E-Book, Deutsch, 384 Seiten
Reihe: Ullstein eBooks
Marklund Jagd
15001. Auflage 2015
ISBN: 978-3-8437-1073-2
Verlag: Ullstein HC
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Kriminalroman
E-Book, Deutsch, 384 Seiten
Reihe: Ullstein eBooks
ISBN: 978-3-8437-1073-2
Verlag: Ullstein HC
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Liza Marklund, geboren 1962 in Piteå, arbeitete als Journalistin für verschiedene Zeitungen und Fernsehsender, bevor sie mit der Krimiserie um Annika Bengtzon international eine gefeierte Bestsellerautorin wurde.
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Das Haus lag einsam am Ende der Straße, unweit des kleinen Bahnhofs.
Annika Bengtzon schaltete den Scheibenwischer aus, beugte sich vor und blinzelte durch die Windschutzscheibe. Die Heizung spuckte ihr übelriechende Warmluft ins Gesicht. Sie stellte das Gebläse kleiner und ließ den Blick über die Straße schweifen.
Die Polizei von Nacka hatte den Wendeplatz und den hinteren Teil der Fahrbahn abgesperrt, ebenso das gesamte Grundstück und Teile des Rasens auf dem Nachbargrundstück. Einige andere Journalisten hatten schon am Straßenrand Stellung bezogen und saßen entweder in der Wärme hinter beschlagenen Scheiben oder lungerten an der Absperrung herum. Die erste Eilmeldung hatte besagt, Ingemar Lerberg sei tot, das wurde dann aber zu »sehr schwer verletzt« revidiert. Der anfängliche Fehler war aller Wahrscheinlichkeit nach der Grund für diesen bemerkenswerten Medienauflauf. Ein ermordeter Politiker war immerhin ein ermordeter Politiker. Auch wenn er nur im Sozialausschuss von Nacka saß. Zudem war Lerberg ein umstrittener Parlamentsabgeordneter gewesen, einer von denen, über die es im Archiv reichlich Bildmaterial gab.
Annika holte tief Luft. Gewalt löste immer noch Unbehagen in ihr aus, fast genauso sehr wie große Horden von Journalisten.
Sie beschloss, so lange wie möglich im Auto sitzen zu bleiben.
Das Wohnhaus lag auf dem hinteren Teil des Grundstücks und war stellenweise von einer spärlichen Fliederhecke und einigen Apfelbäumen verdeckt. Allesamt tropfnass. Hinter dem Haus erhob sich eine gelbgraue felsige Anhöhe, die mit altem Gras überwachsen war. Dies war kein besonders beeindruckendes Haus. Rot gestrichen mit weißen Kanten und Mansardendach. Wahrscheinlich in den zwanziger Jahren erbaut und dann in den Siebzigern mit neuer Fassade und Panoramafenstern versehen. Der misslungene Versuch, mit der Zeit zu gehen. Es würde schwierig werden, diese Hütte entsprechend den Vorstellungen des Nachrichtenchefs in eine Luxusvilla zu verwandeln. Aber solche Probleme machten sie nicht mehr sonderlich nervös. Alles war relativ, im Zweifelsfall eine Frage der Formulierung. Für ihre Mutter in Hälleforsnäs galt eine umgebaute Holzhütte in Saltsjöbaden absolut als Luxusvilla. Es würde schon gehen.
Einen kurzen Moment wunderte sie sich über ihre pragmatische Herangehensweise. Seit wann dachte sie eigentlich so?
Lerberg war ins Krankenhaus gebracht worden, so viel wusste sie. Auf YouTube konnte man sich schon ein mit der Handykamera aufgenommenes Video ansehen, das zeigte, wie er mit dem Rettungswagen abtransportiert wurde. Bilder-Pelle hatte mit dem Urheber Kontakt aufgenommen und ihm Geld dafür geboten, dass sie das Video auf der Homepage des Abendblatts veröffentlichen durften, war aber dem zahlungskräftigeren Konkurrenten unterlegen.
