E-Book, Deutsch, 224 Seiten
Maron Ach Glück
1. Auflage 2021
ISBN: 978-3-455-01273-6
Verlag: Hoffmann und Campe
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
E-Book, Deutsch, 224 Seiten
ISBN: 978-3-455-01273-6
Verlag: Hoffmann und Campe
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Monika Maron, geboren 1941 in Berlin, zählt zu den bedeutendsten Schriftstellern der Gegenwart. Sie wuchs in der DDR auf, übersiedelte 1988 in die Bundesrepublik nach Hamburg und lebt seit 1993 wieder in Berlin. Sie veröffentlichte zahlreiche Romane und mehrere Essaybände. Ausgezeichnet wurde sie mit diversen Preisen, darunter der Kleistpreis (1992), der Friedrich-Hölderlin-Preis der Stadt Homburg (2003), der Deutsche Nationalpreis (2009), der Lessing-Preis des Freistaats Sachsen (2011), der Ida-Dehmel-Literaturpreis (2017), sowie der Stahl-Literaturpreis (2025). Bei Hoffmann und Campe erschienen zuletzt der Essayband Was ist eigentlich los? (2021), der Roman Das Haus (2023), sowie die Erzählung Die Katze (2024).
Autoren/Hrsg.
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Cover
Verlagslogo
Titelseite
Widmung
Fassen Sie sich ein [...]
Er fuhr vom Flughafen [...]
Sie hatte sich nur [...]
Draußen umfing ihn laue, [...]
Einen Tag, nachdem sie [...]
Das Auto stand an [...]
Ein Plong weckte Johanna [...]
Alle Restaurants hatten den [...]
Meine liebe neue Freundin,
An der Kreuzung Friedrichstraße/Unter [...]
Uhrzeit am Zielort 13:23, [...]
Er überlegte, wie er [...]
Im Flugzeug begann es [...]
Ernst Kreihuber hatte gerade [...]
Sie können mich an [...]
Über Monika Maron
Impressum
, hatte Natalia geschrieben,
Wenn das so einfach ginge, dachte Johanna, sich ein Herz fassen; irgendein kräftiges, abenteuerlustiges Herz, das einem Vorübergehenden in der Brust schlug, fassen und für sich selbst weiterschlagen lassen.
Wessen Herz soll ich mir fassen? schrieb Johanna zurück.
Und Natalia Timofejewna: Haben Sie denn kein eigenes?
Sie war fast neunzig und spindeldürr, saß in einem Internet-Café in Mexico City und fragte Johanna, ob sie kein Herz hätte.
Am Tag darauf schrieb sie ihr:
Und jetzt saß sie zusammen mit dreihundert anderen Leuten in diesem monströsen Blechbehälter zehn Kilometer über der Erde, trank Cola und kaute Erdnüsse, während sie die Flugnachrichten auf einem der Monitore verfolgte, als hielte sie es tatsächlich für normal, sich in einem fliegenden Kino fortzubewegen.
Ihre Hände waren kalt, die Finger ineinander verschränkt wie zum Gebet. Immer, wenn das Flugzeug startete, suchten ihre Finger einander, anfangs unbewusst, und nachdem sie bemerkt hatte, dass ihre Hände sich jedes Mal, wenn das Flugzeug in steiler Schräglage in den Himmel stieß, auf diese aus ihrer Kindheit stammende Demutsgeste besannen, hielt sie es für leichtsinnig, sie daran zu hindern. Wenn sie es unbedingt wollten, auch ohne ihr Zutun, half es ja vielleicht. Die Möglichkeit abzustürzen, nur weil sie ihren Händen verbot, ihrem Urbedürfnis zu folgen und sich ineinander zu verschlingen, ließ sie vor dem Experiment zurückscheuen, auch wenn sie das Ganze eigentlich für Unfug hielt.
Sie war eine ungeübte Alleinreisende. Sie war noch nie allein geflogen, immer hatte Achim neben ihr gesessen; einmal Laura, als sie ihr zum Abitur das Wochenende in London geschenkt hatten und Achim zwei Tage vorher krank geworden war.
Zum ersten Mal allein fliegen. Zum ersten Mal nach Mexiko. Im Alter verging die Zeit wahrscheinlich so schnell, weil man fast nichts mehr zum ersten Mal tat. Monatelang, jahrelang wiederholte man, was man schon tausendmal getan hatte, sodass die Monate und Jahre sich wie eine Folie über ein altes, vollkommen gleiches Muster legten und mit ihm verschmolzen, als hätte es sie gar nicht gegeben.
