E-Book, Deutsch, 416 Seiten
Reihe: Ullstein eBooks
Marklund Prime Time
16001. Auflage 2016
ISBN: 978-3-8437-1289-7
Verlag: Ullstein HC
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Kriminalroman
E-Book, Deutsch, 416 Seiten
Reihe: Ullstein eBooks
ISBN: 978-3-8437-1289-7
Verlag: Ullstein HC
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Liza Marklund, geboren 1962 in Piteå, arbeitete als Journalistin für verschiedene Zeitungen und Fernsehsender, bevor sie mit der Krimiserie um Annika Bengtzon international eine gefeierte Bestsellerautorin wurde.
Weitere Infos & Material
SAMSTAG, 23. JUNI
Mittsommer
Der Wald hinter der Jugendherberge war eine Wand aus brüllendem Feuer. Er kämpfte sich durch Luft, die so dick war wie Brei, an Saltströms Hang vorbei zum Laden hinab. Das Grün hatte eine andere Farbe angenommen, zischte lila in der Hitze, die Kargheit der Landschaft war weggewischt worden, alles war jetzt grob und verzerrt. Die Felsen verbrannten seine Füße, er rannte zum Meer, zum kühlenden Nass, er wusste, dass die Antwort im Wasser lag. Wenn er es zum Ufer schaffte, würde die Bedrohung schwinden, Gällnö gerettet werden, das Haus wieder auferstehen, das Wasser ihn ruhig machen und abkühlen. Doch als er zum Ufer kam, kochte das Meer. Das brackige Wasser roch nach Schwefel und Asche, es blubberte wie Lava und leckte nach seinen Füßen.
Thomas erwachte mit einem Ruck. Die Sonne schien ihm direkt ins Gesicht und blendete ihn, als er die Augen aufschlug. Sein Haar war schweißnass. Er lag auf dem Wohnzimmersofa seiner Eltern, steif, verspannt und angezogen. An dem Gewicht seiner Füße, die über die Armlehne hingen, merkte er, dass er nicht einmal seine Gummistiefel ausgezogen hatte. Der Traum hing noch wie ein übel riechender Vorhang in seinem Kopf, er schluckte und schmeckte Asche und Feuer.
Igitt, dachte er, igitt.
Er setzte sich auf und glaubte, der Kopf müsste ihm zerspringen.
Nie wieder, nie wieder auch nur ein einziges Bier.
Kinderstimmen drangen durch ein offenes Fenster in das Zimmer. Am liebsten hätte er geheult.
Er war ein schlechter Vater.
Bilder huschten durch sein Bewusstsein, kurze Sequenzen, viel zu laut. Er sang, grölte, fiel und bemerkte verschwommen, wie seine Umgebung von ihm abrückte, sah Füße, die sich abwendeten.
»Aha, du bist also aufgewacht«, sagte seine Mutter von der Küchentür her. »Wie gut. Dann kannst du deiner Tochter die Windel wechseln. Sie hat reingemacht.«
Er sah zu seiner Mutter hoch, ihr Gesicht spiegelte den kurz angebundenen Ton wider, die Lippen waren zusammengepresst. Sie setzte ihm Ellen auf den Schoß. Der Gestank, der von der Windel ausging, verschlug ihm den Atem, und er hätte fast gekotzt.
»Ja klar«, sagte er und atmete durch den Mund, aber seine Mutter war schon wieder weg.
Das Mädchen quengelte und wollte sich auf seinem Schoß hinstellen. Er versuchte, sich aus dem Sofa zu hieven, konnte das Gleichgewicht aber nicht halten und musste noch einmal ansetzen. Dann torkelte er zum Badezimmer, auf dem einen Arm das Kind, mit der anderen Hand stützte er sich an der Wand ab, und kickte die Stiefel von den Füßen. Er breitete ein Handtuch auf dem gefliesten Fußboden aus und legte das Kind vorsichtig auf die harte Unterlage. Das Mädchen sah ihn an und lachte.
