E-Book, Deutsch, Band 4, 264 Seiten
Marley Inspector Swanson und das Schwarze Museum
1. Auflage 2017
ISBN: 978-3-941408-93-7
Verlag: Dryas Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Ein viktorianischer Krimi
E-Book, Deutsch, Band 4, 264 Seiten
Reihe: Inspector Swanson: Baker Street Bibliothek
ISBN: 978-3-941408-93-7
Verlag: Dryas Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Robert C. Marley, geboren 1971, ist Autor, Kriminalhistoriker, Goldschmiedemeister und Mitglied des Syndikats - der Vereinigung deutschsprachiger Krimiautoren. Seit seiner Jugend liebt er Sherlock Holmes und Agatha Christie und besitzt ein privates Kriminalmuseum. Der Autor lebt mit seiner Frau und zwei Söhnen in einer sehr alten Stadt in Ostwestfalen.
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Prolog
»Pflicht erkennen und tun, das ist die Hauptsache.«
Friedrich der Große
West Highgate Friedhof, London, 13. Januar 1894
Douglas Crouch fröstelte.
In einen dicken Übermantel gehüllt, die Tonpfeife im Mundwinkel und seine Blendlaterne mit ausgestrecktem Arm vor sich haltend, stapfte er in der Dunkelheit durch den knöcheltiefen Schnee, der während des Tages und der frühen Abendstunden gefallen war. Ab und an stampfte er, in dem hoffnungslosen Bemühen, seine zu gefühllosen Eisklumpen erstarrten Füße ein wenig aufzuwärmen, mit seinen schweren Stiefeln auf, ehe er seinen Weg fortsetzte.
Seit mehr als zwanzig Jahren schon versah er jetzt seinen Dienst auf Londons größtem und bedeutendstem Friedhof. Eine Aufgabe, die ihn seit Jahr und Tag mit Ehrfurcht erfüllte. Wenngleich auch eine sehr einsame Arbeit. Doch Crouch war gern allein. Die Dunkelheit und auch die Toten, die von steinernen Engeln bewacht in ihren Gräbern ruhten, ängstigten ihn nicht. Das hatten sie noch nie getan. Im Gegenteil – er liebte die Dunkelheit. Und Crouch liebte auch die Stille.
Besonders im Winter.
Alles war dann mit einer beruhigenden Schicht aus feuchtem Schnee bedeckt, die das Licht der kleinen Blendlaterne reflektierte, die meisten Geräusche dämpfte und ganz allgemein so etwas wie Frieden in sein Herz einkehren ließ.
Auch heute Nacht herrschte Stille. Nur ab und an drang der Schrei eines Kauzes an seine Ohren.
Als Crouch seinen Rundgang beinahe beendet hatte, vernahm er ein ungewöhnliches Geräusch. Es war nicht sehr laut. Nur ein Knacken. Aber irgendetwas irritierte ihn daran. Er hätte selbst nicht recht zu sagen vermocht, was. Doch es war kein gewöhnliches Geräusch gewesen, keines, das er ohne Schwierigkeiten einzuordnen imstande gewesen wäre. Kein Kaninchen, das seinen Bau im Bauch eines der Gräber verlassen und dabei einen Zweig unter seinem Leib zum Knacken gebracht hatte. Keine streunende Katze, kein Vogel, der in den Sträuchern nach Würmern pickte. Kein Geräusch, das um diese nachtschlafende Zeit hierher nach Highgate gehörte.
Es war ein ausgesprochen ungewöhnliches Geräusch gewesen!
Er blieb stehen. Lauschte. Nichts.
Dann ging er langsam weiter in die Richtung, aus der er glaubte, dieses seltsame Geräusch vernommen zu haben. Nach ein paar Schritten blieb er abermals stehen, hielt die Luft an und horchte.
Hm. Noch immer nichts.
Dabei war er sich sicher gewesen, in etwa zehn Yards Entfernung eine Bewegung wahrgenommen und, was viel wichtiger war, dieses ungewöhnliche, nein, dieses ausgesprochen ungewöhnliche Geräusch gehört zu haben. Es hatte beinahe geklungen, als sei jemand versehentlich auf einen trockenen, dürren Ast getreten und habe ihn dabei zerbrochen. Ein wirklich ausgesprochen ungewöhnliches Geräusch um diese Zeit.
