E-Book, Deutsch, 307 Seiten
Manthey / Hauschild-Hersch / Eich Medikamentöse Suchtbehandlung
1. Auflage 2022
ISBN: 978-3-17-038402-6
Verlag: Kohlhammer
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
E-Book, Deutsch, 307 Seiten
ISBN: 978-3-17-038402-6
Verlag: Kohlhammer
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Der Konsum legaler und illegaler Suchtstoffe wie Alkohol, Cannabis, Kokain, Heroin, zuletzt aber auch vermehrt synthetischer Drogen ist weit verbreitet. Ohne fachgerechte Hilfe ist es für Betroffene kaum möglich, eine Abstinenz zu erlangen bzw. aufrechtzuerhalten. Dieses Buch beschreibt anschaulich und fachlich fundiert die Rolle der Pharmakotherapie im Rahmen einer Suchtbehandlung. Anhand von Fallbeispielen wird gezeigt, welche Medikamente zur Behandlung von Entzugssymptomen und zur Sicherstellung einer Abstinenz eingesetzt werden können. Auch werden sinnvolle Verbindungen zur Psychotherapie und zu psychosozialen Ansätzen dargestellt.
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Benzodiazepine und Benzodiazepin-Analoga (Z-Substanzen)
Andrea Hauschild-Hersch und Michael Paulzen
Fallvignette
Die 64-jährige, bereits im Alter von 52 Jahren frühpensionierte Grundschullehrerin Frau C., kam erstmalig nach Ankündigung durch ihren Ehemann 2018 zur stationären qualifizierten Entzugsbehandlung. Eigenem Bekunden zufolge habe sie seit 19 Jahren Zolpidem eingenommen, was ihr initial aufgrund von Schlafstörungen durch ihren Hausarzt verschrieben worden sei mit dem Hinweis, dass man von diesem neuartigen Präparat nicht abhängig werde. Abgesehen von jährlich mindestens einer stationären Entzugsbehandlung, erstmals 2002, habe es einen dauerhaften Konsum gegeben. Mittlerweile lasse sie sich von vielen verschiedenen Behandlern Zolpidem in umfangreichem Maße verordnen. Sie nehme bis zu 60 Tabletten à 5 mg täglich. Belastende Situationen könne sie nur mit Zolpidem bewältigen. Dennoch habe sie auch unter Zolpidem Schlafstörungen und Panikattacken, sei unglücklich und ratlos, könne sich kaum noch freuen, liege viel im Bett, habe kaum Antrieb. Vor allem nachts müsse sie grübeln und habe sich sehr zurückgezogen. Psychopathologisch zeigte sich eine gepflegte, aber vorgealterte, zart und zerbrechlich wirkende Patientin, wach, nicht erkennbar sediert wirkend und voll orientiert. Sie verhielt sich freundlich zugewandt und hilfesuchend, jedoch unsicher und haftend im Kontakt. Ihre Stimmung war wenig einfühlbar, wurde von ihr als depressiv und freudlos angegeben, im Affekt imponierte vorrangig eine ängstliche Besorgtheit und Affektlabilität mit gedanklicher Einengung auf die Sorge vor dem Entzug und die Einnahme von Zolpidem. Sie machte insgesamt einen verlangsamten Eindruck, wirkte in ihren mnestischen und kognitiven Fähigkeiten leicht eingeschränkt. Sie war nicht entzügig. Spürbar war eine ausgeprägte Ambivalenz bezüglich ihres Abstinenzwunsches. Es erfolgte eine Entzugsbehandlung über eine Dauer von knapp sechs Wochen unter medikamentöser Umstellung und dann schrittweiser Ausdosierung von Diazepam, beginnend mit einer deutlich unter der Äquivalenzdosis liegenden Dosierung von 30 mg, was ohne zusätzliche bedarfsweise Erhöhung von der Patientin zunächst erstaunlich gut toleriert wurde. Die ambulant begonnene Anfallsprophylaxe mit Levetiracetam aufgrund eines früheren Entzugskrampfanfalls führten wir fort. Zusätzlich dosierten wir aufgrund des depressiven Syndroms als Antidepressivum Duloxetin bis 60 mg ein. Gegen Ende der Entzugsbehandlung fühlte sich die Patientin durch quälende Emotionen überflutet, präsentierte sich völlig verzweifelt und hoffnungslos, berichtete weinend von jahrzehntelang erlebten Entwertungen, Lügen und Demütigungen in ihrer Ehe, die sie mit Hilfe von Zolpidem aus ihrem Erleben abgespalten hatte. Mit zunehmender kognitiver Aufklarung erfasste sie ihre Situation bewusster und differenzierter, erlebte sich selbst dabei jedoch als völlig unfähig, defizitär, wert- und nutzlos. Zeitgleich beklagte sie einen wieder steigenden Suchtdruck. Die intensiv mit ihr erörterten psychosozialen Kontextfaktoren, die das Aufrechterhalten ihres Zolpidem-Konsums begründeten, konnte Frau C. nur begrenzt als veränderungsfähig identifizieren. Nur in Ansätzen gelang ihr die Anwendung emotionsregulierender Fertigkeiten. Von Beginn an hatte die Patientin auf eine sehr rasche Ausdosierung der Medikation mit dem Ziel baldiger Entlassung gedrängt. Nach etwa einem Monat erfolgte erneute Aufnahme zur Entzugsbehandlung. Frau C. war, wie befürchtet, unmittelbar nach Entlassung erneut rückfällig geworden und hatte die Dosis schnell wieder auf die ursprüngliche Menge gesteigert. Der Entzugsverlauf verlief analog zur ersten Behandlung, jedoch nur über vier Wochen aufgrund ihres Drängens auf rasche Entlassung. Eine dritte Entzugsbehandlung nach weiteren drei Monaten beendete sie bereits nach zehn Tagen gegen ärztlichen Rat. Trotz kontinuierlich begleitender Einzelpsychotherapie und eingehender Psychoedukation während der stationären Entzugsbehandlungen blieb Frau C. in ihrer positiven Einordnung von Zolpidem als »Hilfsmittel« und »Lebensretter« und ihrer erlernten Hilflosigkeit und Dependenz verhaftet. Es war nicht gelungen, mittels positiver Aspekte eines abstinenten Lebens ihre Angst vor negativen Konsequenzen eines abstinenten »Er«-Lebens zu überwinden. 2.1 Epidemiologie
