E-Book, Deutsch, 320 Seiten
Manea Der Schatten im Exil
1. Auflage 2023
ISBN: 978-3-446-27812-7
Verlag: Carl Hanser
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Roman
E-Book, Deutsch, 320 Seiten
ISBN: 978-3-446-27812-7
Verlag: Carl Hanser
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Das beeindruckende Spätwerk des großen rumänischen Autors Norman Manea: Kurz vor dem Fall der Mauer wird 'N.M.', der Wandernde, aus Rumänien ausgewiesen. Auf der Suche nach einer neuen Heimat geht er nach Berlin zu einem alten Freund, der sich als noch immer überzeugter Kommunist offenbart. Hier möchte er nicht bleiben, und so zieht er weiter nach New York, wo seine Halbschwester wohnt. Sie beide haben als Kinder den Holocaust überlebt und ringen um ein Gleichgewicht zwischen der Vergangenheit und der Notwendigkeit, sich in einer zunehmend unsteten Gegenwart ein neues Leben aufzubauen. Kunstvoll legt Norman Manea seine eigene Geschichte mit Figuren der Weltliteratur zu einem literarischen Mosaik.
Norman Manea, 1936 in der Bukowina geboren, wurde 1941 mit seiner Familie in ein Konzentrationslager in der Ukraine deportiert. Er überlebte die Gefangenschaft und war seit 1974 als freier Schriftsteller in Bukarest tätig. Seit 1986 lebt er in New York und lehrt dort als Professor für Europäische Kulturstudien am Bard College. Bei Hanser erschienen Der schwarze Briefumschlag (Roman, 1995), Über Clowns (Essays, 1998), Die Rückkehr des Hooligan (Ein Selbstporträt, 2004), Oktober, acht Uhr (Erzählungen, 2007), Die Höhle (Roman, 2012), Wir sind alle im Exil (Essays, 2015) und Der Schatten im Exil (Roman, 2023). 2011 wurde Manea mit dem Nelly-Sachs-Preis der Stadt Dortmund ausgezeichnet, 2016 mit dem renommierten FIL-Preis.
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Die Fiktion beginnt
Es war einmal, wie so oft sonst, das morgendliche Erwachen.
Ein Auge offen, das andere geschlossen. Es sah oder erspähte die Tür, einen gelben Umschlag unter der Tür.
Er schlief viel in letzter Zeit, wachte nur schwer auf und dann auch nicht ganz, fiel bald wieder zurück ins Nichts. Er hatte sich an die lang andauernde Lethargie gewöhnt, schloss das Auge und schlief wieder ein, wachte auf, der gelbe Briefumschlag erschien von neuem. Wiederholte Schläge an die Tür. Der Specht war ungeduldig, die rot angestrichene Tür irritierte ihn. Der Schläfrige hatte sie rot angestrichen, war schließlich die offizielle Farbe, Irritation, Abscheu oder Angst konnte man damit provozieren. In der halboffenen Tür ein Bote, einen gelben Briefumschlag in der Hand. Er trug einen aschgrauen, gut geschnittenen Anzug voller Tourismusembleme und einen zünftigen Gürtel mit einer großen grünen Schnalle. Er war schlank, schmale Taille, der Anzug saß ihm eng auf dem Leib. Die Haare schwarz und verstrubbelt, der Schnauzbart schmal, schwarz, glänzend, mit Schuhcreme eingeschmiert. Der Bote wandte sich der halboffenen Tür zu und flüsterte dem nahebei stehenden Begleiter zu: »Er steht nicht auf. Ist ein Faulpelz.«
»Wer sind Sie, was wollen Sie«, fragte der Schläfrige.
»Wirst du schon erfahren«, antwortete der Bote in der Tür. »Wirst es erfahren, ja, ja, so lautet der Befehl, dass du erfahren sollst.«
Der Schlaftrunkene stieg in Unterhose und Unterhemd aus dem Bett, wandte sich dem Bad zu. In der Badezimmertür stand nun der echte Zwilling des Boten, der wann, wie, durch die halboffene Tür hereingekommen war. In der Hand hielt er ein vielfach gestempeltes Papier.
