Mankell Daisy Sisters
1. Auflage 2009
ISBN: 978-3-552-05485-1
Verlag: Zsolnay, Paul
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Roman
E-Book, Deutsch, 560 Seiten, Format (B × H): 1 mm x 2 mm, Gewicht: 1 g
ISBN: 978-3-552-05485-1
Verlag: Zsolnay, Paul
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Im Kriegssommer 1941 macht Elna aus Sandviken mit ihrer südschwedischen Brieffreundin eine Radtour zur norwegischen Grenze. Die Daisy Sisters, wie die Mädchen sich nach amerikanischem Vorbild nennen, lernen zwei schwedische Soldaten kennen, und die naive Elna, die keinen Alkohol verträgt, wird ungewollt schwanger. Den Vater des Kindes wird sie nie wiedersehen, ihre Tochter Eivor zieht sie nur widerwillig auf. Eivor ihrerseits versucht schon als Halbwüchsige mit einem jungen Kriminellen durchzubrennen, aber das Abenteuer geht auf tragische Weise schief. Fern von Mutter und Stiefvater will sie sich nun eine eigene Existenz als Schneiderin aufbauen. Doch es kommt anders als geplant ... Ein bewegender Generationenroman aus Schweden über drei Frauen, die aus ihrem engen sozialen Milieu und ihrer vorgezeichneten Rolle ausbrechen wollen.
Weitere Infos & Material
Es gibt viel Seltsames auf der Welt. Wer hat zum Beispiel jemals von einem Mann gehört, der eine Zeit lang davon lebte, Mücken zu jagen? Zweifellos war es keine lange Zeit, aber immerhin sieben Monate. Der Mann besitzt sogar ein etwas arg zugerichtetes Dokument, das die Geschichte bestätigt. Er trägt es immer bei sich, in der linken Innentasche, genau über dem Herzen. Aber selten oder nie kommt es so weit, dass er diesen schriftlichen Beweis hervorzieht. Seine Zuhörer sind da meist schon an einen anderen Tisch geflüchtet oder raten ihm, die Klappe zu halten, wenn er keine Prügel beziehen will. Und er hält natürlich die Klappe. Er hat immer Angst vor Prügeln gehabt, und was hat es schon für einen Sinn, Leuten etwas aus der großen Welt zu erzählen, denen sowieso die Voraussetzungen dafür fehlen, zu begreifen, wovon er spricht. Aber manchmal fragt er sich schon, was sie wohl gesagt hätten, wenn er erzählt hätte, dass sein Name Abd-ur-Rama ist. Da wäre er vermutlich mit dem Stock aus dieser kleinen, unansehnlichen Gesellschaft gejagt worden. Und möglicherweise wäre es das Beste gewesen, was ihm hätte geschehen können. Obwohl er bald siebzig wird, sitzt immer noch die alte Rastlosigkeit in seiner Seele. Hat man große Teile seines Lebens auf der Landstraße verbracht, so kommt man nie mehr davon los. Er sitzt im Bierausschank am Bahnhof in Hallsberg, trinkt ein Pils und grübelt über sein Geschick. Es ist Anfang April und noch kein Frühling in Sicht. Herrgott, er lebt nun schon seit drei Jahren in diesem Loch hier! Drei Jahre, und nichts ist geschehen; er ist noch älter geworden, hat noch ein paar Zähne verloren, und es fällt ihm schwer, den Urin zu halten. Vor drei Jahren hat ihm seine Schwester ihr kleines Haus in Hallsberg vererbt. Natürlich ist er dankbar dafür, dass seine Schwester ihr Testament so aufgesetzt hat; sie hätte ihr Haus ja auch der Wohlfahrt überschreiben können. Natürlich ist es schön, einen Schlupfwinkel zu haben. Im Altersheim wäre er sofort krepiert, und im Winter draußen in Scheunen zu liegen, das schafft er nicht mehr. Es war also sein Glückstag, als er in Hugo Håkanssons Zigarrengeschäft in Vetlanda gestiefelt kam und einen Brief vorfand, der dort seit einem Monat lag. Hugo und er kannten sich, seit sie in den zwanziger Jahren gemeinsam von Markt zu Markt gezogen waren. Damals war Hugo Gummimann. Er hatte so viel Verstand, ein bisschen