E-Book, Deutsch, 280 Seiten
Marley Inspector Swanson und die Mathematik des Mordens
1. Auflage 2019
ISBN: 978-3-940855-97-8
Verlag: Dryas Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Ein viktorianischer Krimi
E-Book, Deutsch, 280 Seiten
Reihe: Inspector Swanson: Baker Street Bibliothek
ISBN: 978-3-940855-97-8
Verlag: Dryas Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Robert C. Marley, geboren 1971, ist Autor, Kriminalhistoriker, Goldschmiedemeister und Mitglied des Syndikats - der Vereinigung deutschsprachiger Krimiautoren. Seit seiner Jugend liebt er Sherlock Holmes und Agatha Christie und besitzt ein privates Kriminalmuseum. Der Autor lebt mit seiner Frau und zwei Söhnen in einer sehr alten Stadt in Ostwestfalen.
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Kapitel 2
New Scotland Yard,
London, 29. Dezember 1894
»Was haben Sie für mich, Penwood«, fragte Chief Inspector Donald Swanson, als er an diesem Morgen um halb sieben seinen Dienst im Yard antrat. Er erwartete nicht viel von seinen Untergebenen. Eine ordentlich bis zum Kragen zugeknöpfte Uniform, dass sie sich bei der Begrüßung das Salutieren und das Hackenzusammenschlagen abgewöhnten, das ihnen von Commissioner Charles Warren vor all den Jahren eingebläut worden war, und dass sie gute Laune hatten.
»Guten Morgen, Sir!« Sergeant Penwood schlug die Hacken zusammen und hakte sich die obersten drei Knöpfe seiner Uniform zu. »Wenn Sie mögen, hab ich einen schönen heißen Tee für Sie, Sir.« Zumindest was die gute Laune betraf, war Penwoods Verhalten vorbildlich. »Habe eben welchen aufgegossen.« Und er machte Anstalten, hinaus in die Teeküche zu eilen.
»Penwood?«
Der Sergeant war bereits auf dem Flur, als er umkehrte und den Kopf wieder ins Büro streckte. »Sir?«
»Tee wäre großartig«, sagte Swanson in mildem Tonfall. »Und dann erzählen Sie mir, was gestern Abend los war.« Er lächelte.
Derweil Penwood in der Teeküche lautstark mit dem Geschirr herumhantierte und die Tassen klirrten und klapperten, ging Swanson die liegen gebliebenen Papiere auf seinem Schreibtisch durch.
Das Schreiben eines verrückten Lehrers aus Blackheath, der eine absurde Theorie entwickelt hatte, nach der es ihm möglich sei, das Versteck eines Kriminellen allein anhand der Orte zu bestimmen, an denen er seine Verbrechen verübt hatte; einen Bericht der Forensischen Abteilung, in dem es hieß, es sei Sergeant Charles Stedman gelungen, bei dem Versuch, den Marsh-Test auf Arsen zu verbessern, eine neue Art von Sprengstoff zu entdecken; den Antrag in dreifacher Ausfertigung von Sergeant Collins aus derselben Abteilung auf zwei frische Schweinehälf- ten.
Und die üblichen Verhaftungen: Ein Taschendieb, der den Fehler gemacht hatte, einen Copper zu bestehlen, der ein Bierlokal überwachte. Ein Straßenhändler, der versucht hatte, echte Goldringe aus Kupfer zu verkaufen. Ein Ladendieb. Zwei Dirnen, die einen Gentleman mittleren Alters in einem Hauseingang am Leicester Square zur Herausgabe seiner Geldbörse überredet hatten, derweil dessen Gattin in einem Geschäft Besorgungen machte. Und die Gattin des Gentlemans mittleren Alters, den die zwei Dirnen in einem Hauseingang am Leicester Square zur Herausgabe seiner Geldbörse überredet hatten. Und …
Swanson musste den Absatz zwei Mal lesen.
