Mankell | Mörder ohne Gesicht | E-Book | sack.de
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E-Book, Deutsch, 336 Seiten

Mankell Mörder ohne Gesicht


1. Auflage 2012
ISBN: 978-3-552-05609-1
Verlag: Zsolnay, Paul
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark

E-Book, Deutsch, 336 Seiten

ISBN: 978-3-552-05609-1
Verlag: Zsolnay, Paul
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark



Auf einem abgelegenen Bauernhof ist ein altes Ehepaar überfallen und getötet worden. "Ausländer, Ausländer!" waren die letzten Worte der sterbenden Frau. Als die Öffentlichkeit davon erfährt, wird Schonen von einer Welle ausländerfeindlicher Gewalt überrollt. Doch plötzlich führen die Ermittlungen in eine ganz andere Richtung ... Kommissar Wallanders erster Fall, mit dem Henning Mankell den Grundstein zu seiner Karriere als Erfolgsschriftsteller gelegt hat.

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2
Der Eingang des Telefongesprächs wurde von der Polizei in Ystad gegen 5.13 Uhr registriert. Entgegengenommen wurde das Gespräch von einem übernächtigten Polizisten, der seit Silvester fast ununterbrochen im Dienst war. Er hatte der stammelnden Stimme am anderen Ende der Leitung zugehört und zunächst gedacht, daß es sich wohl nur um einen verwirrten alten Mann handelte. Aber irgend etwas hatte dann doch seine Aufmerksamkeit geweckt. Er begann, Fragen zu stellen. Als das Gespräch beendet war, dachte er einen kurzen Moment lang nach, bevor er wieder nach dem Hörer griff und eine Nummer wählte, die er auswendig konnte. Kurt Wallander schlief. Am Abend vorher war er viel zu lange aufgeblieben und hatte sich Platten von Maria Callas angehört, die ihm ein Freund aus Bulgarien zugeschickt hatte. Immer wieder hatte er ihre ›Traviata‹ aufgelegt, so daß es fast zwei war, als er sich endlich ins Bett legte. Als ihn das Klingeln des Telefons nun jäh aus dem Schlaf riß, befand er sich mitten in einem hitzigen erotischen Traum. Als ob er sich vergewissern wollte, daß es sich wirklich nur um einen Traum gehandelt hatte, streckte er den Arm zur Seite aus und tastete das Bettuch ab. Weder seine Frau, die ihn vor drei Monaten verlassen hatte, lag neben ihm, noch die Farbige, mit der er gerade noch leidenschaftlich geschlafen hatte. Er sah auf die Uhr, während er sich gleichzeitig nach dem Hörer reckte. Ein Autounfall, schoß es ihm durch den Kopf. Glatteis und dann wieder einer, der trotzdem zu schnell gefahren und von der E 14 abgekommen ist. Oder Ärger mit den Asylsuchenden, die mit der Nachtfähre aus Polen rübergekommen sind. Er setzte sich im Bett auf und klemmte den Hörer zwischen Schulter und Kinn, auf dem die Bartstoppeln brannten. »Wallander!« »Hoffentlich habe ich dich nicht geweckt?« »Blödsinn, ich war wach.« Warum lügt man? dachte er. Warum sage ich nicht einfach, wie es wirklich gewesen ist. Daß ich am liebsten auf der Stelle wieder einschlafen würde, um den entschwundenen Traum von einer nackten Frau wieder einzufangen? »Ich fand, daß es besser sei, dich anzurufen.« »Autounfall?« »Nein, das nicht gerade. Ein alter Bauer hat angerufen, gesagt, daß er Nyström heißt und in Lenarp wohnt. Er behauptet, daß eine Nachbarin gefesselt auf der Erde sitzt und daß jemand umgekommen ist.