»Papa«, sagte sie. »Pap-ap-apa.«
Sie tatschte ihm auf die Nase, Thomas lächelte, riss die Klebestreifen hoch und schrak vor dem Gestank zurück. Als er die Windel wegzog, versuchte das Mädchen, sich auf den Bauch zu drehen, und verschmierte die Kacke auf dem Handtuch.
»Ellen, jetzt lieg doch still.«
Er musste ihr Bein festhalten, damit sie sich nicht in den Dreck stellte, das Kind schrie, Schweißtropfen sammelten sich auf seiner Stirn.
»He, meine Süße, jetzt lass mal den Papa …«
Das Mädchen verdrehte das andere Bein und fiel in die volle Windel. Er schloss die Augen und schluckte. Jetzt musste er sie baden.
Resolut stand er auf, griff das Kind um den Bauch, warf die Windel in den Mülleimer unter dem Waschbecken, ging zur Badewanne und drehte das Wasser auf.
Kalt. Er öffnete das Badezimmerfenster. Draußen saß seine Mutter mit Kalle im Garten.
»Mama«, rief er über das Rauschen des Wassers hinweg. »Es gibt kein warmes Wasser.«
»Dann ist es wahrscheinlich alle«, rief sie über die Schulter zurück. »Eleonor hat geduscht.«
Er blinzelte ein paar Mal, mit dem strampelnden Kind auf dem Arm erstarrt auf dem Badewannenrand sitzend. Eleonor? Hier?
Ohne weiter darüber nachzudenken, stellte er das Kind unter die Dusche. Das Mädchen schrie aus vollem Hals, als das eiskalte Wasser Bauch und Beine traf, und wand sich wie ein Aal, um loszukommen. Fast wäre sie ihm weggerutscht, der Schweiß lief ihm in die Augen.
Als er Ellen gewaschen und abgetrocknet hatte, sah sie ihn misstrauisch an, als hätte er einen Vertrauensbruch begangen. Auf seinem Arm wollte sie nicht sein, sondern wackelte los, auf die Veranda hinaus. Er setzte sich auf den Fußboden im Eingang und stützte den Kopf in die Hände. Seine Kehle brannte.
»Thomas!«, rief seine Mutter draußen.
Im nächsten Moment hörte er etwas die Verandatreppe herunterfallen, etwas Kleines und Weiches. Sein ganzer Körper erstarrte, er hörte auf zu atmen.
»O Gott, Ellen, was machst du!«, rief seine Mutter aus.
Ein herzzerreißender Laut drang zu ihm, er schoss hoch, rannte hinaus und sah seine Tochter am Ende der Treppe bäuchlings im Schotter liegen. Seine Mutter eilte schon zu dem Mädchen, sie schwankte auf ihrer kranken Hüfte, und funkelte ihn aufgeregt und wütend an.
»Was machst du denn, Thomas? Kannst du nicht auf das Kind aufpassen?«
Er sprang mit einem Satz die Treppe hinunter, war vor seiner Mutter da und nahm Ellen hoch. Sie hatte sich die Stirn aufgeschlagen, Blut lief ihr in die Augen, und sie weinte so heftig, dass sie keine Luft mehr bekam.
»Tut mir Leid«, flüsterte er, und Tränen der Scham schossen ihm in die Augen, »verzeih mir, mein Liebling, verzeih dem Papa, jetzt hast du dir wehgetan …«
Er pustete und wiegte, das waren ungewohnte Bewegungen für ihn, er genierte sich. Seine Mutter ging ins Badezimmer, um die Wundsalbe zu holen. Über die Schulter des Kindes hinweg sah er Kalle bei Zimtschnecken und Saft traurig und verwirrt auf einer Gartenbank sitzen. Der Junge sah ihn an und ließ daraufhin die Zimtschnecke ins Gras fallen, um von der Bank herunterzuklettern. Als er über die Armlehne stieg, warf er sein Saftglas und die Kaffeetasse seiner Großmutter um.
»Meinst du, das muss genäht werden?«, fragte seine Mutter und hielt eine mit Chlorhexidin getränkte Kompresse gegen Ellens Stirn.
Er nahm die Gaze und tupfte vorsichtig die Wunde ab. Das Kind wollte den Kopf wegdrehen.
