E-Book, Deutsch, Band 5, 250 Seiten
Marley Inspector Swanson und die Frau mit dem zweiten Gesicht
1. Auflage 2018
ISBN: 978-3-940855-81-7
Verlag: Dryas Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Ein viktorianischer Krimi
E-Book, Deutsch, Band 5, 250 Seiten
Reihe: Inspector Swanson: Baker Street Bibliothek
ISBN: 978-3-940855-81-7
Verlag: Dryas Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Robert C. Marley, geboren 1971, ist Autor, Kriminalhistoriker, Goldschmiedemeister und Mitglied des Syndikats - der Vereinigung deutschsprachiger Krimiautoren. Seit seiner Jugend liebt er Sherlock Holmes und Agatha Christie und besitzt ein privates Kriminalmuseum. Der Autor lebt mit seiner Frau und zwei Söhnen in einer sehr alten Stadt in Ostwestfalen.
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Sie lag im Bett, zitternd vor Angst.
, flüsterte die Stimme in ihrem Nacken. .
Es war eine leise, kratzende Stimme. Sie kannte sie mittlerweile wie ihre eigene. Anfangs hatte sie angenommen, sie würde mit der Zeit verstummen – Louisa hatte versucht, sie so gut es eben ging zu ignorieren.
Doch die Stimme blieb.
Sie sprach mit ihr.
Sie flüsterte.
Sie schmeichelte ihr, und sie drohte.
Wisperte. Wisperte. Wisperte. Unablässig wisperte diese Stimme.
Und sie machte Louisa Angst. Auf eine Art, wie keine der anderen Erscheinungen in diesem Haus ihr je Angst gemacht hatten. Sie hörte sie nun beinahe jede Nacht. Und das war das Schlimmste.
Louisa zog sich die Decke bis zur Nase über das Gesicht. Minutenlang wartete und lauschte sie in die Schwärze des nächtlichen Zimmers. Was würde die Stimme als Nächstes sagen? Würde sie ihr wieder drohen, wenn sie sich abermals verweigerte?
Dabei benötigte Louisa nichts dringender als Ruhe. Ein paar Tage Entspannung. Nichts weiter. Nur ein paar Tage, an denen sie allein mit sich wäre. Allein mit ihren Gedanken, ohne für andere da sein zu müssen. Allein mit sich selbst und ihren Bedürfnissen. Ohne die Geister. Ohne die Stimmen. Ohne die vielen Menschen, die sie tagtäglich belästigten, um mit den Verstorbenen Kontakt aufzunehmen.
Louisa fragte sich manchmal, ob es diesen Leuten nicht bewusst war, dass die toten Verwandten, so lieb sie einem auch im Leben gewesen sein mochten, vielleicht gar kein Interesse daran hatten, weiter mit ihnen zu kommunizieren. Vielleicht, so dachte Louisa in letzter Zeit oft, wollten die Geister selbst auch nichts anderes, als endlich in Ruhe gelassen zu werden. Als endlich tot sein zu dürfen. Als endlich schlafen zu können. Für immer …
Lass mich in Ruhe, dachte sie. Lass mich schlafen. Lass mich endlich schlafen!
Den Atem anhaltend, lauschte sie in die erdrückende Stille, die seit dem letzten Wort der geisterhaften Stimme auf ihrer Brust lastete wie eine schwere Decke.
Louisa zwang sich zur Ruhe. Mit klopfendem Herzen lag sie da. Horchte, wartete angespannt, ob die Stimme abermals zu sprechen beginnen würde.
Doch die Stimme schwieg. War sie eingeschlafen? So, wie sie die Stimme des anderen Gesichts kannte, würde sie nur für ein paar Minuten Ruhe geben. Sie sprach in letzter Zeit des Nachts vor dem Einschlafen so häufig zu ihr, dass sie sich des Eindrucks nicht erwehren konnte, sie schliefe die meisten Stunden des Tages, ruhte sich aus, nur um sie des Nachts mit ihrem unheimlichen Geflüster umso hartnäckiger quälen zu können. Es kam ihr so vor, als fände diese Stimme ein teuflisches Vergnügen daran, sie langsam, aber stetig in den Irrsinn zu treiben.
Doch sie wollte nicht länger zuhören. Sie hatte die Stimmen satt.
Sei still!, dachte sie. Sei bitte endlich still!
Sie konnte das Geflüster kaum mehr ertragen. Louisa spürte, wie sich die Härchen auf ihren Armen und in ihrem Nacken aufstellten. Und als sie die leise, nagende Stimme abermals vernahm, schlug sie rasch die Decke zurück, schwang die Beine aus dem Bett und suchte mit den nackten Füßen panisch nach ihren Pantoffeln.
Sie waren nicht dort, wo sie sie hingestellt hatte. Die Decke glitt zu Boden, und sie sprang auf die Füße.
Im Zimmer war es stockfinster. Nicht ein Lichtstrahl der Laternen, die den Berkeley Square umstanden und ihn für gewöhnlich nachts in flackernden gelben Schein tauchten, drang von draußen durch die hohen Fenster herein.
Louisa hatte das Gefühl, der Raum um sie herum würde in seiner undurchdringlichen Schwärze immer größer und größer werden. Die Hände vor sich ausgestreckt, tappte sie im Dunkeln vorwärts, bis sie die Wand vor sich ertastete. Irgendwo musste doch die verdammte Tür sein.