« Wallander überlegte kurz, wo Lenarp genau lag. Nicht allzu weit weg von Marsvinsholm, in einem für schonische Verhältnisse relativ hügeligen Gebiet. »Es klang ernst. Ich dachte, es wäre das beste, dich direkt anzurufen.« »Wen hast du im Moment alles auf dem Präsidium?« »Peters und Noren sind gerade draußen und suchen nach einem, der beim ›Continental‹ eine Scheibe eingeworfen hat. Soll ich sie anfunken?« »Sag ihnen, sie sollen zur Kreuzung zwischen Kadesjö und Katslösa kommen und dort auf mich warten. Gib ihnen die Adresse durch. Wann kam der Anruf?« »Vor ein paar Minuten.« »Bist du sicher, daß es nicht doch nur ein Besoffener war?« »Es klang nicht danach.« »Na schön.« Er zog sich hastig an, ohne zu duschen, goß sich eine Tasse lauwarmen Kaffee ein, der noch in der Thermoskanne übrig war und sah aus dem Fenster. Er wohnte in der Mariastraße, im Zentrum von Ystad, und die Häuserfassade gegenüber war rissig und grau. Einen Moment lang überlegte er, ob es in diesem Winter in Schonen wohl noch schneien würde, und hoffte, daß dies nicht der Fall sein würde. Mit den schonischen Schneestürmen kam unweigerlich eine Zeit unaufhörlicher Plackerei. Autounfälle, eingeschneite Frauen, die bald gebären würden, von der Außenwelt abgeschnittene, isolierte Rentner und heruntergestürzte Hochspannungsleitungen. Mit den Schneestürmen kam das Chaos, und er dachte, daß er in diesem Winter für eine Begegnung mit dem Chaos schlecht gerüstet war. Immer noch brannte in ihm die Angst, die ihn gepackt hatte, weil seine Frau ihn verlassen hatte. Er fuhr die Regementsstraße entlang, bis er zur östlichen Umgehungsstraße kam. An der Dragonstraße mußte er bei Rot anhalten, und er schaltete das Autoradio ein, um die Nachrichten zu hören. Eine aufgeregte Stimme berichtete von einem Flugzeugabsturz über einem fernen Kontinent. Leben hat seine Zeit, und Sterben hat seine Zeit, dachte er, während er sich den Schlaf aus den Augen rieb. Diese Beschwörungsformel hatte er sich vor vielen Jahren selbst ausgedacht. Damals war er noch ein junger Polizist gewesen, der auf den Straßen seiner Heimatstadt Malmö Streife ging. Eines Tages hatte ein Betrunkener ein großes Schlachtermesser gezogen, als sie ihn vom Pildammspark wegfahren wollten. Wallander hatte einen tiefen Schnitt direkt neben dem Herzen abbekommen. Nur wenige Millimeter hatten ihn von einem vorzeitigen Tod getrennt. Er war gerade dreiundzwanzig Jahre alt und hatte mit tödlichem Ernst begreifen müssen, was es bedeutete, ein Polizist zu sein. Die Beschwörungsformel war seine Art, sich gegen das Bild aus der Erinnerung zu wehren. Er fuhr aus der Stadt hinaus, passierte das neugebaute Möbelhaus am Stadtrand und sah für einen flüchtigen Moment lang das Meer dahinter. Es war grau und lag doch eigentümlich still da, wenn man bedachte, daß es mitten im Winter war. Weit draußen am Horizont zeichnete sich ein Schiff ab, das nach Osten steuerte. Die Schneestürme werden kommen, dachte er. Früher oder später brechen sie über uns herein. Er schaltete das Autoradio ab und versuchte, sich auf das Kommende zu konzentrieren. Was wußte er eigentlich bisher? Eine alte Frau, festgebunden auf der Erde sitzend? Ein alter Mann, der behauptet, sie gesehen zu haben? Er beschleunigte, als er die Abfahrt nach Bjäresjö passierte, und beschloß, daß es sich wohl nur um einen alten Mann handeln würde, der von plötzlich auftauchender Senilität