E-Book, Deutsch, 350 Seiten
Marschall Das Weihnachtswunder von Haus 7
1. Auflage 2023
ISBN: 978-3-7517-4795-0
Verlag: Lübbe
Format: EPUB
Kopierschutz: 0 - No protection
Roman
E-Book, Deutsch, 350 Seiten
ISBN: 978-3-7517-4795-0
Verlag: Lübbe
Format: EPUB
Kopierschutz: 0 - No protection
Die alleinerziehende Luisa hat zwei Wünsche zu Weihnachten: Sie wünscht sich wieder einen Partner, mit dem sie Liebe und Leid teilen kann - und sie wünscht sich ein sicheres Zuhause. Denn das Haus, in dem sie mit ihren zwei Kindern lebt, soll abgerissen werden. Um ihre Wohnung zu retten, schmiedet Luisa einen ungewöhnlichen Plan: Sie möchte den griesgrämigen alten Eigentümer des Hauses aufsuchen, um mit ihm zu reden. Die Begegnung verläuft anders als erwartet - und bald steht Luisas Leben kopf, die Ereignisse überschlagen sich. Kann es sein, dass Weihnachtswunder manchmal Wahrheit werden?
Anja Marschall, geb. 1962 in Hamburg, arbeitete als Erzieherin, Pressereferentin, Journalistin, EU-Projektleiterin, Apfelpflückerin in Israel, Zimmermädchen in einem Londoner Luxushotel und Kioskverkäuferin an den Hamburger Landungsbrücken. Seit Jahren ist sie mit Romanen verschiedenster Genres erfolgreich. Anja Marschall lebt mit ihrer Familie in Schleswig-Holstein.
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Kapitel 2
Zur selben Zeit trat Luisa Thießen aus dem Eingang eines Fünfzigerjahre-Wohnblocks im Süden der Stadt auf die Straße hinaus. Schon als sie beim Ankommen die Schlange der anderen Bewerber auf dem ersten Treppenabsatz gesehen hatte, war ihre Hoffnung auf die Dreizimmerwohnung im zweiten Stock nahezu erloschen. Trotzdem hatte sie sich angestellt und geduldig eine Stunde gewartet, bis sie mit der Besichtigung endlich an der Reihe gewesen war. Die Wohnung war perfekt für sie und ihre Kinder. Mattis Schule lag nur wenige Straßen entfernt, und Lillis Kindergarten konnte sie auf dem Weg zur Arbeit schnell erreichen. Sogar einen Balkon hatte die Bleibe und einen honigfarbenen Parkettboden. Das mit der Miete allerdings könnte eng werden. Mit ihrem Gehalt als Teilzeitsachbearbeiterin in einem Architekturbüro und ihrer Witwenrente kam sie schon jetzt nur so gerade über die Runden. Luisa schaute in den grauen Himmel hinauf, aus dem es ununterbrochen nieselte. Sie zerknüllte die Anzeige in ihrer Hand, denn sie wusste, dass sie die Wohnung nicht bekommen würde. Warum nur hatte sie versucht, den Makler zu bestechen? Es war doch klar gewesen, dass sie keine Chance hatte. Sie hatte dem Mann von ihrer Arbeit erzählt, ohne die Worte Teilzeit und Sachbearbeiterin fallen zu lassen. Sie hatte sich begeistert von den Räumen gezeigt und nur nebenbei ihre beiden sehr vernünftigen und leisen Kinder erwähnt. Letzteres war eine Lüge. Matti und Lilli waren Wirbelwinde der Extraklasse. Bei ihnen musste man immer auf alles gefasst sein. Schließlich hatte sie diesem aalglatten Typen heimlich einen Umschlag mit drei Hunderteuroscheinen hingehalten. Mit einem schmalen Lächeln hatte er den Umschlag abgewiesen und erklärt, er würde sich Ende der kommenden Woche melden, falls sie die Wohnung bekäme. Dann hatte er sich einer anderen Bewerberin zugewandt, die bestimmt Single und kinderlos war, einen coolen Job in der Stadt hatte und einen tollen Freund. Verzweifelt hatte Luisa noch versucht, die Mitleidskarte zu spielen, und dem Makler nachgerufen, dass sie eine Witwe mit zwei Kindern sei. Er hatte sich nicht einmal umgedreht. Mit hängenden Schultern und einer Menge Ärger im Bauch, am meisten über sich selbst, ging