Buch, Deutsch, 861 Seiten, Format (B × H): 169 mm x 234 mm, Gewicht: 1360 g
Eine Theorie der ethnischen Säuberung
Buch, Deutsch, 861 Seiten, Format (B × H): 169 mm x 234 mm, Gewicht: 1360 g
ISBN: 978-3-936096-75-0
Verlag: HIS
Michael Mann untersucht in empirisch dichten Fallstudien die Mechanismen der ethnischen Säuberung und ihre Umsetzung. Er behandelt den Siedlerkolonialismus in Nordamerika, den Massenmord an den Armeniern, die nationalsozialistische Vernichtungspolitik, die kommunistischen Gewalt unter Stalin, Mao und Pol Pot, den ethnischen Bürgerkrieg in Jugoslawien und den Genozid in Ruanda. Am Beispiel von Indien und Indonesien verdeutlicht er aber auch, weshalb multiethnische Konflikte nicht notwendigerweise in systematische Gewalt münden müssen.
Die historisch-soziologische Analyse dieser Fälle zielt darauf ab, systematische Erkenntnisse und theoretische Erklärungen für die Entstehung mörderischer ethnischer Säuberungen herauszuarbeiten – nicht zuletzt, um politische Maßnahmen zu deren Verhinderung zu erarbeiten.
Fachgebiete
Weitere Infos & Material
Vorwort 7
1 Das Thema 10
2 Ethnische Säuberungen in der Geschichte 58
3 Zwei Versionen von "Wir, das Volk" 87
4 Genozidale Demokratien in der Neuen Welt 109
5 Armenien, I: In die Gefahrenzone 166
6 Armenien, II: Genozid 207
7 Nationalsozialismus, I: Radikalisierung 263
8 Nationalsozialismus, II: Fünfzehnhundert Täter 312
9 Nationalsozialismus, III: Karrieren von Völkermördern 352
10 Deutschlands Verbündete und Hilfstruppen 410
11 Kommunistische Säuberungen: Stalin, Mao, Pol Pot 467
12 Jugoslawien, I 520
13 Jugoslawien, II 563
14 Ruanda, I 633
15 Ruanda, II 663
16 Kontrafaktische Fälle: Indien und Indonesien 699
17 Der Kampf gegen ethnische Säuberungen in der Welt von heute 740
Bibliographie 782
Register 825
Da mein bisheriges Werk extreme menschliche Verhaltensweisen vernachlässigte, hatte ich bis zur Arbeit an diesem Buch noch nicht sehr viel über Gut und Böse nachgedacht. Wie die meisten anderen Menschen auch neigte ich dazu, beide Kategorien als Gegensätze zu betrachten und sie außerdem vom Alltagsleben abzutrennen. Jetzt, nachdem ich mich intensiv mit ethnischen Säuberungen1 beschäftigt habe, bin ich mir nicht mehr so sicher. Obwohl es mir fernliegt, den moralischen Unterschied zwischen Gut und Böse zu verwischen, sind beide Kategorien in der Realität doch miteinander verbunden. Das Böse gelangt nicht von außerhalb in unsere Zivilisation hinein, aus einem von ihr zu unterscheidenden "primitiven" Bereich. Die Zivilisation selbst bringt das Böse hervor.
Wir sollten uns die Worte dreier prominenter historischer Persönlichkeiten ins Gedächtnis rufen. Der US-Präsident Thomas Jefferson gilt uns zumeist als die Verkörperung aufklärerischer Vernunft. Er berief sich in der Tat auf den Fortschritt der Zivilisation - und zwar als er die "Auslöschung" der amerikanischen Indianer rechtfertigte. Ein Jahrhundert später pflichtete ihm Präsident Theodore Roosevelt, ein anständiger, moderner Mensch, bei, als er über die Indianer sagte, deren "Auslöschung" sei "letzten Endes ebenso nützlich wie unvermeidlich" gewesen. Weitere 40 Jahre später sagte ein dritter führender Politiker: "Es ist der Fluch des Großen, dass er über Leichen schreiten muss, um neues Leben zu schaffen."2 Dieser Mann war der Reichsführer SS Heinrich Himmler, der zu Recht als die Verkörperung des Bösen gilt. Doch er und sein Führer Adolf Hitler behaupteten, sie träten nur in die Fußstapfen der Amerikaner. Ich werde in diesem Buch darlegen, dass die mörderische ethnische Säuberung ein zentrales Problem unserer Zivilisation gewesen ist, unserer Moderne, unserer Vorstellungen von Fortschritt und unserer Versuche, die Demokratie einzuführen. Sie ist unsere dunkle Seite. Wir werden sehen, dass die Vollstrecker der ethnischen Säuberung nicht als eine besondere Spezies von Übeltätern über uns kommen. Ihre Charaktere entwickeln sich im Rahmen von Konflikten, die konstitutiv für die Moderne sind, und dazu gehören auch unerwartete Eskalationen und Frustrationen, in deren Verlauf die Individuen sich zu einer Reihe ganz besonderer moralischer Entscheidungen genötigt sehen. Einige dieser Menschen wählen schließlich ganz bewusst Lebenswege, die zu schrecklichen Ergebnissen führen. Wir können sie dafür anprangern, doch es ist genauso wichtig zu verstehen, warum sie so handelten. Und wir anderen (auch ich selbst) können einen Seufzer der Erleichterung ausstoßen, weil wir selbst nicht zu solchen Entscheidungen gezwungen worden sind, denn viele von uns würden ebenso versagen. Die diesem Buch zugrunde liegende These lautet: Mörderische ethnische Säuberungen entstehen innerhalb unserer Zivilisation, und die meisten Täter waren uns durchaus nicht unähnlich.
Bei meinen Versuchen, diese Menschen zu verstehen, bin ich vielen anderen zu Dank verpflichtet. Diese Arbeit ist in erster Linie ein Werk der Sekundäranalyse, die sich auf bereits vorliegende Primärquellen stützt. Meine Forschungsarbeit konzentriert sich auf die Täter, nicht auf heldenhafte Widerstandskämpfer oder Opfer, deren Andenken in Ehren zu halten ist. Ich bewundere die seelische Kraft von Überlebenden, die Zeugnis von einem Grauen ablegten, das ihnen selbst widerfuhr; die Zuschauer, die sorgfältig beschrieben, was sie sahen; die Menschen, die an unabhängigen Berichten und gerichtlichen Untersuchungen beteiligt waren, und jene Gelehrten, die ihre berufliche Laufbahn dem Verständnis dessen widmeten, was da geschehen war.
In den letzten Jahren erhielt ich viele Anregungen aus den Sawyer-Seminaren über Massengewalt, die am Center for Advanced Study im Fachbereich für Verhaltenswissenschaften der Universität von Palo Alto in Kalifornien abgehalten wurden. Ich danke Norman Naimark, Ron Suny, Stephen Steadman und Bob Zajonc, meinen M