Mann | Die dunkle Seite der Demokratie | E-Book | sack.de
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E-Book, Deutsch, 861 Seiten

Mann Die dunkle Seite der Demokratie

Eine Theorie der ethnischen Säuberung

E-Book, Deutsch, 861 Seiten

ISBN: 978-3-86854-961-4
Verlag: Hamburger Edition HIS
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark



Mörderische ethnische Säuberungen sind, so die zentrale These Michael Manns, die dunkle Seite der Demokratie. Sie sind eine mögliche Perversion der Demokratisierung, weil dem demokratischen Nationalstaat ein organizistischer Nationalismus anhaftet, der danach strebt, demos und ethnos, Staatsvolk und Abstammungsgemeinschaft, deckungsgleich zu machen - wenn nötig mit Gewalt. Michael Mann untersucht in empirisch dichten Fallstudien die Mechanismen der ethnischen Säuberung und ihre Umsetzung. Er behandelt den Siedlerkolonialismus in Nordamerika, den Massenmord an den Armeniern, die nationalsozialistische Vernichtungspolitik, die kommunistischen Gewalt unter Stalin, Mao und Pol Pot, den ethnischen Bürgerkrieg in Jugoslawien und den Genozid in Ruanda. Am Beispiel von Indien und Indonesien verdeutlicht er aber auch, weshalb multiethnische Konflikte nicht notwendigerweise in systematische Gewalt münden müssen. Die historisch-soziologische Analyse dieser Fälle zielt darauf ab, systematische Erkenntnisse und theoretische Erklärungen für die Entstehung mörderischer ethnischer Säuberungen herauszuarbeiten - nicht zuletzt, um politische Maßnahmen zu deren Verhinderung zu erarbeiten.