Augenscheinlich war die Frau des Gentlemans mittleren Alters früher als erwartet von ihren Besorgungen zurückgekehrt und hatte ihren unkeuschen Ehemann dabei erwischt, wie er mit beiden Händen unter den ausladenden Röcken nach etwas Abwechslung suchte, und hatte daraufhin mit ihrem Schirm auf den armen Kerl eingedroschen. Erst nachdem einige Passanten beherzt eingeschritten waren, hatte die entrüstete Frau widerwillig von ihm abgelassen. Der Gentleman mittleren Alters war daraufhin mit schweren Kopfverletzungen ins Krankenhaus und die drei Damen auf die nächste Wache gebracht worden.
Swanson schmunzelte. Und er fragte sich nicht zum ersten Mal, weshalb die Menschen dermaßen besitzergreifend waren? Wie viele waren schon aus Liebe getötet, wie viele Männer und Frauen aus Liebe zu Mördern geworden und hatten dafür mit dem Strick des Henkers bezahlt? Musste denn ein einmal gegebenes Ehegelöbnis tatsächlich bis zum Jüngsten Tag eingehalten werden?
Bei ihm und Annie war es so, dessen war er sich sicher, denn ihre Liebe war in all den Jahren nicht schwächer, sondern eher noch stärker geworden. Und die Kinder hatten sie noch mehr zusammengeschweißt. Würde Annie sich jedoch eines Tages von ihm abwenden, weil er kaum zu Hause war, und sich in einen anderen Mann verlieben, er würde es verstehen. Er bezweifelte, dass es ihm leichtfiele, doch er würde sie nicht gegen ihren Willen an sich binden.
Swanson stand auf, trat ans Fenster und blickte nach draußen in die Dunkelheit des anbrechenden Tages, wo die große Stadt bereits zu vollem Leben erwacht war.
Am Embankment schoben sich die Fuhrwerke langsam und beschwerlich durch den tiefen, über Nacht gefallenen Schnee, während die Straßenkehrer und die Kollegen in Uniform versuchten, der Lage Herr zu werden. Vor der Westminster Bridge begann sich der Verkehr bereits zu stauen.
Penwood kam mit dem Tee herein, die dicken Brillengläser beschlagen. Er stellte den dampfenden Becher auf die Fensterbank, nahm blinzelnd seine Brille ab und putzte sie mit dem Zipfel seiner Uniformjacke. »Hier, Sir. Lassen Sie ihn sich schmecken.«
»Danke«, sagte Swanson. »Dürfte der kälteste Winter sein, den wir jemals hatten. Oder was denken Sie, Clarence?«
»Weiß nicht, Sir.« Penwood trat verlegen von einem Bein auf das andere. Die ungewohnte Vertraulichkeit sei- nes Vorgesetzten schien den Sergeant etwas aus der Fassung gebracht zu haben. »Wird wohl so sein, wenn Sie es sagen.«
Swanson stieß sich mit beiden Händen vom Fenstersims ab und wandte sich zu Penwood um. »Kommen Sie, gehen wir die Berichte der letzten zwölf Stunden durch«, sagte er. »Irgendetwas Besonderes?«
Der Sergeant wurde schlagartig blass. »Auswendig, Sir?«
»Weil gerade Weihnachten war, dürfen Sie Ihren Block benutzen.«
»Danke, Sir«, entgegnete Penwood erleichtert. Dann schien ihm einzufallen, dass ihm das gar nichts nützen würde. »Die Berichte sind in meiner Ablage. Ich hole sie rasch.« Und er eilte zur Tür hinaus.
Swanson nahm den Becher mit beiden Händen von der Fensterbank und nippte an seinem Tee, derweil er wartete. Sein Büro war eiskalt, trotz des Feuers, das im Kamin prasselte, und er war froh, seine kalten Finger an dem heißen Becher wärmen zu können.