Geld übrig zu behalten, und passte auf, dass er sich keine unehelichen Kinder zulegte. Und für ein Zigarrengeschäft reichten die zusammengesparten Mittel. Dort hatte er seine Adresse, und hin und wieder fragte er nach Post. Meistens war nichts für ihn da, und er zog weiter, nachdem er ein paar Nächte in einem ordentlichen Bett geschlafen hatte, den Dreck abgewaschen und vielleicht auch ein paar abgelegte Kleider von dem gutmütigen Hugo übernommen hatte. Aber vor drei Jahren lag da der Brief von Åkermans Rechtsanwaltskanzlei in Örebro und wartete auf ihn. Das Haus samt Inventar konnte er sofort nutzen. Alles wäre so gut gewesen, wenn bloß das Haus nicht in Hallsberg gestanden hätte. Er hält es nicht aus in diesem Loch; es ist klein und eng, und alles dreht sich um die Züge, die kommen und gehen und aus denen nie jemand aussteigt, um zu bleiben. Natürlich heißt er nicht Abd-ur-Rama. Das ist nur einer seiner Künstlernamen (und er hat deren mehrere!). Als er 1886 in Broddebo geboren wurde, erhielt er den Taufnamen Anders nach seinem Großvater, Anders aus Björkhult. Und sicherlich konnte das arme junge Bauernpaar, das so glücklich über seinen erstgeborenen Sohn war, sich nicht vorstellen, dass der kleine Wurm einmal Fakir werden sollte. Oder Mückenjäger bei festem Wochenlohn. Oder alles mögliche andere, womit er sein rastloses Leben ausgefüllt hat … Nein, Herrgott! Es gibt so viel, woran man denkt, wenn man die Nachmittage im Bahnhofscafé in Hallsberg verbringt. Drei Pils pro Tag gönnt er sich, und mit einer neuen Flasche jede Stunde hat er genug Zeit zu denken. Wie jetzt an die Sache mit den Mücken. Es ist wahr, und er hat den Beweis, aber keiner will ihm glauben. In diesem Teufelsloch scheint sich alles nur um Güterwagen zu drehen. Vorausgesetzt, dass alles weiterhin so unbegreiflich gut bleibt. Soll nicht die Arbeitszeit schon dieses Jahr – 1956 – von 48 auf 45 Stunden die Woche zurückgehen? Und ist nicht das Kontrollbuch schon seit einem halben Jahr abgeschafft? Nein, jetzt geht es in die richtige Richtung, die Industrie läuft auf Hochtouren, die Löhne steigen, und bald hat man, hol’s der Teufel, genug Geld für ein Auto und für ein Ferienhaus … So tönt es rund um ihn herum. Hallsberg ist ein Eisenbahnknotenpunkt, nicht mehr und nicht weniger, und das Bahnhofscafé ist der Ort, wo der Bahnhofsarbeiter seinen Kaffee bestellt und seine mitgebrachten Brote isst. Es sind viele, die Arbeit am Rangierbahnhof geht in Schichten den ganzen Tag. Nur ausnahmsweise mal verirrt sich ein Reisender in die Gaststätte und schreckt zurück vor dem scharfen Geruch von Tabak und Gummistiefeln. Hier verbringt also der alte Bauernkomiker, Fakir und Marktunterhalter Anders Jönsson seinen Lebensabend. Wer kann glauben, dass dieser zottige und altmodisch gekleidete Alte vor langer Zeit sogar eine Anstellung in der wunderbaren Welt des Films hatte? Und jetzt kommen die Mücken ins Spiel. Zu Beginn der dreißiger Jahre hatte er sich aufgemacht zu einer kraftzehrenden und bedrückenden Wanderung durch Europa. Er wollte nie wiederkommen. Kein Mensch in Schweden war noch interessiert an seiner Kunst. Jetzt waren Tanzmädchen und Varietés in kostspieligen Lokalen gefragt. Selbst in seinen besten Kleidern wäre es nicht sicher gewesen, dass man ihn überhaupt eingelassen hätte. Die Zeit der Alleinunterhalter schien unwiderruflich vorbei. Auf einer wackligen Bühne zu stehen und Soldatenlieder oder lustige Geschichten vorzutragen lohnte sich nicht länger. Möglicherweise hätte er sich als ausgestopftes Relikt nach Skansen zurückziehen können, aber nicht