»Nein«, sagte er heiser, »es ist nur eine Schürfwunde, nicht tief.« Langsam erstarb das Weinen, nur der kleine Körper wurde noch sachte geschüttelt.
»Papa, ich habe mich hier auch ein wenig gestoßen«, sagte Kalle und streckte Thomas seine von Saft und Hagelzucker klebrige Hand hin.
»Ojemine, dann muss ich da ja auch gleich mal pusten«, sagte er. »Kann ich erst noch ein wenig bei deiner Schwester pusten?«
Der Junge nickte und hielt sich an seinem Hosenbein fest.
»Hallo, Thomas«, sagte eine Stimme hinter ihm.
Ihm blieb das Herz stehen. Er schloss die Augen und holte tief und geräuschlos Luft. Am liebsten wäre er gestorben.
»Hallo, Eleonor«, sagte er und drehte sich um.
Als Erstes fiel ihm ihr Haar auf. Sie trug es ganz kurz und ein wenig struppig, mit hellen Strähnchen. Sie war größer, als er sie in Erinnerung hatte, weicher.
Mein Gott, dachte er, wie gut sie aussieht.
Die Frau, mit der er dreizehn Jahre lang verheiratet gewesen war, reichte ihm die Hand und lächelte.
»Schön, dich zu sehen«, sagte sie.
Er hob das Mädchen auf den linken Arm hinüber und nahm Eleonors Hand. Sie war warm und trocken.
»Ganz meinerseits«, erwiderte er.
»Das ist also das Wunderwerk«, sagte sie und lächelte das Kind an. Ihre Stimme war völlig frei von Bitterkeit.
»Kalle und Ellen«, sagte er.
Sie lächelte ihn an. Die Sonne ließ ihr Haar glänzen, ihr Blick war braun und warm.
»Ja«, sagte sie, »ich weiß.«
Aus dem Haus seiner Eltern kam ein Mann und stellte sich schräg hinter Eleonor. Sie legte die Hand auf seinen nackten Arm.
»Das ist Martin«, erklärte sie.
»Sehr erfreut«, sagte der Mann und reichte ihm eine braun gebrannte und feste Hand.
Thomas lächelte, bis ihm der Kiefer wehtat. Martin? Was war denn das für ein Typ?
»Du warst gestern schon weggetreten, als Eleonor und Martin kamen«, sagte seine Mutter in leicht säuerlichem Ton und tätschelte den beiden jeweils den Arm, als sie an ihnen vorbei ins Haus ging. »Ihr nehmt doch sicher einen Kaffee, oder?«
Thomas entschuldigte sich und floh mit dem Kind ins Badezimmer. Dort stellte er das Mädchen auf den Fußboden und suchte im Schrank nach Pflaster. Er fuhr zusammen, als er sein Gesicht im Spiegel sah: Es war fleckig und rot, die Augen verwirrt und blutunterlaufen, fettige Haare, nicht rasiert. Sein Gaumen brannte. Er füllte ein Zahnputzglas mit eiskaltem Wasser und trank gierig.
»Papa«, sagte das Mädchen zu seinen Füßen, schlug an sein Bein, sah zu ihm hoch und lächelte mit acht Zähnen.
Er bereitete das Pflaster vor, bückte sich, strich eine Locke aus dem Gesicht des Kindes und drückte es fest.
»Ellen«, flüsterte er, »Papas Ellen.«
Er zog das Mädchen an sich, spürte die Wärme und atmete ihren süßen Geruch ein.
»Papa«, sagte sie und legte die Arme um seinen Hals.
»Gunnar Antonsson?«
Der Technical Operation Manager stand schnell auf. Er hatte gar nicht gehört, dass die Frau die Tür geöffnet hatte.
»Ich heiße Karin Lindberg«, sagte sie und streckte die Hand aus. »Staatsanwältin und Leiterin der Voruntersuchungen in diesem Fall. Darf ich mich setzen?«
Der Mann sammelte sich, nickte und zeigte erst auf das Bett, dann auf den Stuhl. Die Staatsanwältin zog ihren Rock zurecht und setzte sich mit übereinander geschlagenen Beinen hin, die Hände auf den Knien.
Eine elegante...