Der Regen wollte nicht nachlassen. Ein großer Ü-Wagen bog in die enge Straße ein und parkte so, dass er ihr den Blick auf das Haus versperrte. Es gab wohl keine Ausrede mehr. Sie machte den Motor aus, zog sich die Kapuze ihrer Regenjacke über den Kopf, hängte sich die Tasche über die Schulter und griff nach dem Stativ. Als sie aus dem Wagen stieg, fuhr ihr sofort der Wind unter die Regenjacke. Es war wirklich saukalt. Sie sagte kurz den Leuten von TV4 und der Morgenzeitung hallo, täuschte aber vor, Bosse vom Konkurrenten nicht zu sehen, der hinten am Wendeplatz stand und viel zu laut in sein Handy sprach. Sie warf einen Blick auf ihre Armbanduhr. Zwar hatte sie die Kinder in dieser Woche nicht und musste nicht so genau auf die Zeit achten, aber sie wollte trotzdem möglichst schnell wieder hier weg. Jimmy, ihr Lebensgefährte, wollte am Abend für sie kochen, und sie hatte versprochen, rechtzeitig zum Essen da zu sein. Und hier gab es ja wirklich gar nichts Exklusives, nichts auszugraben oder zu enthüllen, reine Pflichtberichterstattung. Schnell und effektiv. Ein paar Aufnahmen für das Web TV und ein Zitat von einem Polizisten, und dann musste sie nur noch aus den bruchstückhaften Fakten eine Geschichte zusammenstricken.
Im eigenen Haus einem Gewaltverbrechen zum Opfer gefallen. Sehr schwer verletzt.
Sie stellte das Dreifußstativ vor dem Absperrband auf die Straße, nur ein paar Meter vom Reporter des Lokalradios entfernt, grub die Videokamera aus ihrer Tasche und montierte sie auf der Halterung.
»Soll ich dir den Regenschirm über die Kamera halten?«, bot der Radioreporter an.
Er war ein großer, schmaler Typ. Sie erkannte ihn wieder, wusste aber seinen Namen nicht. Auf dem Rücken trug er eine Sendeanlage. Die Apparatur verlieh ihm etwas Insektenhaftes. Sie lächelte ihn vorsichtig an.
»Klasse, danke. Obwohl meine Kamera unter solchen Umständen schon den Freischwimmer gemacht hat, und schwarze Pisten kann sie auch schon fahren …«
»Wirklich unglaublich«, bemerkte der Insektenmann zustimmend. »Wo kommt nur dieser ganze Regen her? Irgendwann müsste es doch mal aufhören …«
Sie steckte das Mikrofon in die Line-in-Buchse, räusperte sich, drückte auf Record und stellte sich vor die Kamera.
»Hier«, sagte sie und starrte wütend in die Linse, »mitten im idyllischen Villenviertel Solsidan im mondänen Seebad Saltsjöbaden, wurde heute Morgen der Politiker Ingemar Lerberg brutal zusammengeschlagen aufgefunden. Die Rettungskräfte haben ihn ins Söder-Krankenhaus in Stockholm gebracht. Sein Zustand gilt nach wie vor als kritisch.«
Sie sah den Radioreporter an.
»Das waren doch fünfzehn Sekunden, oder?«
»Vielleicht auch vierzehn«, sagte der Reporter.
Sie ließ das Mikrofon sinken, ging zur Kamera und startete eine neue Aufnahme. Sie schwenkte die Kamera über die Umgebung: die tropfende Absperrung, der Medienauflauf, die Gestalten, die hinter den zugezogenen Vorhängen im Haus zu erahnen waren. Die Aufnahme würde den Hintergrund für ein Voice-over bilden, wenn sie mehr über die Sache wusste. Der Reporter hielt immer noch den Schirm über sie.
»Hier draußen ist es gar nicht so protzig, wie ich dachte«, sagte er.
»Wahrscheinlich sind die Adressen schicker als die Häuser«, sagte Annika. Sie drückte die Stopp-Taste und packte die Kamera wieder ein. Der Reporter nahm den Regenschirm weg.
