E-Book, Deutsch, 320 Seiten
Marschall Weihnachtsfest mit einem Engel
1. Auflage 2022
ISBN: 978-3-7517-2825-6
Verlag: Lübbe
Format: EPUB
Kopierschutz: 0 - No protection
Roman
E-Book, Deutsch, 320 Seiten
ISBN: 978-3-7517-2825-6
Verlag: Lübbe
Format: EPUB
Kopierschutz: 0 - No protection
Maria, die im Altenheim lebt, erfährt, dass sie dieses Jahr zu Weihnachten zum ersten Mal keinen Besuch von ihrem verwitweten Schwiegersohn und ihren zwei Enkeln bekommen wird. Da sie weiß, dass sie nicht mehr viel Zeit hat, beschließt sie, aus dem Altenheim auszubüxen, um das Fest ein letztes Mal mit der Familie zu feiern. Gemeinsam mit dem in Ungnade gefallenen Engel Georg, den nur sie sehen kann, macht sie sich per Anhalter auf den Weg quer durch die Republik. Es wird eine Reise voller Überraschungen, kleiner Wunder und mit einem ganz besonderen Ende ...
Anja Marschall, geb. 1962 in Hamburg, arbeitete als Erzieherin, Pressereferentin, Journalistin, EU-Projektleiterin, Apfelpflückerin in Israel, Zimmermädchen in einem Londoner Luxushotel und Kioskverkäuferin an den Hamburger Landungsbrücken. Sie veröffentlichte mehrere Spannungsromane, von lustig bis historisch. Nach Tage voller Weihnachtszauber ist dies ihr zweiter Weihnachtsroman. Anja Marschall lebt mit ihrer Familie in Schleswig-Holstein.
Autoren/Hrsg.
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In der Stadt gab es Leute, die konnten sich noch daran erinnern, dass früher zu Weihnachten viel öfter Schnee gelegen hatte. Doch das war lange her. Stattdessen hatte man sich darin geübt, selbst im Nieselgrau ein wenig Weihnachtsstimmung aufkommen zu lassen. Man hängte großzügig beleuchtete Girlanden über die Einkaufsstraßen und Lichterketten an die Häuser, die Schaufenster der Läden waren mit Watteschnee dekoriert, und im Supermarkt gab es Spekulatius im Angebot. Nur noch zwei Tage trennten die Menschen vom Heiligen Abend. Und es gab noch viel zu tun. Auch im örtlichen Krankenhaus am Rande der Stadt bereitete man sich auf diese besondere Zeit vor. Die Hausmeister hatten einen großen Adventskranz in der Eingangshalle aufgehängt, an dem bereits alle vier Elektrokerzen rhythmisch vor sich hin flackerten. Und neben der Portiersloge stand ein Teller mit Keksen und Mandarinen, von dem jeder sich bedienen durfte. Die Dame im Kiosk trug ein lustiges Rentiergeweih, das immer bimmelte, wenn sie den Kopf bewegte, und der Chefarzt hatte die Belegschaft für sechzehn Uhr zu einem kleinen Umtrunk gebeten. Im zweiten Stock lag indes eine ältere Dame in Zimmer 209. Man hatte sie am Tag zuvor eingeliefert. Ihr Name war Maria Lindhorst, und sie wohnte im Seniorenheim Möwenstrand, nicht weit entfernt von der Klinik und nur eine halbe Stunde von der Hamburger City entfernt. Soeben öffnete Maria Lindhorst die Augen. Das diffuse graue Morgenlicht von draußen mischte sich mit der summenden Nachtleuchte über ihrem Kopf. Etwas piepte neben ihrem Bett. Ein anderes Etwas klemmte an ihrem Mittelfinger. Es hatte ein Kabel, das zu einem Gerät auf einem Ständer führte. Gelblich weiße Bettwäsche. Das Nachthemd kannte sie nicht. Wer hatte sie ausgezogen? Wie war sie hierhergekommen? Sie erinnerte sich nur noch daran, dass ihr beim Spazierengehen übel geworden war. Dann Schwärze. Gegenüber ihrem Bett entdeckte Maria ein hölzernes Kreuz. Darunter hing ein gerahmter Sinnspruch, den sie ohne ihre Brille nicht lesen konnte. Vom Flur hörte sie Geschirrklappern und Stimmen. Außer ihrem Bett gab es kein weiteres im Zimmer. Sie war allein. Allein? Nein, nicht