E-Book, Deutsch, 272 Seiten
Reihe: Ullstein eBooks
Marquardt / Lemke Härte
11001. Auflage 2011
ISBN: 978-3-8437-0166-2
Verlag: Ullstein HC
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Mein Weg aus dem Teufelskreis der Gewalt
E-Book, Deutsch, 272 Seiten
Reihe: Ullstein eBooks
ISBN: 978-3-8437-0166-2
Verlag: Ullstein HC
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Andreas Marquardt, geboren 1956, war über zwei Jahrzehnte Zuhälter in der Berliner Halbwelt. 2003 wurde er aus der Haft entlassen und führt heute eine Sportschule in Berlin-Neukölln, wo er vor allem Kinder in Karate unterrichtet.
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Ein Bett für mich allein
2 Ich hatte keine rosigen Startbedingungen, aber unglücklich war meine Kindheit nicht. Na gut, mit Einschränkungen. Aber vor allem Oma und Opa haben getan, was sie konnten. Sehr gern erinnere ich mich an die Wochenenden und die Schulferien in unserer Laube. Drei kleine Zimmer und Küche, gut zweihundertfünfzig Meter von der Mauer entfernt. Ein großer Garten mit Obstbäumen, Tannen und Sträuchern, insgesamt an die fünfhundert Quadratmeter. Von zu Hause in der Mainzer Straße bis dorthin brauchte man zu Fuß ungefähr vierzig Minuten, mit dem Fahrrad knapp zehn. Ich habe mich oft im Indianeranzug und buntem Federschmuck auf dem Kopf, eine Streitaxt in der Hand, an die Erwachsenen herangepirscht und sie beim Dösen unter den Tannen erschreckt. In der Bullenhitze im Sommer bin ich zum Schwimmen in den nahe gelegenen Teltowkanal, und vor dem Schlafengehen bin ich meistens noch einmal in die Zinkbadewanne unterm Apfelbaum gesprungen. War kein Badewetter, habe ich mich aufs Fahrrad geschwungen und bin stundenlang in der Gegend herumgefahren.
Das Essen, das Oma zu Hause vorgekocht hatte, wärmte sie auf dem Propangaskocher auf, und am Gartentisch schmeckte es noch besser als am Esstisch im Winterquartier, wie Opa unsere große Drei-Zimmer-Wohnung in der Nähe vom U-Bahnhof Boddinstraße nannte. Viele Arbeiterfamilien aus Neukölln hatten neben der Wohnung ein Grundstück mit Laube, wo sie den größten Teil ihrer Freizeit verbrachten. In diesen Jahren kam ein Neuköllner noch nicht auf die Idee, im Urlaub nach Italien zu fahren.
Mir wird ganz warm ums Herz, wenn ich daran denke, wie Großvater mir abends die Sternbilder erklärte. Den Polarstern, den Großen und den Kleinen Wagen und all die anderen Sterne, von denen ich die Namen längst wieder vergessen habe. Schweigsam wurde er, wenn ich ihm Fragen nach dem Krieg stellte, den er als einfacher Soldat bis zum Schluss mitgemacht hatte.
Opa musste das Grundstück schließlich verkaufen, weil auf den Parzellen Hochhäuser gebaut wurden. Es dauerte nicht lange, und wir erwarben einen neuen Garten in der Nähe vom Spandauer Damm. Er war nicht ganz so groß wie der frühere, aber seinen Zweck erfüllte er auch.
Großvater war nicht der leibliche Vater meiner Mutter, er hat sie aber als seine Tochter angesehen. Ihr Verhältnis war nicht so herzlich wie das zwischen Oma und Mutter, in meinen Augen wirkte es eher sachlich und korrekt. Als junge Frau hatte sich Oma von einem feinen Herrn ein Kind andrehen lassen, und der dachte nicht im Traum daran, sie zu heiraten, nur weil sie guter Hoffnung war. Er ließ sie sitzen und Oma musste zusehen, wie sie mit dem Balg zurechtkam.
