Mankell Hunde von Riga
1. Auflage 2012
ISBN: 978-3-552-05607-7
Verlag: Zsolnay, Paul
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Roman
E-Book, Deutsch, 336 Seiten
ISBN: 978-3-552-05607-7
Verlag: Zsolnay, Paul
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
An einem kalten Februartag wird ein Rettungsboot an die schwedische Küste getrieben. Darin liegen zwei Männer, beide tot, wie Kurt Wallander feststellt, beide ermordet. Die Spuren führen ihn nach Riga, wo er Baiba Liepa kennen lernt, die Frau eines ermordeten Polizisten, der zu viel wusste über die Verbrechen in seinem Land. Vorübergehend sind Wallanders Herzbeschwerden, der berufliche Stress und die Sorge um seine Tochter Linda in Stockholm nebensächlich, als er sich in Baiba verliebt. Sie hilft ihm bei seinen Ermittlungen, die ihn tief in ein perfides Komplott hineinführen. Unerschrocken kämpft er für die Gerechtigkeit, auch wenn er dabei mehr als einmal sein Leben riskiert ...
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1
Am Morgen, kurz nach zehn, kam der Schnee. Der Mann, der im Ruderhaus des Fischerbootes am Steuer stand, fluchte. Er hatte im Radio gehört, daß es schneien sollte, aber dennoch gehofft, die schwedische Küste zu erreichen, bevor das Unwetter über ihm hing. Wäre es am Abend vorher bei Hiddensee nicht zu einer Verspätung gekommen, hätte er jetzt bereits Ystad in Sichtweite gehabt und den Kurs ein paar Grad in östliche Richtung drehen können. So aber hatte er immer noch sieben Seemeilen vor sich, und falls der Schneesturm stärker wurde, würde er gezwungen sein beizudrehen, um auf bessere Sicht zu warten. Er fluchte noch einmal. Mal wieder am falschen Ende gespart, dachte er. Ich hätte machen sollen, woran ich schon letzten Herbst gedacht hatte. Ich hätte mir eine neue Radaranlage kaufen sollen. Meine alte Decca ist einfach nicht mehr zuverlässig. Ich hätte eines dieser neuen, amerikanischen Modelle kaufen sollen. Aber ich war zu geizig und habe den Ostdeutschen nicht getraut. Ich war mir nicht sicher, ob sie mich nicht doch hereinlegen würden. Es fiel ihm immer noch schwer zu begreifen, daß es keinen Staat namens DDR mehr gab, daß ein ganzes Volk, das ostdeutsche, aufgehört hatte zu existieren. Über Nacht hatte die Geschichte mit ihren alten Grenzlinien aufgeräumt. Jetzt gab es nur noch ein Deutschland, und im Grunde wußte niemand, welche Folgen es haben würde, wenn sich die beiden Bevölkerungen in einem gemeinsamen Alltag begegneten. Zu Anfang, als die Mauer in Berlin plötzlich gefallen war, hatte er sich Sorgen gemacht. Bedeutete die Wende nicht auch, daß ihm die Grundlage für seine eigene Tätigkeit entzogen wurde? Aber seine ostdeutschen Geschäftspartner hatten ihn beruhigt. Auf absehbare Zeit würde sich überhaupt nichts ändern. Vielleicht würden sich durch die Ereignisse sogar neue Chancen eröffnen? Das Schneegestöber wurde dichter, und der Wind drehte auf Südsüdwest. Er zündete sich eine Zigarette an und goß Kaffee in eine Tasse, die in einem speziellen Halter neben dem Kompaß saß. Die Wärme im Ruderhaus brachte ihn ins Schwitzen. Der Geruch von Dieselöl stach ihm in der Nase. Er warf einen Blick in Richtung Maschinenraum. Auf der schmalen Pritsche dort unten sah er einen von Jakobssons Füßen. Durch ein Loch in der Wollsocke lugte der große Zeh hervor. Es ist wohl das beste, wenn er weiterschläft, dachte er. Sollten wir beidrehen müssen, wird er die Wache übernehmen, während ich mich ein paar Stunden ausruhe. Er nahm einen Schluck lauwarmen Kaffee und dachte wieder an den gestrigen Abend. Mehr als fünf Stunden hatten sie in dem kleinen, verfallenen Hafen an Hiddensees Ostseite warten müssen, bis der Lastwagen endlich klappernd in der Dunkelheit auftauchte und die Ware abholte. Weber hatte behauptet, sie hätten sich verspätet, weil der Lastwagen liegengeblieben sei. An und für sich konnte das durchaus stimmen. Der Lastwagen war ein altes, umgebautes sowjetisches Militärfahrzeug, und er hatte sich schon oft gewundert, daß diese Karre immer noch fuhr. Aber er traute Weber nicht. Auch wenn Weber ihn noch nie hereingelegt hatte, war er mißtrauisch. Es war eine Sicherheitsmaßnahme, die ihm notwendig erschien. Immerhin ging es um erhebliche Werte, die er mit jeder Fahrt zu den Ostdeutschen hinüberschaffte. Zwanzig bis dreißig komplette Computerausrüstungen, ungefähr hundert Autotelefone und genauso viele Autostereoanlagen, was bedeutete, daß er bei jeder Fahrt die Verantwortung für Millionenbeträge trug. Sollte man ihn schnappen, würde er sich kaum so herausreden können, daß er mit einer glimpflichen Strafe davonkam. Und von Webers Seite war nicht mit Hilfe zu rechnen. In Webers Welt dachte jeder nur an sich selbst. Er kontrollierte den Kurs und korrigierte ihn um zwei Grad in nördlicher