Jeden Morgen die gewohnte Sorte Tee oder Kaffee kochen, die einmal abonnierte Zeitung lesen, zur gleichen Zeit mit der gleichen Arbeit beginnen, am Abend die gleichen Freunde treffen oder einen alten Film sehen und sich erschrecken, weil man sich nur noch an Bruchstücke erinnern kann. So war es. Sogar, als sie plötzlich in einem anderen Staat lebten und von der Kaffeesorte bis zur Zeitung alles anders wurde und sie sogar in eine andere Wohnung in einem anderen Stadtbezirk zogen, war es nach kurzer Zeit wieder so. Sie tranken anderen Kaffee, lasen andere Zeitungen, aber wenn sie beim Frühstück einander gegenüber saßen, war es wie in all den Jahren davor, als hätten sie ihr Leben in eine andere Sprache übersetzt, in der sie nun die alten Sätze sagten. Sie klangen nur anders.
Bis vor vier Monaten war es so.
Vielleicht wäre auch ohne Bredow alles so geworden, wie es jetzt war; wer konnte das wissen. Aber fest stand, dass mit Bredow – seit sie ihn von dem Abfalleimer befreit hatte, an den ihn jemand auf dem Parkplatz an der Autobahnausfahrt Bredow gebunden hatte – die Serie von Erstmaligkeiten begonnen hat. Bredow war ihr erster Hund.
Was ist das, hatte Achim gefragt, als Johanna, schwere Taschen in beiden Händen und den Strick, mit dem man den Hund festgebunden hatte, über den Unterarm gestreift, vor der Tür stand; was ist das?
Ein Hund, hatte sie geantwortet, Riesenschnauzer und nochwas, und ging, als gäbe es dazu nicht mehr zu sagen, an Achim vorbei in die Küche. In ihrem Rücken klapperten die Krallen des Hundes leise auf dem Parkett. Dann knotete sie ihm den Strick vom Hals, stellte eine Schüssel mit Wasser neben die Tür, setzte sich auf einen Stuhl und sah dem Hund beim Trinken zu.
Ich konnte ihn doch nicht stehen lassen, sagte sie.
Achim stand in der Tür, sah abwechselnd auf den Hund und auf seine Frau. Und was soll mit ihm werden, fragte er.
Der Hund leckte die letzten Tropfen aus der Schüssel und schob sie dabei bis an die Türschwelle. Achim trat einen Schritt zurück. Du hast ja Angst, sagte Johanna und füllte noch einmal Wasser in die Schüssel.
Der Hund löffelte sich mit der Zunge geräuschvoll das Wasser in die Schnauze, setzte sich, als er endlich genug getrunken hatte, dicht neben Johannas Bein und sah Achim an, als ahnte er, dass sein Schicksal von dieser, an Größe ihn und seine Retterin überragenden Gestalt abhing.
Was soll nun mit ihm werden, fragte Achim noch einmal.
Johanna streichelte dem Hund die Stirn, verfolgte die Bewegung ihrer Hand auf dem schwarzen Fell und sagte, ohne aufzusehen: Ich glaube, er bleibt.
Sie hatte bis dahin selbst nicht gewusst, was sie auf diese unvermeidliche Frage antworten würde, und hätte Achim ein bisschen weniger fordernd gefragt, hätte am Ende seines Satzes wirklich ein Fragezeichen gestanden, wäre sie seinen Bedenken vielleicht zugänglich gewesen.
Am Nachmittag kaufte sie in einem Geschäft in der Lietzenburger Straße, das ihr wegen seines Namens »Hundehütte« früher schon aufgefallen war, Leine, Halsband, zwei Näpfe aus Edelstahl, einen roten und einen gelben Vollgummiball und ein halbes Pfund Hundekeks.
Obwohl Achim zu dem Tier allmählich Vertrauen fasste, ihm ab und zu auch ein Stück Wurst oder eine joviale Redensart zuwarf, na, du alter Rabauke, oder, komm her, du Stinktier, oder Ähnliches, obwohl er gerührt war, wenn der Hund ihm den Kopf zwischen die Knie schob, um sich die Ohren streicheln zu lassen, blieb der Hund eine ungeklärte Angelegenheit, in der Achim mal eine Kampfansage, mal einen Vorwurf vermutete. Er beteiligte sich zwar an der Namenssuche, hielt aber Lauras Vorschlag, ihn nach der Autobahnabfahrt, an der Johanna ihn gefunden hatte, Bredow zu nennen, für literarisch zu belastet, was Laura, die von Willibald Alexis noch nie etwas gehört hatte, blödsinnig fand. Achim sagte, Hunde müssten Struppi, Lumpi oder Strolchi heißen. Sie nannten ihn trotzdem Bredow.