Panisch schlug sie mit den flachen Händen gegen die Täfelung der Wand.
»Lasst mich in Frieden!«, schrie sie verzweifelt. »Geht weg! Lasst mich in Ruhe! Ich will euch nicht!«
Ein eisiger Windhauch streifte ihre Schultern, und sie schrie laut auf. Dann ertasteten ihre zittrigen Finger plötzlich den kalten Türknauf. Louisa drehte ihn und zog daran. Doch das Türblatt rührte sich nicht. Sie zog abermals daran – doch es bewegte sich nicht einen Millimeter.
Sie wusste ganz genau, dass sie die Tür nicht abgeschlossen hatte; sie hätte es gar nicht tun können, denn ihr Bruder hatte sämtliche Schlüssel im Haus entfernt. Doch aus irgendeinem Grund bewegte sich die Tür nicht.
Louisa schrie. Schrie, so laut sie nur konnte. Und in ihrer Panik hämmerte sie weiter mit den flachen Händen gegen die Tür.
»Hilfe!«, schrie Louisa. »Hilfe! Hilfe!«
Dann wurde die Tür mit einem Mal aufgerissen. Sie öffnete sich zum Gang, und Louisa stolperte vorwärts. Direkt in die Arme des Mannes, der sie geöffnet hatte.
Es war Dr. Brian Gosport, ihr Leibarzt.
»Miss Louisa!«, sagte er. Sein Blick war sorgenvoll. Sein Atem roch nach Whisky. »Was ist geschehen?«
»Oh, Doktor.« Sie schlang ihre Arme um ihn und barg Schutz suchend ihr Gesicht an seiner kräftigen Brust. »Ich … ich …« Sie verstummte.
»Was um Himmels willen ist passiert?«, fragte er. »Ich habe Sie schreien hören. Haben Sie schlecht geträumt?«
Geträumt, dachte Louisa. Oh, Gott, könnte ich doch nur träumen. Sie begann zu schluchzen. Sie klammerte sich an Dr. Gosport, als sei er der einzige Mensch auf dieser Welt. Es war ein gutes Gefühl, seine körperliche Anwesenheit zu spüren. Sie sog den Geruch seines Rasierwassers ein und fühlte sich so sicher und geborgen, wie sie sich seit Langem nicht gefühlt hatte. »Ich …«, begann sie, doch die Stimme versagte ihr, und sie verfiel erneut in haltloses Schluchzen.
»Sie sind in Sicherheit, Madam«, sagte Dr. Gosport. Er legte ihr die Hände auf den Rücken. »Sie sind in Sicherheit. Ich bin ja bei Ihnen.«
»Die Stimme«, hauchte sie. »Diese grässliche Stimme.«
»Jetzt kann Ihnen nichts mehr geschehen«, sagte er. »Ich bin hier. Ich bin hier.«
Louisa warf einen Blick zurück in ihr Zimmer. Die Dunkelheit dort schien so massiv zu sein wie schwarzes Eis. Trotz der Gaslampen an den Wänden des Korridors drang keinerlei Licht über die Schwelle. Sie war froh, endlich in Gesellschaft zu sein.
»Geht es Ihnen besser, Madam?« Dr. Gosport machte ihre Arme von sich los, hielt ihre Hände und sah sie freundlich an. »Sie haben sicher bloß schlecht geträumt.«
»Ich danke Ihnen«, sagte sie.
»Verflucht noch mal, was ist das für ein unsäglicher Lärm?« Es war Victor, ihr Bruder, der das Zimmer neben ihr bewohnte, sich eben den Gürtel seines Morgenmantels um die Hüften wickelte und mit ernstem, ärgerlichem Gesicht und wirren schwarzen Haaren über den Flur auf sie und Dr. Gosport zueilte. Einen Meter vor ihnen blieb er stehen. Er sah zwischen Louisa und Dr. Gosport hin und her. »Was ist hier los?«, fragte er. Dann änderte sich schlagartig sein Gesichtsausdruck, und er nahm ihre Hände. »Großer Gott, Louisa, du zitterst ja. Was ist denn geschehen, um Himmels willen?«
»Miss Louisa hat schlecht geträumt«, sagte der Arzt. Er legte ihr beide Hände auf die Schultern, und Louisa spürte, wie sich ein wohlig warmes Gefühl von Beruhigung über ihren Rücken ausbreitete.
»Es ist das Haus, Victor«, sagte Louisa ein wenig atemlos. »Es … es ist verflucht.«
»Ach, rede keinen Unsinn«, meinte ihr Bruder. Er ließ ihre Hände los. »Du bist ja völlig hysterisch.«
»Du weißt genau, dass es das Haus ist«, beharrte sie. »Du hast gesagt, du hättest es auch gespürt. Weißt du noch? Am Anfang, als wir das erste Mal herkamen, um es uns anzusehen. Du hast gesagt, es ist voller Geister.«
»Louisa.« Victor stieß einen Seufzer aus, lächelte sie an, die Stirn in Falten. »Ich habe nichts dergleichen gesagt. Jedenfalls sprach ich nicht von Gespenstern, die nachts durch die Zimmer geistern und ehrliche Leute erschrecken. Ich meinte die Geister der Vergangenheit, Louisa. Es ist ein geschichtsträchtiges Haus. Und wenn die Wände reden...