Mankell Treibsand
1. Auflage 2015
ISBN: 978-3-552-05752-4
Verlag: Zsolnay, Paul
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Was es heißt, ein Mensch zu sein
E-Book, Deutsch, 384 Seiten
ISBN: 978-3-552-05752-4
Verlag: Zsolnay, Paul
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Die Diagnose Krebs hat Henning Mankell an einen alten Albtraum erinnert: im Treibsand zu versinken, der einen unerbittlich verschlingt. Im Nachdenken über wichtige Fragen des Lebens fand er ein Mittel, die Krise zu überwinden. Woher kommen wir? Wohin gehen wir? Welche Art der Gesellschaft will ich mitgestalten? Er beschreibt seine Begegnungen mit den kulturgeschichtlichen Anfängen der Menschheit, er reflektiert über Zukunftsfragen und erzählt, was Literatur, Kunst und Musik in verzweifelten Momenten bedeuten können. Henning Mankell blickt zurück auf Schlüsselszenen seines eigenen Lebens und beschreibt Fähigkeiten und Strategien, ein sinnvolles Leben zu führen.
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8. Der Mann am Fenster Eines Abends denke ich darüber nach, wie das Wissen über die Krankheit, die wir Krebs nennen, in mein Leben kam. Als ich neun Jahre alt war, bekam ich eines Tages plötzlich Bauchschmerzen. Sie waren so schlimm, dass ich in das kleine Krankenhaus von Sveg gebracht wurde. Man vermutete eine Blinddarmentzündung und ging davon aus, dass ich operiert werden müsste. Aber dazu kam es nicht. Die Schmerzen verschwanden, und der Oberarzt, der Stenholm hieß und von allen gefürchtet wurde, kam zu dem Schluss, dass ich wohl nur ein wenig Flüssigkeit in den Blinddarm bekommen hätte, die dann von allein getrocknet wäre. Aber ich blieb drei Tage im allgemeinen Krankensaal. Ganz hinten am Fenster lag ein großer Mann mit schütterem Haar und einem Hängebauch. Er hatte Krebs. Auf der linken Seite seines schweren Bauchs hatte er eine wässernde und eiternde Wunde. Jeden Morgen und jeden Abend wurde die Wunde frisch versorgt, und der blutige, eitrige Verband wurde in einen Blecheimer geworfen und fortgebracht. Von denen, die in seiner unmittelbaren Nähe lagen, hörte ich, dass die Wunde roch. Einmal, als er auf der Toilette war, wurde im Flüsterton darüber gesprochen, dass es ein Krebsgeschwür sei. Sein ganzer Bauch sei von Tumoren zerfressen. Jetzt war einer der Tumoren durch die Haut gedrungen. Keiner sagte es geradeheraus. Aber sogar ich mit meinen neun Jahren begriff, dass der Mann sterben würde. Er war Pferdehändler und verkaufte Nordschweden und den einen oder anderen belgischen Ardenner. Ich glaube, er hieß Svante, und sein Nachname war vielleicht Wiberg, oder Wallén? Aber ich bin mir sicher, dass er mit Pferden handelte. In den Tagen, die ich dort im Saal verbrachte, bekam er keinen Besuch. Wenn er nicht reglos auf seinem Bett lag, stand er meistens vor einem der hohen Fenster. Er verharrte dort in seinem schlecht sitzenden Nachthemd, mit seinem Hängebauch, die Hände auf dem Rücken wie ein Polizist auf Streife, und sah aus dem Fenster. Stundenlang, so kam es mir vor. An dem Tag, an dem ich entlassen wurde, trat ich an das Fenster, um zu sehen, worauf er ständig den Blick gerichtet hatte. Das Fenster ging auf die Leichenhalle des Krankenhauses hinaus. Ein kleines, weißgekalktes Gebäude, das neben einem Abfallschuppen und einem alten, verlassenen Stall lag. Vielleicht hatte er dort einmal seine Pferde gehabt? Als ich das Krankenhaus verließ, wusste ich, dass Krebs übel roch und blutiges und eitriges Verbandszeug zurückließ. Das hatte damals absolut nichts