»Reg dich nicht auf. Bleibst in der Wohnung, kannst nicht raus. Bist verhaftet. Hausarrest. So heißt das, Hausarrest.«
Der Schwächling im grauen Anzug wies auf die offenstehende Badezimmertür, wo der schmale und geschmeidige Zwilling mit den verwuschelten schwarzen Haaren und dem mit Schuhcreme gefärbten Schnauzbart, im gleichen Anzug und in die Lektüre eines Textes vertieft auf dem Klodeckel saß. Auf den Knien ein weiterer gelber Briefumschlag. Der Schlaftrunkene war aufgestanden, nunmehr auf den Beinen und neben den identischen Unbekannten mit den identischen gelben Briefumschlägen in den Händen, die nun mit einiger Frechheit die zerschlissene, aus dem feinsten Leinen gefertigte Unterhose des Gefangenen betrachteten.
Festgenommen, einfach so, ohne jede Begründung! Jetzt, da er eben erst aufgewacht war und darauf wartete, dass die Schwester ihm die dampfende Tasse Milchkaffee und das frisch im Backofen aufgewärmte Hörnchen bringe. Er wollte Tamar rufen, aber die Angst schnürte ihm die Kehle zu. Schließlich befinden wir uns in einer konstitutionellen Volksrepublik, in der weiten Welt herrscht Frieden und Harmonie, die Menschen lieben sich allüberall, die Gesetze werden eingehalten, die Aggressoren dürfen nicht so mir nichts, dir nichts in die legale Wohnung eines friedlichen Menschen eindringen, der mit den Mietzahlungen und der philatelistischen Gebühr auf dem Laufenden ist. Er wandte sich zögernd einem der Zwillinge zu. Er streckte die Hand nach dem Briefumschlag aus, aber der Offizielle ergriff seine Hand und schüttelte sie zartfühlend.
»Ich bin Ed«, flüsterte der Affenartige und verbeugte sich, was auch der andere, der Zwilling tat. Schwer zu unterscheiden, wessen Hand du geschüttelt hast, das heißt, wer dir überaus freundlich die Hand geschüttelt hat.
Der Schläfer versuchte aufzuwachen, ob es ihm gelungen war, war alles andere als sicher. Ein Auge offen, das andere geschlossen, wie vorhin, vor einer Stunde oder zweien oder wer weiß, wann. Seit geraumer Zeit schon schlief er zu viel, das Aufwachen fiel ihm schwer und gelang nicht immer ganz. Nach einer Weile schlug er beide Augen auf, sah die Tür, unter der jemand einen gelben Briefumschlag hindurchgeschoben hatte. Er riss die Augen weit auf, rieb sich die schweißnasse Stirn, war entschlossen, jetzt wach zu sein.
Tamar, wollte er rufen, was eine flehentliche Bitte nach Kaffee gewesen wäre. Aber der Schläfrige erinnerte sich, dass Tamar schon lange nicht mehr bei ihm wohnte. Er erinnerte sich, also wachte er auf, er war wach.
Die offizielle Nachricht war lapidar.
Innenministerium
Staatssicherheitsdienst
Werter Genosse,
Sie werden einbestellt auf unsere Dienststelle in der Arenei-Straße Nr. 27, Zimmer 22 zu Herrn Oberst Vladimir Tudor.
Ja, ja, er hatte in den letzten Tagen so eine Vorahnung gehabt, es musste etwas geschehen. Ich bin Ed … Und der andere ebenfalls Ed. Und jetzt Oberst Tudor! … Wer mag der nun wieder sein? Bislang wurde er nur von Hauptmännern, ganz selten mal von einem Major einbestellt, aber nicht von Obersten, und die beorderten ihn nicht zum Sitz der gefürchteten Institution, sondern zu bizarren Adressen von konspirativen Wohnungen. Nein, keinesfalls zum Sitz der Institution. Der Traum, ja, ja, er hatte ihn nicht vergessen: das nervöse Klopfen an der Tür, den auf dem Klo gelesenen Text. Ed und Ed vor dem Beschuldigten. Tja, beschuldigt, es sollte sich bestätigen, war keine Vermutung. Es bestätigte sich, und dies war keine Überraschung. Die Überraschungen hatten ihr Prestige eingebüßt, nichts mehr geschah unerwartet, niemand konnte sich mehr erlauben, verwundert zu sein.