Ihr Nachbar, ein kompakter, schnurrbärtiger Mann um die fünfzig, der einen beißenden Dunst aus Deo und Schweiß verströmte, setzte seine Kopfhörer auf, und Johanna nutzte die Gelegenheit, um die Armlehne zwischen ihnen zu erobern. Seine Begleiterin tat, scheinbar absichtslos, das Gleiche, obwohl sie am Gang saß und wenigstens ihren rechten Arm frei bewegen konnte. Die beiden waren ihr wegen der Gepäckberge, die sie aufgegeben hatten, schon in Berlin aufgefallen. Zwölf Stunden bis Mexico City, und erst zwei Stunden lagen hinter ihnen. Eigentlich wollte sie Bredow mitnehmen auf die Reise. Sie hatte sich nicht vorstellen können, sich für Wochen, vielleicht sogar Monate von ihm zu trennen. Aber er war zu groß, um im Passagierraum mitzufliegen, und hätte als Gepäckstück verladen werden müssen.
Elli hatte behauptet, das würde dieser ohnehin neurotische Hund nicht überleben. Die kriegen nicht mal was zu trinken, schrie sie, und können verloren gehen wie ein Koffer. Und dann, was machst du dann?
Nimmst du ihn? fragte Johanna.
Wie denn? Warum lässt du ihn nicht bei Achim?
Unmöglich.
Sie saßen im »Diener« am Savignyplatz. Johanna wäre lieber ins »M« gegangen, wo es immer ein gutes Risotto gab, aber Ellis Bereitschaft, das exaltierte Flair erfolgreicher Jungakademiker und Künstler zu ertragen, erschöpfte sich in ihrem redaktionellen Alltag, sodass, wenn Johanna den Abend nicht in einer beliebigen Bierkneipe verbringen wollte, das »Diener«, wo der Wirt Elli mit Handschlag begrüßte, als einziger Kompromiss blieb. Sie bestellten Hefeweizenbier und Bouletten, für Elli noch einen Wodka.
Hier ist wenigstens alles, wie es immer war, sagte Elli und vergewisserte sich mit einem dankbaren Blick, dass auch wirklich alle Bilder der Berühmtheiten, die hier je ein Bier getrunken hatten, noch an den tabakfarbenen, von den Ausdünstungen zweier Generationen durchtränkten Wänden hingen, die, wenn man dem Wirt glauben durfte, seit über dreißig Jahren durch keinen Pinselstrich und keinen Tropfen Farbe entweiht worden waren. Hier hatten sie sich auch zum ersten Mal wiedergesehen, nach fast fünf Jahren. Elli hatte sie morgens um drei geweckt und etwas durchs Telefon geschrien, das Johanna anfangs nicht verstand, weil nur wildes Gegröle wie aus einem Fußballstadion durch den Hörer dröhnte und weil sie, was Elli ihr mitteilen wollte, nicht für möglich hielt: Die Mauer ist auf, und »Diener«, Grolmannstraße, schrie sie. Sie brauchten zwei Stunden oder länger. Elli stand inmitten eines unüberschaubaren Menschengewühls am Tresen, ein Bier in der Hand, das sie Johanna, nachdem sie sich zueinander durchgekämpft hatten und endlich in die Arme fielen, zur Hälfte über den Mantel goss. Aus den zahllosen, im Tabaknebel wie zu einem Muster verschmolzenen Gesichtern tauchte unverhofft hier und da ein einzelnes auf, das jemandem gehörte, den Johanna einmal gekannt hatte, einem, der weggegangen war wie Elli, eines Tages verschwunden, ein paar Kilometer weiter im irdischen Jenseits hinter der Mauer, für immer. Und plötzlich waren sie wieder da, wie im Märchen, wenn der Zauber gebrochen ist und die in Steine oder Tiere Verwandelten wieder menschliche Gestalt annehmen, so standen sie plötzlich im »Diener«, umarmten, weinten, küssten, brüllten ihr Glück in die Welt und tranken Bier: Der Architekt, der ihnen die Badewanne...




