzten über die zweiminütige Verspätung als eine Warnung. Beim nächsten Mal würde sie ihren Vater und ihren Bruder morgens gleich als Erstes instruieren, bevor ein möglicher Anruf kam.
»Ein Killer ist in den Lowman’s Discounter auf der Grady eingedrungen, hat das Feuer eröffnet und ist zu Fuß entkommen. Sieben Opfer, darunter ein ganz spezielles«, erläuterte Saleda und tippte auf das Foto in der linken oberen Ecke. »Miriam Holman, zweiundfünfzig.«
»Sie meinen die Miriam Holman, die Gouverneurin von Virginia?«, fragte der junge Kollege mit der Baseballkappe.
»Genau die.« Saleda nickte.
»Demokratin, stramm links. Hat allen einen höllischen Schrecken eingejagt, als sie gewählt wurde. War der Schütze womöglich ein eingetragenes Mitglied der NRA?«, meinte der Junge. Er rasierte sich doch bestimmt erst seit gestern. Wie hatte er es nur schon bis zur BAU gebracht?
Anfänger.
Saleda kam Jenna zuvor. »Es ist möglich, sogar wahrscheinlich, dass die Tat politisch motiviert war, da die Gouverneurin eine Stunde später nebenan in der Stadtbibliothek sprechen sollte. Aber es ist noch zu früh, um derartige Schlüsse zu ziehen.«
Jenna warf einen raschen Blick auf die übrigen sechs Toten auf der Tafel. Verschiedene Ethnien und Geschlechter. »Die anderen Opfer?«
»Ihre Profile sind in euren Unterlagen«, erwiderte Saleda und gab dem Jungen mit der Baseballkappe einen Stapel mit Schnellheftern in die Hand.
Er nahm sich einen und reichte die restlichen nach rechts weiter. »Noch weitere Prominente?«
Saleda nickte und wies auf das Bild neben dem der Gouverneurin. »Frank Kuncaitis, Bürgermeister von Falls Church. Ist gekommen, um seine Solidarität mit der Gouverneurin zu demonstrieren.«
»Könnte es auch um ihn gegangen sein?«, fragte das grobschlächtige Mädchen mit der langen Hakennase.
»Unwahrscheinlich. Er war nicht sonderlich bekannt oder umstritten. Die anderen sind alle unbeschriebene Blätter.«
»Gibt es Zeugen?«, wollte das Linebacker-Mädchen wissen.
Saleda zog sich die Spange aus den Haaren und schüttelte ihre dunkelbraunen Locken. Sie sah jetzt schon aus, als hätte sie den längsten Tag ihres Lebens hinter sich. »Wie der Zufall es wollte, hatten sie bei Lowman’s Seniorentag. Wir haben eine Reihe von Zeugen, aber die meisten davon können sich nur mit Mühe erinnern, was für ein Tag heute ist, von wichtigen Verbrechensdetails ganz zu schweigen.«
»Wie viele Schüsse gab es?«, erkundigte sich Jenna.
»Wir glauben, es waren sieben«, erwiderte Saleda.
Wie beim Seven-up-seven-down-Kartenspiel. Das sprach Bände. Der Kerl ballerte nicht wild in der Gegend herum in der Hoffnung, alles zu treffen, was sich bewegte. Die Schüsse waren einigermaßen zielgerichtet.
Jenna nickte zum Bild der Gouverneurin hin. »War Miriam Holman das erste Opfer?«
Sie war zwar an erster Stelle angeheftet, aber das konnte auch an ihrem Rang liegen.
»Nein«, antwortete Saleda. »Das vierte. Kuncaitis war das fünfte.«
Viertes und fünftes. Genau in der Mitte. Jenna dachte an Charley, der mit Ayana zu Hause saß und sich vermutlich gerade die Szene anschaute, in der Marlin die Meeresschildkröte trifft. Warum hatte sie nur den Job wieder angenommen?
»Wann brechen wir auf?«
Auf dem Weg zum Tatort nahm sich Saleda endlich die Zeit, Jenna dem Team vorzustellen. Sehr viel mehr konnten sie auch nicht tun, bis sie bei Lowman’s Discounter ankamen. Sowohl der grobschlächtigen Teva als auch Porter, dem College-Beau, verschlug es bei Jennas Namen den Atem, als hätten sich auf Saledas Stirn Hörner gebildet, als sie ihn nannte.
»Tut mir leid«, murmelte Saleda vom...