Luisa heim. Ende Januar mussten sie und die Kinder ihre Wohnung in der Herderstraße Nr. 7 verlassen. Das Gericht hatte die Rechtmäßigkeit der Kündigung nach endlosen Verhandlungen anerkannt. Unglaublich, doch so war das Gesetz nun einmal. Wer die besseren Juristen hatte, gewann. Der Typ vom Mieterinteressenverein jedenfalls gehörte nicht in die Kategorie »guter Anwalt«. Er hatte sich vom Vertreter der Ascot Holding dermaßen vorführen lassen, dass es peinlich gewesen war. Mit einem kleinlauten »Da kann man leider nichts machen« war der Mann nach der Urteilsverkündung davongeschlichen und hatte die empörten Mieter der Herderstraße einfach stehen lassen. Für Luisa war die Zeit des Kämpfens um ihr Zuhause seither endgültig vorbei. Man muss wissen, wann man verloren hat. Darum besorgte sie sich jeden Tag noch vor dem Frühstück die aktuelle Tageszeitung, wenn sie zuvor im Internet nicht fündig geworden war. Mit einem pinkgrellen Edding in der einen Hand und einem Becher Kaffee in der anderen, ging sie dann die wenigen Wohnungsanzeigen durch, während ihre beiden Kinder selig schlummerten, bis sie geweckt wurden. Bekanntlich war es ja der frühe Vogel, der den Wurm fing. Leider nur schien diese Weisheit in ihrem Fall nicht zu funktionieren. In der ganzen Stadt gab es kaum freie Wohnungen. Schon gar keine, die sich eine alleinerziehende Mutter leisten konnte. Dabei hätte Luisa heute selber Architektin sein können, wenn dieser schreckliche Unfall nicht gewesen wäre, der sie zur Witwe gemacht hatte. Es fehlte ihr damals nur eine einzige Prüfung bis zum Abschluss. Eine Anstellung in einem renommierten Architekturbüro hatte sie auch schon in der Tasche. Aber Peters Tod hatte alles geändert. Seither musste sie an Jobs nehmen, was sie kriegen konnte. Tief in Gedanken versunken, eilte Luisa durch den Nieselregen Richtung Herderstraße. Sie war mit ihrem Latein langsam am Ende. Obwohl sie sich für eine starke Frau hielt, spürte sie seit einiger Zeit, dass die Kräfte sie verließen. Zum Glück hatte sie ihre beiden Kleinen, die sie von ihrem Unglück ablenkten und immer wieder den Sonnenschein zurück in ihr Leben brachten. Dieser Trost wog alles auf und war mit Geld nicht zu bezahlen. Im Supermarkt an der Ecke kaufte Luisa schnell ein. Heute Abend würde es Makkaroni in Käsesoße geben. Mattis Lieblingsgericht. Eine halbe Stunde später bog sie, links und rechts je eine Einkaufstüte haltend, in die Herderstraße ein. Zu Kaiserzeiten hatten hier schmucke Jugendstilhäuser mit vier Etagen, hohen Fenstern und steinernen Blumenranken an der Fassade gestanden. Die Gegend war einst eine gute Adresse gewesen. Dann kam der Weltkrieg. Was der nicht kaputtgebombt hatte, riss der Modernitätswahn der Sechziger- und Siebzigerjahre ein. Mittlerweile verfielen aber auch diese Bauten und wichen kubistischen Einheitsblöcken, die an Fantasielosigkeit kaum zu überbieten waren. »Klötzchenhaus« hatte Lilli das neue Gebäude von gegenüber genannt. Luisa fand den Begriff sehr passend. Der Neubau passte prima zu all den anderen Copy-and-paste-Häusern in der Stadt, deren Aussehen auf sie wie gestanzt wirkte. Mit seinem Stuck und dem farbigen Bleiglas in der Haustür schien Nummer 7 wie aus der Zeit gefallen. Luisa liebte das Haus und wäre niemals in eines der herausgeputzten und einfallslosen Appartements gezogen, wo hippe Leute in betonierten Schubladenkisten lebten. Luisa würdigte den Neubau gegenüber von Nummer 7 keines Blickes. Wenn die Dinge anders gelaufen wären, würde sie heute eine Architektin sein, die Häuser mit Seele entwarf. So etwas wie da drüben bestimmt nicht. Luisa drückte ihre Schulter gegen die Haustür von Nummer 7, an der seit Jahren die Farbe abblätterte. Leider klemmte die Tür mal wieder. Leise fluchend warf sie sich dagegen, aber die Tür wollte nicht nachgeben. »Mist!