Alkohol- und Drogenabhängigkeit sind in aller Munde, die wissenschaftliche Literatur und Studienlage dazu ist sehr umfangreich. Demgegenüber kommt das Problem der Benzodiazepinabhängigkeit in der öffentlichen Berichterstattung viel seltener vor und wird auch in der wissenschaftlichen Literatur eher untergeordnet behandelt. Anhand der epidemiologischen Daten ist das kaum zu verstehen. Schätzungsweise sind in Deutschland etwa 1,2 bis 1,5 Mio. Menschen abhängig von Tranquilizern und Schlafmitteln. Hinzu kommen noch ca. 300.000 bis 400.000 Menschen, die von weiteren Arzneimitteln, v. a. opioidhaltigen Schmerzmitteln, abhängig sind. Das sind insgesamt ca. 1,5 bis 1,9 Mio. Medikamentenabhängige. Dies entspricht in etwa auch der Zahl Alkoholabhängiger in Deutschland. Nur etwa 10 % der Alkoholabhängigen befinden sich in suchtspezifischer Behandlung. Bei den Medikamentenabhängigen sind es sogar nur ca. 2 % (!) (Wodarz 2020). Ein Grund u. a. dürfte das geringe Bewusstsein einer schädlichen Wirkung oder Abhängigkeit bei den Betroffenen sein, denn schließlich wurden die Präparate ja in aller Regel ärztlich verordnet. Benzodiazepine und Benzodiazepin-Analoga (Z-Substanzen) sind verschreibungspflichtig, werden in der Mehrheit auch ärztlich verordnet, bei Abhängigen weit über die empfohlene Zeitdauer und häufig auch Dosierung hinaus. Benzodiazepine gehören noch immer zu den mit Abstand am häufigsten verordneten Psychopharmaka. Pro Jahr werden mehr als 230 Millionen Tagesdosen Benzodiazepine in Deutschland zu Lasten der Krankenkassen verschrieben. Ein seit einigen Jahren zu beobachtender leichter Rückgang täuscht darüber hinweg, dass bis zu 50 % (!) aller Verordnungen mittlerweile auf Privatrezept erfolgen, also von offiziellen Statistiken gar nicht erfasst werden (Janhsen et al. 2015). Dadurch entgehen Ärztinnen und Ärzte einer möglichen Überprüfung ihrer nicht leitliniengerechten Verordnung durch die Prüfinstanzen der Krankenkassen. Dass Benzodiazepine dabei vom Patienten aus eigener Tasche bezahlt werden müssen, scheint unproblematisch angesichts ihrer geringen Kosten (50 Tbl. Diazepam á 10 mg kosten lediglich 12,25 €). Psychopharmaka generell, aber vor allem Schlaf-, Beruhigungs- und Schmerzmittel, werden besonders häufig Frauen verordnet, je älter die Patientinnen, umso häufiger. Frauen über 50 Jahre erhalten pro Kopf rund 60 % mehr Benzodiazepine, Z-Substanzen und Antidepressiva als Männer (Glaeske 2020). Obwohl der Anteil der statistisch nachvollziehbaren BZD-Langzeitverordnungen von 17 % im Jahr 2006 auf 12,8 % im Jahr 2010 sank, betrug die Verschreibungsdauer bei Patienten im Alter von 60 bis 74 Jahre 96 Tage und bei Patienten über 75 Jahre sogar 132 (!) Tage (Soyka 2018) trotz einer empfohlenen Behandlungsdauer von max. vier bis sechs Wochen. Diese Verordnungspraxis ist gerade für ältere und alte Patienten hoch problematisch, weil die Einnahme von BZD auffällig häufig unerwünschte Ereignisse zur Folge hat. Die PRISCUS-Liste nennt hier erhöhte Sturzgefährdung mit Hüftfrakturen, verzögertes Reaktionsvermögen, kognitive Funktionseinschränkungen, Depressionen sowie paradoxe Reaktionen mit Unruhe und Reizbarkeit (Stefanie Holt 2010). Risikogruppen für schädlichen Gebrauch/Abhängigkeit von Benzodiazepinen
V. a. Frauen über 50 Jahre Menschen mit Suchterkrankungen insbesondere mit polytoxikomanem Suchtverhalten Patienten mit Angst- oder Schlafstörungen Medizinisches Personal 2.2 Geschichte und Neurobiologie von Benzodiazepinen
Die erstmalige Synthetisierung von Benzodiazepinen erfolgte in den 50er Jahren durch Sternbach für die Firma Hoffmann-La-Roche. Das erste Benzodiazepin, Chlordiazepoxid, besser bekannt unter dem Handelsnamen Librium®, kam im Jahr 1960 auf den Markt, 1963 folgte Diazepam und seitdem zahllose weitere Substanzen. Anfang der 90er Jahre erfolgte mit hohem Werbeaufwand die Einführung der Z-Substanzen als vermeintlich nicht abhängigkeitserzeugende Alternativen zu den Benzodiazepinen. Dazu zählen die...