E-Book, Deutsch, 240 Seiten
Mani Matter / Matter / Schindler Die pluralistische Staatstheorie
1. Auflage 2015
ISBN: 978-3-7296-2066-7
Verlag: Zytglogge
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
oder Der Konsens zur Uneinigkeit (1967/68)
E-Book, Deutsch, 240 Seiten
ISBN: 978-3-7296-2066-7
Verlag: Zytglogge
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Mani Matter Eigentlich Hans Peter, geb. 4. August 1936. Jusstudium, Oberassistent an der Universität, dann Rechtskonsulent der Stadt Bern. Mit 17 erste berndeutsche Lieder, später Auftritte im Radio, Konzerte mit den Berner Troubadours und Soloprogramme in Kleintheatern. Starb am 24. November 1972 bei einem Autounfall.
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[Einleitung: Variante 1,
handschriftlich]
[SEITE 1] Die pluralistische Staatstheorie, deren Erörterung diese Arbeit gewidmet ist, scheint heute im deutschen Sprachbereich so gut wie vergessen. Es mag sich daher empfehlen, zu Beginn einmal zu sagen, was darunter überhaupt verstanden werden soll.
Wir verstehen unter der pluralistischen Staatstheorie eine Richtung des Staatsdenkens, die in den ersten Dezennien dieses Jahrhunderts1 in verschiedenen Ländern Westeuropas vertreten wurde. Sie soll hier zumal durch die Namen Léon Duguit in Frankreich, Hugo Krabbe in Holland, und Harold J. Laski in England repräsentiert werden. Diese drei, wie auch die übrigen Autoren, die zur pluralistischen Staatstheorie gerechnet werden können, unterscheiden sich voneinander in verschiedenen z. T. wesentlichen Punkten. Wenn sie aber hier, wie im englischen Sprachbereich allgemein, als Vertreter einer Denkrichtung angesehen und zusammen als «Pluralisten» erörtert werden, so geschieht dies um einiger grundlegender Gemeinsamkeiten willen, welche sie von der traditionellen Staatslehre radikal unterscheiden und eine Gleichgerichtetheit ihres Denkens zur Folge haben. Diese wesentlichen Gemeinsamkeiten sind es, die sie uns der Beachtung wert erscheinen lassen. Wir wollen nunmehr versuchen, einerseits vorläufig zu skizzieren, was das gemeinsam «Pluralistische» an diesen Autoren ausmacht, und andererseits die Frage zu erörtern, was die Beschäftigung mit dieser Theorie uns heute lehren kann, warum es lohnend erscheint, sie zum Gegenstand einer Untersuchung zu machen.
[SEITE 2]
1.
Die wichtigste Gemeinsamkeit der Pluralisten ist es, dass sie sich alle gegen die Lehre von der Souveränität wenden, wie sie im ganzen 19. Jahrhundert sowohl der Rechts- wie der Staatslehre zugrunde gelegt worden war. Sie verstehen darunter die Lehre von einer höchsten, jeder anderen rechtlich überlegenen Willensmacht, sei es im Staat, sei es des Staates selbst, aus der alles Recht sich herleitet und die dem Staat die Stellung eines allen anderen Verbänden prinzipiell übergeordneten Gemeinwesens verleiht. Diese Lehre war in England am reinsten durch John Austin, in Frankreich durch die Theoretiker der französischen Revolution vertreten worden; sie wurde aber auch in Deutschland von den Vertretern der Gerber-Labandschen Schule vorausgesetzt, auch wenn diese sich darum bemühten, jener absoluten Herrschermacht gegenüber das Postulat des Rechtsstaates durchzusetzen.
Gegen diese Lehre erhoben nun die Pluralisten zwei Einwände: Einerseits bestritten sie die Überlegenheit des Staates dem Recht gegenüber, indem sie diesem eine selbständige, von der Setzung des Staates unabhängige Geltung vindizierten, ohne in die naturrechtliche Unterscheidung von positivem und überpositivem Recht zurückfallen zu wollen. So sollte sich entweder die Verbindlichkeit staatlicher Akte nach deren Übereinstimmung mit dem Recht, als etwas ausserhalb des Staates Stehendes, richten (Duguit); oder das Recht selbst sollte souverän sein und die Autorität des Staates mit derjenigen des Rechts zusammenfallen (Krabbe). Andererseits versuchten sie, den Staat als einen Verband unter anderen zu begreifen. Er sollte gegenüber religiösen, beruflichen und anderen Korporationen nicht durch seine a priorische rechtliche Überlegenheit, sondern nur durch seinen spezifischen Zweck zu unterscheiden sein. Sein Gehorsamsanspruch sollte sich nicht formal aus höherer Rechtsmacht, sondern aus dem Vorrang der von ihm erfüllten Aufgaben ergeben.
[SEITE 3] Die pluralistische Staatstheorie weist eine unverkennbare Verwandtschaft auf mit gewissen anderen sozialwissenschaftlichen Strömungen zu Anfang dieses Jahrhunderts. Einmal wendet sie sich gegen den Formalismus, der besonders zu Ende des 19. Jahrhunderts das Staats[-] und Rechtsdenken beherrschte; sie will Staat und Recht nicht von der Form her, sondern vom Inhalt und Zweck her begreifen. Insofern ist sie verwandt mit der Reaktion gegen den Positivismus, wie sie sich etwa in der Freien Rechtsschule und der Interessenjurisprudenz manifestiert hat. Zum anderen wendet sie sich gegen den Individualismus, die Verbandsfeindlichkeit, die vor allem im Gefolge der französischen Revolution das Staatsdenken beherrscht und die Gegenüberstellung von Staat und atomistischem Individuum zum Ausgangspunkt der Staatslehre gemacht hatte. Insofern ist sie verwandt mit den Tendenzen korporativen Denkens, etwa dem Gildensozialismus und Syndikalismus. Während diese aber den Staat auch im System beruflicher Korporationen zu ersetzen […?] haben, hält der Pluralismus an der Notwendigkeit des Staates als einer spezifisch politischen Organisation fest. Er betrachtet aber den Staat als einen Verband unter anderen und nicht als etwas von diesem völlig Verschiedenes und bemüht sich, auch die anderen Verbände und nicht bloss die isolierten Einzelnen zur staatlichen Willensbildung heranzuziehen.