Michael Mann ist Distinguished Research Professor am Fachbereich Soziologie der University of California, Los Angeles. Er ist Mitglied der American und Fellow der British Academy und hat als Gastprofessor an verschiedenen Universitäten und Institutionen weltweit gelehrt. Von seinen zahlreichen Veröffentlichungen ist auf Deutsch unter anderem das vierbändige 'Die Geschichte der Macht' erschienen. Für seine Forschungen und Veröffentlichungen erhielt Mann diverse Ehrungen, darunter Ehrendoktortitel der McGill University in Montreal, der University of the Aegean und der University College, Dublin. Im Oktober 2018 erhielt Michael Mann den erstmals vom Hamburger Institut für Sozialforschung verliehenen Siegfried-Landshut-Preis.
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Ethnische Säuberungen vor dem 19. Jahrhundert
In vormodernen Staaten war die Klassenzugehörigkeit meist wichtiger als die Ethnie, weshalb es auch nur selten zu ethnischen Säuberungen kam. Massenmord ist in der Geschichte der Menschheit offensichtlich kein neues Phänomen, doch nur wenige frühere Regime beabsichtigten, ganze zivile Bevölkerungsgruppen auszulöschen oder zu vertreiben. Eroberer wünschten sich normalerweise ein Volk, über das sie herrschen konnten; sie wollten Völker unterjochen und versklaven, aber nicht beseitigen. Gleichwohl werden ethnische Säuberungen als ebenso uraltes wie modernes Phänomen gehandelt. Als Beleg werden die berüchtigten Assyrer oder Ereignisse wie die Zerstörung griechischer Stadtstaaten durch die Karthager oder die Zerstörung Numantias und Karthagos durch die Römer angeführt.1 Kein Zeitalter kann ein Monopol auf den Massenmord für sich beanspruchen. Frühere Epochen mögen sehr viel grausamer gewesen sein als unsere eigene und beispielsweise einen deutlich gelasseneren Umgang mit öffentlicher Folter und öffentlichen Hinrichtungen aufweisen. Wir modernen Menschen bevorzugen das indirekte, gefühllose Töten aus der Distanz. Wir werfen Bomben aus sicherer Höhe ab, aber sind entsetzt, wenn wir ein Gemetzel mit Äxten und Schwertern zu sehen bekommen.2 In früheren Zeiten wurden die unteren Klassen (einschließlich der einfachen Soldaten) sehr viel grausamer behandelt als heute, die Disziplin war rigoros und wurde mit drastischen Maßnahmen durchgesetzt. Auspeitschungen waren Routineangelegenheiten, Hinrichtungen gab es häufig. Die unteren Klassen auf Feindesseite wurden noch übler behandelt. Armeen requirierten ihren Lebensunterhalt bei der Bauernschaft, Belagerer raubten, plünderten und vergewaltigten in einer eroberten Stadt nach Belieben. Gleichwohl gilt: In den Kriegen der Vergangenheit wurden Menschen getötet, weil sie sich bei diesen Kämpfen an einem bestimmten Ort aufhielten, nicht wegen bestimmter persönlicher Merkmale. Mord ist nichts ausgeprägt Modernes, doch Mord in der Absicht, bestimmte Identitäten zu beseitigen, ist ein modernes Phänomen.3 Dies bedarf der näheren Erläuterung. Umherziehende Eroberer, die sich auf besetztem Land niederlassen und den Boden bearbeiten oder Viehzucht betreiben wollen, haben starke, von wirtschaftlichem Denken bestimmte Motive, die sie zur Vertreibung der einheimischen Bevölkerung bewegen und die zu ungeregelten Deportationen der Besiegten führen können. Folgt auf die Vertreibung eine Hungersnot, kann der Vorgang zum Ethnozid eskalieren. In wenigen Fällen kann ein solches Geschehen zu einem lokal begrenzten Genozid eskalieren, wie sich am Beispiel einiger Einfälle der Hunnen, Mongolen und Angelsachsen zeigen lässt. Wenn nun Viehzüchter in besiedeltes Gebiet eindrangen, konnten dabei sehr viele Einheimische getötet werden, denn Viehzüchter beanspruchten größere Gebiete als Ackerbauern. Die meisten frühgeschichtlichen Massenbewegungen, die mit dem konventionellen Begriff Eroberung bezeichnet wurden, verliefen in Wirklichkeit ganz anders. Die Indoeuropäer (aus deren Sprache fast alle europäischen Sprachen hervorgegangen sind) breiteten sich möglicherweise überhaupt nicht durch Eroberung in westlicher Richtung aus, sondern durch einen Jahrhunderte anhaltenden Vorgang, bei dem sich fortgeschrittene jungsteinzeitliche Bodenbearbeitung ausbreitete. Möglicherweise hat sich niemand weiter als ein paar Kilometer von der Stelle bewegt. Die meisten der großen Reiche in der Frühgeschichte entstanden nicht durch überfallartige Eroberungen, sondern durch einen graduellen Prozess der Machtverschiebung.4 Die semitischen Völker des Mittleren und Nahen Ostens etwa sind vermutlich zuerst als nomadisierende Viehzüchter in Erscheinung getreten, die Seite an Seite mit sesshaften Ackerbauern lebten. Sie übernahmen einen großen Teil der Ackerbauernkultur und kamen zunächst als Arbeiter, Söldner und Händler in deren Städte. Schließlich erlebten die Einwanderer einen Aufstieg und eroberten die Ackerbauernsiedlungen. Später