mit meinem Leben zu tun, höchstens als eine ferne Bedrohung, die in einem allgemeinen Krankensaal eines unbedeutenden norrländischen Krankenhauses versteckt wurde. Ich bleibe im Dunkeln sitzen. Es ist halb fünf Uhr morgens. Eine andere Erinnerung hat sich plötzlich eingestellt. Vielleicht sollte ich lieber sagen, dass ich sie von einem Regal in meinem inneren Erinnerungsarchiv heruntergeholt habe. Ich beginne, an etwas zu denken, das vor exakt einundzwanzig Jahren passierte. Ich weiß noch genau, wann ich meine letzte Zigarette geraucht habe. Es war unmittelbar vor dem Eingang des internationalen Flughafens von Johannesburg. Damals, im Dezember 1992, hieß er noch Jan-Smuts-Flughafen. Einige Jahre später, nachdem die Apartheid für immer auf dem Müllhaufen der Geschichte gelandet war, wurde er auf den Namen des Freiheitshelden Oliver Tambo umgetauft. Einen Monat lang war ich in Maputo unterwegs gewesen und hatte mich von Tag zu Tag schlapper gefühlt. Lange dachte ich, es würde sich um eine hartnäckige Virusinfektion oder eine Malariaerkrankung handeln, die noch nicht richtig ausbrechen wollte. Am Theater war ich mit den Proben für ein neues Stück beschäftigt. Jeden Nachmittag, wenn ich mich in meinen alten Renault setzte, musste ich mich zwingen, den Motor anzulassen, um zum Theater zu fahren. Die Müdigkeit wurde allmählich lähmend, so viel ich auch schlief. Eines Tages hielt ich vor dem Theater und schaltete den Motor aus. Aber ich vermochte nicht auszusteigen. Ich gab auf und rief den Bühnenmeister Alfredo zu mir, der vor dem Theater stand und ein Plakat aufhängte. »Es geht mir nicht gut«, erklärte ich. »Sag den Schauspielern, dass sie heute Lesetag haben.« Ich fuhr nach Hause, legte mich aufs Bett und schlief sofort ein. Am Abend ging ich Essen einkaufen. Vor dem Geschäft begegnete ich zufällig Elisabeth, einer schwedischen Ärztin und Freundin. Sie sah mich mit forschendem Blick an. »Du bist ja vollkommen gelb«, sagte sie. »Bin ich?« »Vollkommen gelb. Komm morgen früh um acht Uhr zu mir.« Am Tag darauf schickte sie mich in ein Labor. Ich kam mit einem Lebertest zurück, der normalerweise einen Wert von zwanzig zeigen sollte. Ich hatte zweitausend. Wie der Test hieß, weiß ich nicht mehr. »Das kann ich nicht behandeln«, erklärte sie. »Nicht hier. Ich rufe ein Krankenhaus in Johannesburg an. Du musst noch heute hinfliegen.« Der Flug von Maputo mit der Abendmaschine der South African Airways dauerte nicht länger als fünfundvierzig Minuten. Und jetzt stand ich vor dem Haupteingang des Flughafens und rauchte eine Zigarette. Als der Krankenwagen aus Sandton eintraf, trat ich die Zigarette mit dem Absatz aus. Ich wusste da noch nicht, dass dies die letzte Zigarette war, die ich in meinem Leben rauchen sollte. Einige Tage später hatte man festgestellt, dass ich an einer besonders aggressiven Gelbsucht erkrankt war. Ich vermutete, dass ich sie mir beim Besuch einiger Restaurants mit zweifelhafter Hygiene auf einer Reise in die nördlichen Landesteile von Mosambik durch den Verzehr unsauberen Gemüses zugezogen hatte. Dies war also in der Zeit um Weihnachten 1992. Es herrschte noch große Unsicherheit darüber, wie es in Südafrika weitergehen würde, nachdem das Apartheidsystem vor dem Zusammenbruch stand. In den Nächten, wenn ich wach in meinem Krankenbett lag, hörte ich dann und wann Schüsse draußen in der Dunkelheit. Johannesburg war eine von Kriminalität schwer heimgesuchte Stadt. Der Hass zwischen den Rassen saß tief, die Angst ebenso. Am Morgen des dritten Tages trat ein Arzt in mein Zimmer, den ich vorher noch nicht gesehen hatte. »Wir haben uns die Röntgenbilder angesehen, die wir gestern gemacht haben«, sagte er, und sein gebrochenes Englisch verriet, dass er erst kürzlich eingewandert war, wahrscheinlich aus Osteuropa. »Wir haben einen dunklen Fleck auf einer Ihrer Lungen gefunden. Noch wissen wir nicht genau, was es ist. Aber bald.