einmal das ist wahrscheinlich. Denn er war kein bekannter Bauernkomiker, er war nur Anders aus Hossamåla, der sich als Vorsänger und Anheizer für die großen Stars durchschlug. Darum machte er sich davon. Raus nach Europa, da war es in jedem Fall wärmer, die Winter sind nicht so höllisch kalt wie in Schweden. So kommt er zu Fuß durch Frankreich getrottet, und südlich von Paris geht er direkt in ein Filmstudio. Gewohnheitsmäßig fragt er, ob es etwas zum Zupacken gibt, er nimmt alles, egal, was es ist, für ein bisschen Kleingeld, das für Brot und vielleicht auch ein paar Glas Rotwein reicht, der so unbegreiflich billig ist in diesem Land. Ein kleiner Mann mit einem Rattengesicht und Eisenplomben im Mund steht am Eingang zum Studiogelände und hat etwas anzubieten … Ob er mitkommen wolle? Ein paar Franc am Tag kann er diesem schwedischen Landstreicher zahlen; gerade heute ist er vom Aufnahmeleiter angeschnauzt worden, warum noch immer niemand das katastrophale Problem in Angriff nimmt … Man dreht einen melodramatischen Film, in dem eine Mutter den Liebhaber ihrer Tochter heiratet, der seinerseits den heimlichen Liebhaber der Tochter umbringt, der seinerseits … Alles in unerhört kostspieliger Szenerie. Und ausschließlich Innenaufnahmen! Andauernd explodiert einer der empfindlichen Scheinwerfer mit ohrenbetäubendem Knall. Die Schauspieler sind hysterisch vor Angst, ihre Gesichter könnten von den Glassplittern verletzt werden, und der Produzent rast wegen der Verzögerungen. Und all das nur, weil Mücken in der Dekoration herumfliegen. Mücken, die ihren Weg zum Licht suchen und gegen die Scheinwerfer prallen. Sieben Monate lang jagt nun der ehemalige Bauernkomiker Anders aus Hossamåla Mücken in diesem Studio. Und er ist findig: Er klettert auf Leitern und an schwankenden Lichtrampen entlang. In der Hand hält er eine Fliegenklatsche, er ist treffsicher und legt seine ganze Seele in die Arbeit. Aufgrund dieser Emsigkeit kommt es nicht mehr zu so vielen Verzögerungen, und der Kassierer erhält den Auftrag, dem Mückenjäger einen höheren Lohn auszuzahlen. Die Franc, die er erhält, reichen für Essen und Rotwein alle Mal und für ein Bett in der Mansarde eines Studioarbeiters. Herz, was begehrst du mehr? So ist es also wahr, dass er davon gelebt hat, Jagd auf Mücken zu machen. Und hier, an diesem Eisenbahnknotenpunkt, wo niemand aus dem Zug steigt, um zu bleiben, soll nun seine Endstation sein? Zwar hat ihm das Leben öfter seine tragischen und komischen Masken gezeigt, aber das hier ist schlimmer als alles andere … Tot und begraben in Hallsberg. Als die Uhr auf sieben zugeht, steht er auf und macht sich auf den Weg nach Hause. Sein Haus ist klein und rot und liegt in einem zugewachsenen Garten. Es gibt nur einen Kartoffelacker und knotige Apfelbäume, um die er sich kümmert; Kartoffeln und kleine unreife Äpfel bekommt er jedes Jahr genug. Das Haus besteht aus Küche und Kammer und einem kleinen Schlafalkoven. Im letzten Jahr ihres Lebens hat die Schwester noch elektrische Leitungen verlegen lassen, das Linoleum auf dem Boden erneuert und die alte Kücheneinrichtung rausgeworfen. Jetzt glänzt alles rostfrei, und er hat sowohl einen elektrischen Herd als auch einen Kühlschrank. Aber ihre Möbel stehen noch am selben Platz, und die Wandbehänge mit den gestickten frommen Texten hängen noch genauso da wie bei seinem Einzug. Als er aus Örebro nach Hallsberg kam, nachdem er sein Erbe, den Schlüssel und ein Sparbuch, bei der Rechtsanwaltsfirma Åkerman quittiert hatte, war alles, was er bei sich hatte, ein zerschlissener Reisekoffer, von...