Doch ausgesprochen ungewöhnliche Geräusche waren selten auf Highgate, und Crouch war sich sicher, sie nach all den Jahren deutlich von den gewöhnlichen unterscheiden zu können.
Crouch kannte den Herzschlag des Friedhofs genau, sein leises, gespenstisches Atmen, wenn der Wind, wie in dieser Nacht, sachte durch die Büsche und Bäume strich, das weinerliche Knarzen der Äste in den uralten Eichen, den Flügelschlag der Eulen und Fledermäuse und das Scharren und Huschen der Ratten.
Die Schatten ringsum waren beinahe erdrückend. Sie schienen mit jedem seiner Schritte weiter zusammenzurücken, schienen immer näherzukommen, immer weiter auf ihn einzudringen.
Zum ersten Mal verspürte er ein leises Gefühl von Angst. Es war wie kalter, lähmender Nebel, der ihm wie Wasser in die groben Stiefel schwappte und begann, an seinen Beinen empor und seinen Rücken hinaufzukriechen. Crouch versuchte, dieses neue, ihm bislang unbekannte Gefühl abzuschütteln, doch es gelang ihm nicht ganz.
Der weinberankte, von mächtigen dorischen Säulen gesäumte Bogengang der Egypts Avenue tauchte links von ihm auf. Zügig durchmaß er den schmalen, kopfsteingepflasterten Weg und erreichte die unter dem Namen Cedar Circle bekannten steinernen Ruhestätten, ein aus zahlreichen Mausoleen bestehendes Rondell, das die Erbauer vor Jahrzehnten um eine angeblich 200 Jahre alte Zeder herum errichtet hatten.
Der schwache gelbe Lichtkegel seiner Öllampe huschte über die mit Flechten bewachsenen Wände. Langsam und in jeden Winkel spähend ging Crouch um das Rondell herum. Er leuchtete in die Nischen, überprüfte die gitterbewehrten schwarzen Münder der Grüfte und fand alles in bester Ordnung.
Hier war keine Menschenseele.
Crouch erreichte die Treppe zum höher gelegenen Teil des Friedhofs und hastete sie hinauf. Auch hier schien sich niemand aufzuhalten. Mit der Lampe den unberührten Schnee vor sich ableuchtend, hielt Crouch nach frischen Spuren Ausschau.
Wenn der Eindringling, wer immer er sein mochte, nicht gerade zu fliegen imstande war – und dieser Möglichkeit widersprach Crouchs gesunder Menschenverstand vehement – so müsste er über kurz oder lang auf dessen Fußspuren stoßen.
Den Kopf gesenkt und die flackernde Laterne mit ausgestreckter Hand vor sich haltend, stapfte er langsam weiter.
Vielleicht, dachte Crouch gerade bei sich, war es doch nur der Wind gewesen oder eine große Katze auf Beutejagd, als er auf Höhe des Mausoleums endlich das fand, wonach er suchte.
Schnaufend schüttelte er den Kopf. Wut stieg in ihm auf und löste die Angst schlagartig ab.
Eine Spur fein säuberlich in den neu gefallenen Schnee getretener Fußabdrücke kreuzte seinen Weg.
Er folgte ihnen, bis er vor dem offenen Gittertor des Mausoleums stand. Die schwere Eisenkette, die es für gewöhnlich verschlossen hielt, lag wie eine tote Schlange am Boden. Er schob sie mit dem Fuß beiseite, öffnete vorsichtig das Tor und trat ein. Zuletzt war er hier vor etwa einer Stunde vorübergekommen und da war das Schloss der Kette noch intakt gewesen.