»Weißt du, wer die Polizei gerufen hat?«
»Nein, nur, dass der Notruf um 9.36 Uhr reinkam.«
Annika sah hinüber zum Haus. Nicht nur der Nachrichtenchef und der Radiomensch hatten etwas Pompöseres erwartet. Ingemar Lerberg war ein Politiker der großen Gesten und mit zentnerschwerem Habitus gewesen, er bezeichnete sich selbst als »Unternehmer« und ließ sich am liebsten auf eleganten Segelyachten fotografieren.
»Warum hat er sein Mandat niedergelegt? Im Parlament?«
»Es ging um Steuern«, sagte Annika. »Irgendwas war mit seiner Firma.«
Sie nickte in Richtung der Zivilfahrzeuge hinter der Absperrung.
»Kripo?«
»Vermutlich«, sagte der Reporter.
Wieder sah Annika zum Haus hinüber. Im ersten Stock wurde ein weiterer Scheinwerfer eingeschaltet, das gleißend blauweiße Licht ließ den Regen vor dem Fenster noch deutlicher werden.
»Wenn die Kripo schon vor Ort ist, sieht es da oben bestimmt richtig übel aus«, sagte sie.
»Oder die Polizei aus Nacka will sich den Rücken freihalten«, sagte der Insektenmann.
Sie sah ihn an. Diese frischgebackenen Hochschulabsolventen waren heutzutage gar nicht mal so dumm.
»Annika Bengtzon«, sagte eine Stimme hinter ihr.
Sie spürte, wie sich ihr Magen zusammenzog, und warf einen Blick über die Schulter, drehte sich aber nicht um.
»Hallo, Bosse«, sagte sie.
Sie konnte nicht begreifen, warum sie diesen Idioten einmal attraktiv gefunden hatte.
»Na, wieder mal unterwegs, um an einem Vormittag die Welt zu verändern?«
Entweder ignorierte sie ihn – was einer Kriegserklärung gleichkam –, oder sie ließ sich auf ein Gespräch mit ihm ein. Er war es nicht wert, sich aufzuregen. Also drehte sie sich um und lächelte.
»Ich muss mir meine Brötchen verdienen, Bosse. Es kann ja nicht jeder von Zinserträgen leben.«
Bosse hielt gelegentlich im Presseclub Hof und erzählte von seinen wilden Börsenspekulationen, die er oft mit geliehenem Geld machte. Aber der Jagderfolg im Börsendschungel war selten von Dauer. Sein Lächeln erstarrte.
»Unglaublich«, sagte er, »dass du immer noch mit uns Normalsterblichen im Dreck wühlst.«
Fragend hob Annika die Augenbrauen.
»Warum sitzt du nicht in einem Regierungspalast in Norrköping?«, fragte Bosse. »Wo doch dein neuer Freund bald die schwedische Einwanderungspolitik bestimmt.«
Das Gerücht war Annika auch schon zu Ohren gekommen. Angeblich war Jimmy Halenius der Posten als Präsident der Einwanderungsbehörde angeboten worden. Sie seufzte theatralisch.
»Bosse«, sagte sie. »Du enttäuschst mich. Ich dachte wirklich, du wärst ein Typ mit Durchblick.«
»Da oben tut sich was«, sagte der Radiomensch.
Instinktiv griff Annika wieder zur Kamera und richtete sie aufs Haus. Eine Handvoll Polizisten, zwei Uniformierte und drei Zivile, erschienen auf der Verandatreppe. Unter den Zivilgekleideten war eine junge Frau. Sie ging aufrecht, hatte breite Schultern, schlanke Beine und einen langen braunen, sehr glatten Pferdeschwanz. Annika stockte der Atem. War das wirklich möglich?
»Das ist Nina Hoffman«, sagte Bosse und nickte zu der Frau hinüber. »Sie war irgendwie in den Mord an David Lindholm verwickelt. Ich dachte, die hätten sie...