« Er verließ das Zimmer. Die Tür war kaum geschlossen, als ich schon dachte: Krebs. Dass ich die Zigarette vor dem Flughafen von Johannesburg ausgetreten hatte, würde mir nicht helfen. Das Rauchen hatte dazu geführt, dass ich jetzt sterben würde. Eine Erinnerung aus Skellefteå vom Beginn der siebziger Jahre flirrte vorüber. Die alte Ärztin Sigrid Nygren, eine passionierte Theaterliebhaberin, hatte mich untersucht. Ich war gut zwanzig Jahre alt. »Rauchst du?«, fragte sie. »Ja.« »Damit solltest du aufhören. Sonst bekommst du deinen Krebs im besten Alter, mit vierzig, fünfundvierzig.« Ich war jetzt vierundvierzig. Zwei Tage lang lag ich mit meiner Gelbsucht da und wartete auf einen Bescheid, was der Arzt auf meinem Röntgenbild gefunden hatte. Ich dachte an nichts anderes als an den Tod. Ich lag im Bett und schloss einen jämmerlichen, aber zugleich ganz natürlichen Kuhhandel mit mir selbst: Ich würde ein unendlich viel besserer Mensch werden, wenn ich nur keinen Krebs hätte. Hinterher, als der Arzt mir erklären konnte, dass es sich nur um eine kleine Ansammlung von Flüssigkeit in der linken Lunge handelte und nicht um einen Tumor, erkannte ich, dass meine Angst in hohem Maße mit meinem Alter zusammenhing. Natürlich würde ich sterben wie alle anderen, aber nicht jetzt. Bevor ich nicht einmal fünfundvierzig Jahre alt geworden war. Als im Januar 2014 ein aggressiver Muttertumor in der linken Lunge bei mir diagnostiziert wurde, war eine meiner ersten Reaktionen ein Gefühl von Unwirklichkeit. Ich hatte doch mehr als zwanzig Jahre nicht geraucht? Und dennoch bekam ich Krebs? Es war eine der wenigen Gelegenheiten, bei denen ich nicht weit davon entfernt war, mich zu beklagen. Es kam mir ungerecht vor. Aber ich blieb standhaft. Obwohl es wahrlich nicht einfach war. Manchmal muss man einfach klagen. So denke ich auch heute. Ist man Kind, Teenager, ein junger Mensch oder in mittleren Jahren, findet man es natürlich ungerecht, an Krebs zu erkranken. Aber hat man wie ich beinahe siebzig Jahre gelebt, länger, als die meisten Menschen auf der Welt zu hoffen wagen dürfen, ist es leichter, sich mit dem Gedanken zu versöhnen, dass eine unheilbare Krankheit vom Körper Besitz ergriffen hat. Das ist natürlich nur die halbe Wahrheit. So einfach ist es nicht. Der Tod kommt immer als ungebetener Gast und stört. »Zeit zu gehen.« Keiner will sterben, weder jung noch alt. Sterben ist immer schwer. Außerdem einsam. Als ich Anfang der sechziger Jahre den altsprachlichen Zweig des Gymnasiums in Borås besuchte, war die verpönte Morgenversammlung obligatorisch. Damals dominierten noch die christlichen Themen. Ausnahmen waren selten. Bei einer Gelegenheit spielte der bemerkenswerte Schauspieler Kolbjörn Knudsen einen kurzen Auszug aus Peer Gynt vor, der die schlafenden oder heimlich Hausaufgaben machenden Schüler aufhorchen ließ. Zuweilen gab es Lyriklesungen, vorzugsweise Gedichte von Nils Ferlin oder Hjalmar Gullberg, die ein älterer Student mit nervöser Stimme vortrug. Aber oft standen Pastoren am Rednerpult. Ich erinnere mich besonders gut an einen Krankenhauspastor. Er kam in regelmäßigen Abständen ans Gymnasium...