gründeten sie dann große Reiche – das Akkader-, Hethiter- und andere Reiche – und herrschten über die Ackerbauern, aber sie löschten sie nicht aus.5 Am meisten wissen wir über später in die Geschichte eingegangene Eindringlinge, zum Beispiel über die Barbaren, die das Römische Reich eroberten. Die westgotischen Eroberer im Tal der Garonne in Südwestfrankreich waren vielleicht ein typischer Fall. Sie machten nur ein Sechstel der Gesamtbevölkerung des Tales aus. Sie wurden nicht als »Eindringlinge von außen« wahrgenommen, sondern als Nachbarn, die man kannte und die in früheren Zeiten häufig mitgekämpft hatten, als es galt, das Reich gegen andere Eindringlinge zu verteidigen. Sie warben abtrünnige Römer an, arme Leute, die ihre Lebenssituation auf gewaltsame Art und Weise verbessern wollten. Abgesehen von Kämpfen bei »gelegentlichen, furchterregenden, großen Einfällen« (wie dem des Hunnenkönigs Attila), die große Zerstörungen anrichten konnten, beschäftigten sie sich damit, »die Weideflächen zu zerstören, die Landschaft zu verwüsten und die Olivenhaine zu ruinieren«, um Unterwerfung zu erzwingen. Wer sich wehrte, wurde niedergemacht, Frauen wurden vergewaltigt, und Unterernährung und Krankheiten forderten weitere Opfer. Das »Ziel war, gerade so viel Schaden anzurichten, um die örtlichen Anführer am Sinn weiteren Widerstandes zweifeln zu lassen: In der Regel entrichteten sie Tribut oder öffneten einem neuen Oberherrn die Tore«.6 Die Goten wollten keine zivilisierten Völker beseitigen, sie wollten vielmehr selbst zivilisiert werden. Der Ostgotenkönig Theoderich fasste dieses Bestreben zusammen: »Ein erfolgreicher Gote will wie ein Römer leben. Nur ein armer Römer könnte zum Goten werden wollen.« Der König beschrieb hier die laterale Assimilation, die sich auf vergleichbare soziale Klassen der beiden Völker beschränkte. Die gotische Oberschicht wurde zu Römern; einige Römer aus den unteren Klassen waren Goten geworden. Bei Mongolen und Chinesen lief in den schwächeren Phasen des Chinesischen Reiches derselbe Vorgang ab. Die Barbaren griffen zu exemplarischer Repression, auf die keine Säuberung folgte, sondern partielle Klassenassimilation. Dies war vermutlich das häufigste Ablaufschema, wenn Barbaren zivilisiertere Völker eroberten. Und im Verlauf ihrer Eroberungen assimilierten sie weitere Völker, die ihre Kultur und Identität annahmen. Als Dschingis Khans Nachfolger den Mittleren Osten erreichten, bestanden die Armeen der »mongolischen« Eroberer mehrheitlich aus Angehörigen verschiedener Turkvölker, die auf diesem Eroberungszug verpflichtet worden waren. Das aus diesem Feldzug hervorgehende Khanat umfasste ein extremes Völkergemisch – und konvertierte zum Islam. Der Sinn der Zivilisation war die Vermeidung von Arbeit (was heute noch gilt), deshalb brauchten die Barbaren Menschen, die die Arbeit für sie erledigten und den benötigten Überschuss erzeugten. Wenn sie diese Menschen umbrachten, mussten sie deren Arbeit selbst übernehmen. Im Extremfall töteten oder deportierten sie vielleicht aufsässige Eliten oder aufständische Städte oder die Bevölkerung eines eng begrenzten Gebietes. Wenn ganze Städte dem Schwert überantwortet wurden, konnte dies zu Tausenden von Toten führen, wie es in Numantia geschah. Die Grausamkeit antiker Eroberer war als Signal gedacht, mit dem weitere Städte und Regionen zur Übergabe bewegt werden sollten; sie war nicht der Beginn einer systematischeren Auslöschung. Die meisten Städte der Geschichte waren ethnisch und religiös gemischt, was zu Spannungen und Ausschreitungen führen konnte. Im schlimmsten Fall eskalierte dies bis zu Pogromen. Manchmal ergab sich zügellose, nur kurzzeitig wütende und gegen eine Minderheit gerichtete Gewalt aus den Teile-und-herrsche-Strategien der Machthaber. Bekannte Beispiele hierfür sind der römische Kaiser Nero, der die Christen zu Sündenböcken für den verheerenden Brand von Rom machte, und die Angriffe auf die Juden in Europa während des Mittelalters. Kriege entwickelten sich gelegentlich, wie dies heute noch geschieht, zum Ethnozid. Ein ganzes Gebiet wurde zerstört, Felder und Häuser wurden niedergebrannt und Haustiere abgeschlachtet – die Folge war der massenhafte Tod von Zivilisten. Wut, Rachgier, Panik, Trunksucht oder Paranoia, die einige Herrscher an den Tag legten (Attila, Timur oder Iwan der Schreckliche sind wohl sinnfällige Beispiele), konnten das Grauen noch steigern. Die Extremfälle wurden bereits zur Zeit des tatsächlichen Geschehens beklagt. Es stimmt also nicht, dass solche Taten nur in modernen Zeiten ein Gefühl des moralischen Entsetzens erzeugten.7 Rom hatte ein Jahrhundert lang gegen Karthago gekämpft. Als Rom in diesem Konflikt schließlich die Oberhand gewann, waren die Rachegefühle intensiv. Die Politik des...


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