Das Weihnachtsfest lag lediglich ein paar Tage zurück, doch ihm kam es bereits wie eine Ewigkeit vor. Er hatte die wenigen freien Tage, die er im Kreise seiner Familie in Kennington verbracht hatte, über die Maßen genossen. Annie hatte für sie alle ein Festessen zubereitet, und die Kinder hatten anschließend mit glänzenden Augen und fiebriger Aufregung ihre Geschenke ausgepackt, die er für sie unter den Weihnachtsbaum gelegt hatte. Ankleidepuppen aus Karton für die Mädchen. Toffee für die Jungs und etwas Geld. Annie hatte ihm eine Weste gestrickt. Er trug sie auch jetzt. Wie all ihre Handarbeiten war sie ein Meisterwerk. Er selbst hatte ihr ein Buch und ein Bügeleisen geschenkt. Das violette Kleid, das sie in Warrens Geschäft in der Kennington High Street immer so bewundert hatte, wenn sie sonntags gemeinsam daran vorbeispaziert waren, war jenseits seiner finanziellen Möglichkeiten gewesen. Er schämte sich ein wenig dafür.
Penwood kehrte mit den Akten unter dem Arm ins Büro zurück. »Hab alles hier, Sir. Womit wollen Sie anfangen?«
»Am besten mit dem Anfang«, sagte Swanson und versuchte, das schlechte Gefühl abzuschütteln, das ihn bei dem Gedanken an Annies unerfüllte Wünsche beschlichen hatte. »Scheint mir das Vernünftigste zu sein.«
»Die entlaufenen Katzen auch, Sir?«
»Ich glaube, die können wir zunächst vernachlässigen. Die kann Walter Dew übernehmen. Er liebt Katzen und alles Entlaufene. Also, was haben wir?«
Penwood leckte seinen Daumen an und blätterte den Aktenordner auf. »Da wäre als Erstes der Einbruch ins Charing Cross Hospital. Der oder die Täter kamen durch ein Fenster auf der Rückseite der Krankenhausapothe- ke.«
»Ist bereits bekannt, was gestohlen wurde?«
»Daran arbeiten wir noch«, entgegnete Penwood, nahm seine Brille ab und setzte sie gleich wieder auf. Ein sicheres Zeichen dafür, dass er keinerlei Ahnung hatte, dachte Swanson. Genauso hatte er selbst reagiert, als er ein Sergeant gewesen war, nur dass er dafür seinen Bowler benutzt hatte.
»Sie haben jemanden hingeschickt, der das Inventar überprüft, nehme ich an.«
»Selbstverständlich. Detective Constable Japp arbeitet daran. Er überwacht die Aufräumarbeiten.«
»Die Täter haben die Apotheke demnach verwüstet?«
»Das kann man wohl sagen. Da ist kein Stein auf dem anderen geblieben.«
»Warum haben sie das getan? Was meinen Sie, Clarence?«
»Vielleicht haben sie nicht gleich das gefunden, wonach sie suchten.«
»Oder?«
»Oder, Sir?«
»Oder sie wollten es uns absichtlich schwer machen«, sagte Swanson und rieb sich nachdenklich das Kinn. »Im Chaos ist das, was fehlt, viel schwerer zu finden, denken Sie nicht auch?«
»Könnte stimmen, Sir.«
»Sehen Sie zu, dass man an der Sache dranbleibt. Ich möchte wissen, was gefehlt hat, wenn die Aufräumarbeiten beendet sind.«
»Ich sorge dafür, Sir.«
»Wer ist eigentlich dieser Japp?«, fragte Swanson. »Ich habe noch nie von ihm gehört.«
»Ist uns letzten Monat vom Revier Bow Street zugeteilt worden. Hat die Polizeischule in Hendon mit Auszeichnung verlassen. Ein richtiger Überflieger. Weiß mehr über Spurensicherung als Chief Superintendent Wallace.«
»Was kein Wunder ist«, bemerkte Swanson. »Alles, was Chief Superintendent Wallace über die Spurensicherung weiß, ist, dass es sie gibt.«
»Wie dem auch sei, Sir – Constable Japp ist an der Sache dran.«
»Wenn er weiß, was die Täter mitgenommen haben, erwarte ich seinen Bericht – umgehend.«
»Selbstredend, Sir.« Penwood nahm abermals seine Brille ab und setzte sie gleich darauf wieder auf. Wahrlich kein...