Auf einem Foto aus den fünfziger Jahren sitzt Opa im feinen Zwirn mit Schlips und Kragen, ein Kavalierstuch in der Brusttasche, kerzengerade auf einem Stuhl. »Seine« Frauen stehen rechts und links hinter ihm und legen vertrauensvoll eine Hand auf seine starken Schultern. Wer die Personen auf dem Foto nicht kennt, könnte die drei für einen Vater mit seinen zwei hübschen Töchtern halten, denn Mutter war zu diesem Zeitpunkt erst neunzehn und Oma noch nicht einmal vierzig. Beide wussten, dass sie gut aussahen, und zu seinem Geburtstag hatten sie sich ihre besten Kleider angezogen. Zur Feier des Tages trugen sie sogar Nelken aus unserem Garten im Haar.
Oma gefiel es, unseren Haushalt zu führen und umsichtig für uns zu sorgen. Ich war ihr Liebling, den sie hinten und vorne verwöhnen konnte und der ihr »Löcher in den Bauch« fragen durfte. Zu einem Geburtstag schenkte sie mir Man lacht über Putzi. Ein Comic-Heftchen, zehn mal zehn Zentimeter, nicht sehr dick und schön bunt illustriert. Kostenpunkt etwa dreißig oder vierzig Pfennig. Putzi war eine Art Mickymaus, ein lustiger Geselle, aber nicht der Stärkste. Ich wusste früh, über die Schwachen wird gelästert und gelacht. So wie Putzi werde ich nie, nahm ich mir vor, über mich lacht keiner.
Oma hat sich sehr zurückgehalten, wenn es Krach zwischen meinen Eltern gab. Nachdem mein Vater uns endgültig verlassen hatte, drängelte sie Mutter auch nicht, sich einen anderen Mann zu suchen.
Opa schuftete sein Leben lang als Bäcker. Er war mittelgroß, sehr kräftig, dabei schlank, sein Gesicht war schmal, die Ohren standen leicht ab, und der Schädel war beinahe kahl. Ich war fasziniert von seinen großen Händen, die in der Backstube den Teig in der Luft herumwirbelten und im letzten Moment geschickt wieder auffingen.
Eisern wie ein Stehaufmännchen hat er sich bei Wind und Wetter um Mitternacht aufs Fahrrad geschwungen und ist los zur Arbeit. Bei Regen setzte er seine imprägnierte Regenkappe auf. Frei hatte er nur am Sonntag, krank sein gab’s für ihn nicht. Ich bin für die Familie da, ich muss arbeiten, damit der Schornstein raucht, das war seine Einstellung, dazu stand er. Mir imponierte diese Haltung, ich liebte ihn dafür.
Am Vormittag kehrte er aus der Backstube zurück und legte sich schlafen. Nach dem Aufstehen las er seine Zeitung, danach sah er fern und unterhielt sich mit demjenigen, der gerade da war. Wenn ich aus der Schule kam, hatte Oma warmes Essen fertig, und wir aßen zu Mittag, redeten über die Schule und meinen Sport. Anschließend machte ich meine Hausaufgaben, griff mir die Sporttasche und ging zum Training. Opa legte sich noch einmal hin und schlief zwei weitere Stunden. Am Abend saß die Familie gemeinsam am Esstisch, dann, wenn Mutter gegen sechs Uhr von der Arbeit in die Türe trat. Sie war über viele Jahre Kontoristin in einer Wäscherei und Reinigung, die es schon lange nicht mehr gibt.