Schon hier soll nun eine Eigentümlichkeit hervorgehoben werden. Während jene beiden verwandten Richtungen, die Reaktion gegen die Begriffsjurisprudenz und die Tendenzen korporativen Denkens, im deutschen Sprachbereich ihre Vorbilder gefunden haben, gibt es keinen einzigen pluralistischen Autor in der deutschen Staatslehre. Die einzigen in deutscher Sprache veröffentlichten Bücher dieser Richtung, diejenigen Hugo Krabbes, sind Übersetzungen aus dem Holländischen; sie richten sich gegen die deutsche Staatslehre ihrer Zeit und haben im deutschen Sprachbereich merkwürdig wenig Einfluss ausgeübt. Noch 1932 konnte Mogi2 mit Recht sagen, dass die Theorie des Pluralismus in die deutsche Rechtswissenschaft noch nicht eingeführt worden sei. Es ist dies einer der Gründe, weshalb heute gerade hier eine Auseinandersetzung mit dem Pluralismus lohnend erscheint; Wir werden darauf zurückkommen.
[SEITE 4] Die pluralistische Theorie betrifft also das Verhältnis des Staates zum Recht und zu den übrigen Verbänden und richtet sich in beiden Punkten gegen die herkömmliche Lehre von der Souveränität. Weshalb aber wird diese Lehre «pluralistisch» genannt? Was das Verhältnis des Staates zu anderen Verbänden betrifft, lässt sich diese Etikettierung leicht verstehen. Wir reden von der modernen pluralistischen Gesellschaft, in der eine Vielheit von Gruppen, in- und übereinandergeschachtelt, eine Vielheit von sozialen Funktionen erfüllt und den Einzelnen gleichzeitig in mannigfaltigen Verbindungen und Abhängigkeiten stehen lässt. In einer solchen Gesellschaft sehen auch die Pluralisten den Staat als eine soziale Organisation unter anderen mit einer spezifischen Funktion, von der her er zu verstehen ist. Aber nicht nur das: der Staat selbst wird von ihnen nicht mehr als eine gegebene Einheit aufgefasst, wie sie die Vertreter der Souveränitätslehre in jener letzten obersten Willensmacht verkörpert sehen. Er ist eine Vielheit von Individuen und Gruppen, denen die Einheit nur als Ziel gesetzt und gemeinsam aufgegeben ist. Die Einheit leitet sich nicht von einer gegebenen höchsten Autorität ab, sondern ist immer erst herzustellen. Und vorausgesetzt ist zunächst eine Vielheit, ein Pluralismus. So auch im Verhältnis von Staat und Recht. Die Lehre von der Souveränität als einer überlegenen Willensmacht, von der alles Recht seine Geltung bezieht, war zumal durch das Postulat der Einheit der Rechtsordnung begründet worden. Weil in einer Gesellschaft nur ein Recht gelten darf, so lautete die Argumentation, muss alles Recht sich letztlich von einer Stelle herleiten, welche die letzte, entscheidende Autorität darstellt. Die Pluralisten geben nun die Souveränität als Ausdruck dieser Einheit preis; damit geben sie auch die Einheit des Rechtes, jedenfalls sofern diese auf der Quelle, dem terminus a quo beruhte, preis; es konnte nach ihnen eine Vielheit von Rechtsquellen geben und die Einheit war höchstens als Ziel, terminus ad quem, postuliert; das Recht sollte zu einer Einheit gebracht werden, es hatte sie aber nicht schon kraft seiner Herkunft. In diesem Sinne wurde ein Pluralismus der Rechtsquellen angenommen: die Pluralisten verzichteten auf die Einheit des Rechts kraft der Autorität, von der es sich herleitet.
[SEITE 5]
2.
Diese grobe vorläufige Skizzierung der pluralistischen Lehre soll zunächst bloss zeigen, um was für Fragen es sich hier handelt. Es sind die grundlegenden Fragen nach dem Verhältnis von Einheit und Vielheit im Staate, gestellt vor allem im Hinblick auf die Beziehung des Staates zum Recht und zu anderen Verbänden, und kritisch gegen die Lehre von der Souveränität gerichtet. Weshalb erscheint es nun lohnend, sich heute noch mit einer solchen Lehre zu befassen, die auch in den Ländern, aus denen sie stammt, heute keine grosse Rolle mehr spielt? Zwei Bedenken hauptsächlich melden sich an. Einmal: Was hat es, namentlich für einen Juristen, für einen Sinn, derart allgemeine Fragen der Staatstheorie, des Begriffs des Staates schlechthin, zu erörtern? Und sodann: Was sind die Verdienste der pluralistischen Staatstheorie insbesondere, die sie heute noch der Beachtung wert erscheinen lassen?
Wenden wir uns zunächst der ersten Frage zu. Sie wird zumal in der Schweiz von vielen Juristen gestellt werden, die solchen theoretisch-akademischen Erörterungen ein eindeutiges Misstrauen entgegen bringen. Für sie ist die Rechtswissenschaft eine praktische Angelegenheit. Sie hat es mit Begriffen zu tun, die für die...