ganz. Auf einem Stuhl am Fenster lümmelte eine Gestalt. Erst glaubte Maria, sie täusche sich, aber dem war nicht so. Dort saß tatsächlich ein Mann. Marias Blick ging von seiner Lockenpracht auf dem Kopf zu den blauen Augen und einem struppigen Vollbart hin zum weißen Nachthemd, welches ihm bis knapp über seine Knie reichte. Darunter lugten zwei haarige Beine hervor, die er übereinandergeschlagen hatte. Die Füße zierten zwei aufwendig gesteppte weiße Cowboystiefel mit Metallkappe an den Spitzen. Fragend sah Maria den Mann an, der sie seinerseits neugierig anschaute, während in seiner Hand ein mit Strasssteinchen verziertes Handy lag, das eher in die zarten Finger einer alternden Filmdiva gepasst hätte. »Haben Sie sich im Zimmer geirrt?«, fragte sie den Fremden vorsichtig, dessen Anwesenheit sie sich nicht erklären konnte. Vielleicht war er ein Patient, der sich verlaufen hatte oder nur verschnaufen wollte. Der Mann beugte sich ein wenig vor, wobei er sie noch prüfender musterte. »Es geht Ihnen wie?«, fragte er mit sonorer Stimme, ohne auf Marias Frage einzugehen. »Nun, ich glaube, mir geht es so weit ganz gut, obwohl ich mir nicht erklären kann …« »Schade«, murmelte er, lehnte sich zurück und sah auf das Display des Handys. »Warum denn schade? Wäre es Ihnen etwa lieber, wenn es mir schlecht ginge?« »Na ja, dann müsste ich nicht so lange warten.« »Warten?« Maria fragte sich, worauf. Doch wohl kaum darauf, dass ihr Bett frei würde. Der Mann schlug jetzt die nackten Beine in den Cowboystiefeln andersherum übereinander, wobei er sorgsam darauf achtete, dass der Saum des Kleides nicht hochrutschte. Langsam begann der Fremde, Maria zu beunruhigen. Vielleicht war er irgendwo weggelaufen und versteckte sich in ihrem Zimmer vor den Pflegern. Oder schlimmer noch: vor der Polizei. Ihr Blick huschte zur Tür. Das Klappern von Geschirr kam näher. Hoffentlich kam jemand herein, um das Frühstück zu bringen. Doch die Tür blieb geschlossen. Unauffällig tasteten Marias Finger nach der Klingel, die in Krankenhausbetten doch für Notfälle immer in der Nähe lag. Dabei ließ sie den Mann nicht aus den Augen. »Weiter links«, murmelte der, ohne den Blick von dem Glitzerding in seiner Hand zu heben. Maria zuckte zusammen. »Wie bitte?« »Die Bimmel liegt weiter links.« Ihre Finger krabbelten über das Betttuch nach links. Tatsächlich, da war der Alarmknopf. »Danke«, sagte sie mit trockenem Mund. Schnell drückte sie auf den Schalter. »Kennen wir uns?« Man musste mit Verrückten reden, hatte sie mal irgendwo gehört. Er schüttelte den Kopf. »Und warum sind Sie dann in meinem Zimmer?« »Hab ich doch schon gesagt. Ich warte.« »Ja, richtig, das sagten Sie.« Kurz schloss Maria ihre Augen. So kam sie nicht weiter. Vor der Zimmertür waren Stimmen zu hören. Maria schöpfte Hoffnung. Endlich ging die Tür auf. Jedoch stand keine Krankenschwester im Türrahmen, sondern Anna, die Pflegerin aus dem Seniorenheim Möwenstrand. Sie war viel netter als all die anderen Schwestern, denn Anna machte keine dummen Worte, wie: »Das können wir aber besser, nicht wahr, Frau Lindhorst?« Sätze dieser Art musste Maria sich zumeist beim wöchentlichen Töpfern anhören, wenn nach einer endlos langen Stunde ihr Tonklumpen noch immer nach einem Tonklumpen aussah statt wie eine Tasse oder ein hübscher Schwan. »Da sind Sie ja!«, rief Anna und kam herein. Sie schloss die Tür hinter sich. »Ich habe mir Sorgen um Sie gemacht, Frau Lindhorst. Wie geht es Ihnen?