Richtung. Das Log zeigte an, daß er beständig seine acht Knoten machte. Immer noch waren es gut sechseinhalb Seemeilen, bis er die schwedische Küste sichten und Kurs auf Brantevik nehmen konnte. Im Moment konnte er gerade noch die graublauen Wellen vor sich erkennen. Aber das Schneegestöber schien immer dichter zu werden. Noch fünf Fahrten, dachte er. Dann ist es vorbei. Dann habe ich mein Geld zusammen und kann mich aus dem Staub machen. Er zündete sich noch eine Zigarette an und lächelte bei dem Gedanken. Bald würde er sein Ziel erreicht haben, alles hinter sich lassen und sich auf die lange Reise nach Porto Santo begeben, um dort seine Bar zu eröffnen. Schon bald brauchte er nicht mehr in dem zugigen und undichten Ruderhaus zu stehen und zu frieren, während Jakobsson auf seiner Pritsche in dem verdreckten Maschinenraum schnarchte. Wie sein neues Leben aussehen würde, wußte er noch nicht, aber trotzdem sehnte er sich danach. Plötzlich hörte das Schneetreiben auf, ebenso schnell, wie es begonnen hatte. Zuerst wagte er nicht, an sein eigenes Glück zu glauben. Aber dann begriff er, daß keine Schneeflocken mehr vor seinen Augen vorbeiflimmerten. Vielleicht schaffe ich es doch noch, dachte er. Vielleicht zieht das Unwetter weiter südlich vorbei, in Richtung Dänemark? Er goß sich noch einen Kaffee ein und begann, vor sich hin zu pfeifen. An der Wand des Ruderhauses hing die Tasche mit dem Geld. Um weitere dreißigtausend Kronen war Porto Santo nähergerückt, seine kleine Insel bei Madeira. Das unbekannte Paradies, das ihn erwartete … Er wollte gerade noch einen Schluck von dem lauwarmen Kaffee nehmen, als er das Schlauchboot entdeckte. Wenn das Schneetreiben nicht so unerwartet aufgehört hätte, wäre es ihm niemals aufgefallen. So aber schaukelte es in nur fünfzig Meter Entfernung backbord auf den Wellen. Es war ein rotes Rettungsboot. Er wischte die beschlagene Scheibe mit dem Ärmel seiner Jacke frei und kniff die Augen zusammen, um das Boot zu fixieren. Es ist leer, dachte er. Es hat sich von einem Schiff losgerissen. Er drehte bei und verlangsamte die Fahrt. Jakobsson erwachte mit einem Ruck, weil das Geräusch des Dieselmotors sich geändert hatte. Sein unrasiertes Gesicht tauchte aus dem Maschinenraum auf. »Sind wir da?« fragte er. »An Backbord liegt ein Boot«, sagte Holmgren, der Mann am Steuer. »Ich dachte, wir könnten es an Bord holen. Es ist bestimmt ein paar Tausender wert. Übernimm du das Ruder, dann hole ich den Bootshaken.« Jakobsson stellte sich ans Steuer, während Holmgren sich die Mütze über die Ohren zog und das Ruderhaus verließ. Beißend kalter Wind schlug ihm ins Gesicht, und er hielt sich an der Reling fest, um die Wellen zu parieren. Das Boot kam langsam näher. Er begann, den Bootshaken loszumachen, der zwischen dem Dach des Ruderhauses und dem Spill festgezurrt war. Seine Finger wurden klamm, während er an den gefrorenen Knoten zerrte. Endlich bekam er den Bootshaken los und wandte sich um. Er fuhr zusammen. Das Boot lag jetzt nur noch ein paar Meter vom Rumpf des Fischerbootes entfernt, und er erkannte, daß er sich geirrt hatte. Das Boot war nicht leer. Zwei Menschen befanden sich darauf. Zwei tote Menschen. Jakobsson rief vom Ruderhaus her etwas Unverständliches. Auch er hatte die Toten entdeckt. Es war nicht das erste Mal, daß Holmgren einen Toten sah. Einmal in seiner Jugend, als er seinen Wehrdienst leistete, war während eines Manövers eine Artilleriegranate explodiert und hatte vier seiner Kameraden in Stücke gerissen. Auch später, während der vielen Jahre als Fischer, hatte er Leichen gesehen, die an Land gespült worden waren oder im Wasser umhertrieben. In dem Boot lagen zwei Männer. Holmgren fiel sofort auf, daß sie eigentümlich gekleidet waren. Es waren offensichtlich weder Fischer noch Matrosen. Sie trugen Anzüge und Krawatten und lagen eng umschlungen, als hätten sie versucht, sich gegenseitig vor dem Unausweichlichen zu schützen. Er versuchte sich vorzustellen, was geschehen war. Wer konnten sie sein? Inzwischen war Jakobsson aus dem Ruderhaus geeilt und stellte sich neben ihn. »Mist«, sagte er. »Verdammter Mist. Was sollen wir jetzt tun?« Holmgren dachte kurz nach. »Nichts«, antwortete er. »Wenn wir sie an Bord nehmen, bringt uns das nur eine Menge unangenehmer Fragen ein. Wir haben sie ganz einfach nicht gesehen. Schließlich schneit es.« »Sollen wir sie einfach so treiben lassen?« fragte Jakobsson zweifelnd. »Ja«, antwortete Holmgren. »Sie sind tot. Wir können nichts mehr für sie tun, und ich habe keine Lust zu erklären, woher wir mit unserem Boot kamen. Du etwa?« Jakobsson schüttelte unschlüssig den Kopf. Schweigend betrachteten sie die toten Männer. Holmgren dachte, daß sie jung waren, nicht älter als dreißig. Ihre Gesichter waren weiß und starr,...