«, entfuhr es ihr. »Kann ich helfen?« Eine Männerstimme hinter ihr ließ sie zusammenzucken. »Ähm, danke, ich schaffe das schon.« Luisa drückte sich erneut gegen die Tür. »Sicher?« Sie drehte sich herum. »Sie klemmt.« Unauffällig musterte sie den Fremden von oben bis unten. Schlank, groß, dunkle Locken, glatt rasiertes Gesicht, blaue Augen, kantige Züge. Ein Gerichtsvollzieher? Nein. Er lächelte. So schick, wie der Mann aussah, kam er garantiert aus dem Block von drüben. Wollte er sich etwa darüber amüsieren, dass in Nummer 7 nicht einmal die Tür funktionierte? Luisa funkelte ihn an, als sei er an allem schuld, was er natürlich nicht war. »Er hat doch nur seine Hilfe angeboten«, mahnte eine Stimme in ihrem Kopf. Stimmt. Schnell verzog sie den Mund zu einem Lächeln. »Das passiert öfter.« »Wenn wir es zu zweit versuchen, gibt sie vielleicht nach«, gab er zu bedenken. Vorsichtig nickte Luisa. »Auf drei«, schlug er vor und stellte sich neben sie. Bis dahin, das wusste sie, konnte sie unmöglich warten. So dicht an einem gut riechenden und toll aussehenden Mann zu stehen war schrecklich verwirrend. Es ging einfach nicht. Als er »zwei« sagte, preschte sie vor. Mit einem ›Rums‹ sprang die Tür auf, und Luisa stolperte ins Dunkel des Treppenhauses. »’tschuldigung. Mathe war noch nie meine Stärke«, scherzte sie und grinste verlegen. »Aber danke für Ihre Hilfe.« »Nun ja, so richtig geholfen habe ich ja nicht.« Er warf einen neugierigen Blick in den düsteren Flur. »Wo ist der Lichtschalter?« Luisa schüttelte den Kopf. »Hier gibt es kein Licht, und auch die Klingeln funktionieren nicht. Dafür leckt es durchs Dach, und die Heizung macht Geräusche. Das Haus soll im nächsten Jahr abgerissen werden.« »Wohnen Sie hier?« Luisa glaubte zu sehen, dass er sich in seiner Haut unwohl fühlte. Sie sah sich im Treppenhaus um. Die zerschlissene Tapete, die ausgetretenen Holzstufen, die zerbrochenen Fliesen mit dem Blumenmuster, das kaputte Fenster in der Tür zum Hof. Nein, all das wirkte auf andere Leute sicherlich wenig einladend. Es konnte eben nicht jeder die Schönheit von Nummer 7 sehen, so wie sie. Trotzdem schämte sie sich plötzlich für das Haus. »Ähm, ich bringe nur jemandem den Einkauf«, flunkerte sie und fragte sich sofort, warum sie das gesagt hatte. Eigentlich log sie nie, na ja, fast nie. Er räusperte sich, schien nicht recht zu wissen, was er sagen sollte. Wahrscheinlich war es ihm unangenehm, auf dieser Seite der Straße gesehen zu werden. Feigling, dachte Luisa. »Schönen Tag«, murmelte sie und schob die Tür mit dem Fuß vor seiner Nase zu. Fehlte noch, dass er sie auf eine Tasse Kaffee einlud oder Schlimmeres. Sie hatte keine Zeit für Männer. Und erst recht nicht für solche von gegenüber. Da öffnete sich die Haustür erneut, und sein Kopf erschien im Türspalt. »Was machen Sie kommenden Freitag?« »Wie bitte?« »Nun ja, ich frage mich, ob Sie mit mir eventuell irgendwo eine Tasse Kaffee trinken gehen würden. Oder Tee. Tee ginge natürlich auch.« Luisa zögerte. »Also eigentlich …« »Schön. Sagen wir um fünfzehn Uhr? Patisserie Körner?« Die Konditorei war eine Institution in der Stadt, ihre Torten weltberühmt und der Kaffee dort ein Genuss! Luisa überlegte, wann sie das letzte Mal jemand eingeladen hatte....