Ein paar Tage nachdem der gelbe Briefumschlag aufgetaucht war, hatte der Schlaftrunkene aufgehört, sich Fragen hinsichtlich der Schuld zu stellen. Es spielte keine Rolle mehr, welche seiner schuldhaften Handlungen die Genossen beschäftigte, die über die Ordnung und den Frieden des Landes wachten. Die Bürger der Republik verbargen genug. Sie waren alle verdächtig, wiewohl nur einige wenige für die Guillotine ausgewählt wurden.
Bei dem Schalter, über dem Audienzen stand, war dem Offizier die Mütze auf die linke Braue hinabgerutscht.
»Ich bin zu Genosse Oberst Tudor einbestellt. Heute, Freitag, 16 Uhr, Zimmer zweiundzwanzig.«
Der Offizier rückte seine Mütze gerade und reichte ihm ein blaues Stückchen Karton, worauf Audienzen 22 gedruckt war.
Der Oberst trug keine Uniform. Er hatte einen eleganten Anzug von der Farbe des Wirbelwindes an und trug eine Seidenkrawatte mit chinesischen Figuren darauf. Gedrungen und füllig, schwarze Haare, mit Brillantine eingerieben. Brille mit kleinen, graziösen Gläsern. Große Hände, immense. Der Beschuldigte fühlte sich durch die unterwürfige Körpergröße des Vernehmers ebenso geniert wie von seinem eigenen, langen brettdünnen Körper. Er, der Einvernommene, hatte den Schädel kahl rasiert, war nachlässig gekleidet, trug ein schwarzes Vinyl-Blouson über einem Hemd, das mal weiß gewesen war.
»Wie, gefällt dir meine Krawatte? Ich habe sie von der Frau eines Kollegen geschenkt bekommen, sie hat die Chinesische Mauer besichtigt. Ich bin ganz verrückt nach allem, was orientalisch ist. Extrem orientalisch.«
Die Vertraulichkeit des Obersten hatte etwas Fragwürdiges. Das war nicht mehr die Brutalität der Hauptmänner oder des Majors, die ihn immerzu in andere Privatwohnungen einluden, zu denen sie Schlüssel und also Zugang in den Stunden hatten, in denen die Bewohner nicht zu Hause waren. Der höherrangige Kleine mit der Pomade im Haar wird wahrscheinlich bald vom Duzen zur Höflichkeit wechseln und dann wieder zum Duzen zurückkehren, damit man vergisst, wie man ihn anzusprechen hat.
Der Genosse Oberst Tudor hatte eine silberne Tabakdose mit orientalischen Gravuren in der Hand. Extrem orientalischen. Er wies auf einen Sessel vor seinem Schreibtisch und klappte die Tabakdose auf.
»Danke, ich rauche nicht mehr«, wimmerte der Lange.
»Es sind Kent. Imperialistische Zigaretten. Wunderbar.«
Der Beschuldigte kannte die bei den Offiziellen bevorzugte amerikanische Zigarettenmarke, eine Art Emblem der Elite, Bakschisch für die Ärzte, Metzger, Rechtsanwälte, Automechaniker und Benzinverkäufer, die Vermittler, ohne deren Dienste der Alltag nicht funktionierte. Der elegante Oberst zündete sich eine lange Zigarette an, der Gast betrachtete den mit einiger Wirkungsabsicht möblierten Raum.
»Ja, das Büro ist kein gewöhnliches. Ich sehe, du bewunderst die Möbel und...