« Anna stellte die Reisetasche in ihrer Hand auf das Fußende des Bettes. »Ich habe ein paar Sachen aus Ihrem Zimmer mitgebracht.« Sie öffnete den Verschluss und holte das silbergerahmte Bild von Ben, Frieda und Max heraus, das Maria sonst auf ihrer Anrichte im Seniorenheim stehen hatte. Anna arrangierte es jetzt auf dem Nachttisch neben Marias Bett. »Was ist passiert, Anna? Ich kann mich gar nicht mehr erinnern.« Während Maria das sagte, nickte sie mit dem Kopf zum Fenster, um die junge Frau auf den eigenartigen Kerl im Nachthemd aufmerksam zu machen. »Sie hatten einen Schwächeanfall beim Strandspaziergang. Wissen Sie noch?« »Nun ja«, sagte Maria und nickte noch einmal zum Fenster hinüber. »Da waren Leute, die kamen, um zu helfen.« Anna nahm von der Anwesenheit des Mannes keine Notiz. Und der schien sich, trotz des lächerlichen Hemdes, auch nicht vor Anna zu schämen, was Maria wiederum wunderte. Immerhin war Schwester Anna jung und hübsch. »Es ist aber nichts Ernstes, meinte der Arzt eben«, fuhr Anna fort und packte weiter aus. »Sie müssen nur einen Tag zur Beobachtung hierbleiben. Ich habe Ihnen trotzdem frische Kleidung mitgebracht.« Aus dem Augenwinkel sah Maria, wie der Kopf des Mannes hochschnellte. »Nichts Ernstes? Beobachtung? Das kann nicht stimmen«, grummelte er und begann, hektisch auf seinem Handy herumzutippen. Maria fixierte noch einmal die junge Frau an ihrem Bett, wobei sie jetzt sehr energisch mit dem Kopf hinüber zu dem wirr vor sich hinmurmelnden Kerl nickte. »Wer ist das?«, raunte sie Anna zu. »Ich kenne ihn nicht.« Anna folgte Marias Blick zum Fenster hinüber. »Ich glaube, der hat sich verlaufen. Jedenfalls wartet er auf etwas. Will mir aber nicht sagen, auf was«, erklärte sie Anna leise. Anna schaute zum Fenster. »Wer?« »Na, der da.« Maria zeigte mit dem Finger zum Stuhl. Zufrieden stellte Maria fest, dass nun auch Anna besorgt zu sein schien. Sie schaute zwischen Stuhl und Maria hin und her. Dann stellte sie die halb ausgepackte Tasche auf den Boden und setzte sich auf die Bettkante zu Maria, deren Hand sie in ihre nahm. »Alles gut, Frau Lindhorst. Das wird schon wieder.« »Was meinen Sie damit?« Maria zog ihre Hand fort und zeigte noch einmal zu dem Irren hinüber, der weiter vor sich hin grummelte. »Sehen Sie ihn nicht? Da sitzt er doch!« Den Mann schien es nicht zu stören, dass die beiden Frauen über ihn sprachen. Fürsorglich neigte Anna den Kopf zur Seite und lächelte. »Sie sind hingefallen. Erinnern Sie sich?« »Ja, aber darum geht es doch nicht. Da ist ein Mann in meinem Zimmer.« Besorgt schaute sie Anna an, die nicht zu verstehen schien. Dann zog sie Anna am Revers ihrer Jacke dicht zu sich heran. »Und er trägt nur ein Nachthemd«, raunte sie in Annas Ohr. Aus dem Augenwinkel sah Maria, wie der Kerl begann, das Handy in seiner Hand zu schütteln, als hoffe er, irgendetwas würde herausfallen. »Himmelherrgottsakramentnocheinmal!«, schimpfte er dabei. Anna indes seufzte. »Vielleicht haben Sie sich den Kopf gestoßen, liebe Frau Lindhorst. So etwas passiert.« Jetzt klang sie doch wie die anderen Pflegerinnen im Seniorenheim. »Wir sollten es dem Arzt sagen«, schlug Anna aufgesetzt munter vor. »Wird nicht helfen«, mischte sich der Fremde seinerseits ein. Maria drehte sich zu ihm. »Warum hilft es nicht?« Sie spürte, wie Anna hinter ihr zusammenzuckte und nun ihrerseits zum Alarmknopf am Bett griff. »Weil sie mich nicht sehen kann … und der Arzt auch nicht.« »Nicht sehen? Warum?« Die Angst in Maria kroch höher. Anna musste doch bemerkt haben, dass außer ihnen noch jemand hier...