Während ich in der Sporthalle trainierte, kontrollierte Opa nach seinem Nachmittagsschlaf meine Hausaufgaben. War er mit dem Resultat nicht zufrieden, brachte er seine Einwände am Abendbrottisch vor, und ich musste nach dem Essen noch einmal ran. Meine schulischen Leistungen lagen zwischen zwei und drei. Wurde ich schlechter, drohte Mutter: »Wenn du nicht besser lernst, gehst du mir nicht mehr zum Sport!« Ihre Worte verdrängte ich, wach wurde ich erst, wenn Großvater mich zur Brust nahm: »Schularbeiten im Schnellverfahren? Kommt nicht in Frage. Mach es ordentlich, ansonsten weht hier ein anderer Wind.« Klar doch, er hatte bei mir die Vaterrolle übernommen. War Zeugnistag, gab’s schon mal ’ne Standpauke zu diesem und jenem Fach. Oma hielt sich raus und sagte höchstens: »Recht haben sie.«
Opa war für mich »alte Schule«. »Ordnung, Fleiß und Sauberkeit sind Tugenden«, sagte er, »die kosten nichts und bringen viel. Das gilt für deinen Sport genauso wie für den Schulunterricht.« Wenn er mit seinen Sprüchen kam, wurde die Stimme ernst und feierlich. Beim Reden ging er mir mit einer Hand über den Kopf, mit der anderen zupfte er an meinen Kragenecken herum.
Manchmal spürte ich seine Herzlichkeit sehr deutlich. Aber Umarmungen – so was kam für ihn nicht in Frage. »Nichts für einen richtigen Jungen«, meinte er und zog kurz an meinem Ohrläppchen, wenn ich mich an ihn anschmiegen wollte. Gewöhnlich schob er noch einen Spruch hinterher: »Ein Junge drängt sich nicht so auf.«
Mir gefiel, wie er das rüberbrachte, ich kapierte, was er mir damit sagen wollte. Es passte zu dem, was ich mir vorgenommen hatte. Verlegen lachte ich ihm frech ins Gesicht, und schon lief ich wieder rund.
Großvater brachte mir bei, dass man sich im Leben durchsetzen müsse. Jammern und klagen nützen gar nichts, sagte er, stark müsse man werden und besser als die anderen. Wir leben nun mal in einem Neuköllner Mietshaus und nicht in einer Villa im Grunewald. Mit Zimperlichkeit würde da gar nichts gehen. »Beiß die Zähne zusammen, sei strebsam und gib nicht so schnell auf, wenn du dir was vorgenommen hast«, war einer von seinen Lieblingssprüchen. Wenn er »Neukölln« sagte, gab er mir zu verstehen, es wird einem hier nicht leicht gemacht, aber man könne es schaffen.
Ich sollte meinen Weg gehen, und das war der, den man so geht in einer Familie aus Neukölln – man beißt sich durch. Bubi Scholz war so ein Beispiel in Berlin, er kam jedoch aus dem Prenzlauer Berg.
Als Junge sah ich im Fernsehen einen Film, der mich beeindruckte, an den Titel und die Schauspieler kann ich mich nicht erinnern. Die Hauptfigur war ein ganz normaler Mensch, ziemlich unauffällig, eigentlich ein kleiner Wicht. Er schlotterte vor Angst, wenn sein Boss sich ihm auf zehn Meter näherte. Eines Tages drückte ihm jemand eine Schachtel mit hellblauen Pillen in die Hand und sagte: »Nimm eine, wenn du das nächste Mal zum Chef gehst.«
Der Angsthase schluckte eine von den bunten Pillen, und im Handumdrehen fühlte er sich wie Supermann und wurde zum Beschützer der anderen Wichte im Büro. Kaum hatte er das Ding intus, riskierte er die große Lippe. Die Hände in den Hosentaschen, baute er sich vor seinem Vorgesetzten auf und sagte ihm rotzfrech ins Gesicht:
»Halt die Klappe, Schnulli, du hast hier gar nichts zu sagen!«
Die Wichte schauten voller Bewunderung zu ihm auf und rieben sich vergnügt und schadenfroh die Hände. Ich war tief beeindruckt,...