gepackt worden war. In all den Jahren, die er schon bei der Polizei war, hatte er mehr als einmal erleben müssen, wie alte und isolierte Menschen das Rufen der Polizei als einen letzten, verzweifelten Hilferuf angewandt hatten. Der Streifenwagen wartete an der Abfahrt nach Kadesjö auf ihn. Peters war ausgestiegen und beobachtete einen Hasen, der ziellos auf einem Acker hin und her lief. Als er Wallander in seinem blauen Peugeot kommen sah, hob er die Hand zur Begrüßung und setzte sich ans Steuer. Der gefrorene Schotter knirschte unter den Reifen. Kurt Wallander folgte dem Streifenwagen. Sie passierten die Abzweigung nach Trunnerup, fuhren weiter einige steile Hügel hinauf und kamen schließlich nach Lenarp. Dort bogen sie in einen schmalen Feldweg ein, der kaum mehr war als eine ausgefahrene Traktorspur. Nach etwa einem Kilometer waren sie dann am Ziel. Zwei nebeneinanderliegende Höfe, zwei weißgetünchte, langgestreckte Gebäude mit liebevoll gepflegten Gärten davor. Ein alter Mann kam ihnen entgegengelaufen. Kurt Wallander fiel auf, daß er humpelte, als habe er Schmerzen im Knie. Als er aus dem Auto stieg, merkte er, daß Wind aufgekommen war. Vielleicht würde es ja doch bald Schnee geben? Sobald er den Mann sah, wußte er, daß ihn an diesem Ort etwas wirklich Furchtbares erwartete. In den Augen des Mannes funkelte eine Angst, die nicht aus der Einbildung erwuchs. »Ich hab’ die Tür aufgebrochen«, wiederholte er immer wieder aufgeregt. »Ich hab’ die Tür aufgebrochen, denn ich mußte doch nachsehen. Aber sie ist auch bald tot, sie auch.« Durch die aufgebrochene Tür traten sie ins Haus. Kurt Wallander spürte, wie ihm ein herber Alte-Leute-Geruch entgegenschlug. Die Tapeten waren altmodisch, und er mußte die Augen zusammenkneifen, um in der Dunkelheit etwas erkennen zu können. »Was ist denn eigentlich passiert?« fragte er. »Da drinnen«, antwortete ihm der alte Mann. Dann begann er zu weinen. Die drei Polizisten sahen sich an. Kurt Wallander stieß mit dem Fuß die Tür auf. Es war schlimmer, als er sich vorgestellt hatte. Viel schlimmer. Später würde er sagen, daß es das Schlimmste war, was er je gesehen hatte. Und dabei hatte er weiß Gott viel gesehen. Das Schlafzimmer des alten Paares war über und über mit Blut verschmiert. Es war sogar bis an die Porzellanlampe hinaufgespritzt, die an der Decke hing. Bäuchlings lag ein alter Mann mit nacktem Oberkörper und heruntergerutschter Unterhose auf dem Bett. Sein Gesicht war bis zur völligen Unkenntlichkeit deformiert. Es sah aus, als habe jemand versucht, ihm die...


Berf, Paul
Paul Berf, 1963 in Frechen bei Köln geboren, studierte Skandinavistik. Er übersetzte u. a. Henning Mankell, Kjell Westö und Selma Lagerlöf. 2005 wurde er mit dem Übersetzerpreis der Schwedischen Akademie ausgezeichnet.

Mankell, Henning
Henning Mankell (1948 - 2015) lebte als Schriftsteller und Theaterregisseur in Schweden und Maputo (Mosambik). Seine Romane um Kommissar Wallander sind internationale Bestseller. Zuletzt erschienen bei Zsolnay Treibsand (Was es heißt, ein Mensch zu sein, 2015), die Neuausgabe von Die italienischen Schuhe (Roman, 2016), Die schwedischen Gummistiefel (Roman, 2016) und die frühen Romane Der Sandmaler (2017), Der Sprengmeister (2018) und Der Verrückte (2021).



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