Die Kunst der Leichenräuberei war zwar seit Burke und Hare in den Zwanzigerjahren aus der Mode gekommen, doch Crouch ertappte sich bei dem Gedanken, gleich einer Bande von Sargdieben zu begegnen, wenn er um die Ecke bog. Doch nichts. Wieder nichts, dachte er. Und er fragte sich, warum jemand sich Zugang zum Mausoleum verschaffte? Womöglich ein Perverser? Jemand, der ohne Gattin war, um all die unaussprechlichen Dinge, die sonst im Geheimen des Schlafgemachs geschahen, mit jemandem auszuüben, der sich nicht zur Wehr setzte?
Seine Schritte hallten in dem alten Gemäuer wider, als Crouch langsam die Reihen abschritt und die einzelnen Gräber untersuchte.
Im Gegensatz zu den Erdbestattungen draußen auf dem Friedhof lagerten die Särge hier in Wandnischen. Jede war mit einer Holzluke verschlossen, die sich durch das Entfernen eines einfachen Drahtbügels aufklappen ließ und es so den Angehörigen erlaubte, ab und an Blumen vor die Särge zu legen.
Eine würdige Art der Bestattung, fand Crouch, auch wenn Charles Dickens das anders gesehen haben mochte. Dessen verstorbene Tochter war zunächst ebenfalls hier zur letzten Ruhe gebettet worden, ehe ihr Vater sie wieder herausholte und andernorts begraben ließ, da ihm das Mausoleum zu unwürdig, feucht und gruselig erschienen war.
Crouch leuchtete in jedes einzelne Fach. Doch so, wie es aussah, schien alles in bester Ordnung zu sein.
Als Crouch die Gruft wieder verließ und die Kette grob um die Eisenstangen des Gittertors wand, entdeckte er ein zweites Paar Spuren im Schnee. Es führte vom Eingang des Mausoleums dicht an der Wand entlang in Richtung Süden. Er wollte ihr gerade folgen, da glaubte er abermals eine Bewegung in den Schatten hinter sich wahrzunehmen.
»He! Wer ist da?«, rief er. Doch niemand antwortete. Crouch schwenkte die Blendlaterne hoch über seinem Kopf. Dann hörte er ungeschickte, zaghafte Schritte auf dem Weg, das Knirschen von Schnee und das Rascheln von Büschen.
Der Mond kam zwischen den Wolken hervor. Und jetzt sah er den Kerl auch. Eine gebückt gehende Gestalt, die sich zwischen den Gräbern verborgen hielt und versuchte, sich langsam davonzustehlen.
Wer immer das war, er hatte seine Rechnung ohne Douglas Crouch gemacht.
Mochten hier auf zehn Hektar Land auch 170000 Leichen liegen, für eine mehr war immer noch Platz. Der Friedhofswärter kannte jeden Fußbreit Boden, jedes Grab und jeden Stein auf diesem Friedhof. Und er würde es diesem neunmalklugen Eindringling schon zeigen, ganz gleich, was der auch im Schilde führen mochte.
Warte nur, Bürschchen, dachte Crouch und biss vor Wut die Zähne zusammen. Mit dem Daumen legte er den kleinen Hebel um, der das Öllicht seiner Laterne verdunkelte, klemmte sie sich in die Armbeuge und schlich langsam näher, wobei er einen leichten Bogen ging, was ihn hinter den Mann bringen würde.
Geräuschlos schlich er sich an. Die Gestalt kauerte zwischen zwei Grabsteinen. Crouch brauchte nur noch die Hand auszustrecken, um ihren Rücken zu berühren. Doch er tat es nicht.
Stattdessen brüllte er: »Was zum Teufel haben Sie hier zu suchen?«
Die dunkle Gestalt kippte vor Schreck nach hinten, strampelte mit Armen und Beinen und versuchte, wieder auf die Füße zu kommen.
»Gar nichts! Gar nichts!« Die Stimme eines verängstigten Mannes, der jetzt auf allen Vieren hockte. »Ich fürchte, ich habe mich verlaufen. Ich … äh … ich finde nicht mehr zurück.«
»Nun«, knurrte Crouch und trat dem Mann so kräftig in den Hintern, dass der der Länge nach hinschlug. »Ich werd’ Ihnen schon zeigen, wo’s hier lang geht.«
»Oh...