Mandiargues | Der Rand | E-Book | sack.de
E-Book

E-Book, Deutsch, 284 Seiten

Mandiargues Der Rand


1. Auflage 2013
ISBN: 978-3-88221-118-4
Verlag: Matthes & Seitz Berlin
Format: EPUB
Kopierschutz: 0 - No protection

E-Book, Deutsch, 284 Seiten

ISBN: 978-3-88221-118-4
Verlag: Matthes & Seitz Berlin
Format: EPUB
Kopierschutz: 0 - No protection



Als Vertretung für seinen kranken Vetter tritt Sigismond eine Geschäftsreise nach Barcelona an. Als ihn, dort angekommen, ein Brief mit einer schrecklichen Nachricht von seiner Familie erreicht, verliert er den Halt und gerät in den Strudel der Stadt und ihren Zerstreuungen. Er gibt sich dem nächtlichen Barcelona hin, taumelt von erotischen Verlockungen zu leuchtenden und blinkenden Vergnügungen und kann der Realität und seinen Gespenstern doch nicht entkommen. André Pieyre de Mandiargues, der elegante Stilist und preisgekrönte Autor von barock wuchernder Sprachkraft, hat mit diesem großen Roman (Prix Goncourt 1967) ein Werk von traumwandlerischer Schönheit, ein atemberaubendes mysteriöses Meisterwerk geschaffen. Über 40 Jahre später kann es nun erstmals auf Deutsch gelesen werden, in einer präzisen Übersetzung von Rainer G. Schmidt.

André Pieyre de Mandiargues (1909-1991), stark von den deutschen Romantikern und französischen Surrealisten beeinflusst, hielt sich stets von literarischen Cliquen und Moden fern. Zu seinem mit fast allen bedeutenden französischen Literaturpreisen ausgezeichneten Werk gehören Lyrikbände ebenso wie Essays, Novellen, Romane, Theaterstücke und Kunstkritiken. Rainer G. Schmidt wurde 1950 im Saarland geboren, begann 1978 (zusammen mit Hans Therre) mit der Übersetzung des Gesamtwerkes von Arthur Rimbaud und übersetzte seither viele Werke von u.a. Henri Michaux, Victor Segalen, Herman Melville. 1998 erhielt er den Paul-Celan-Übersetzerpreis.

Mandiargues Der Rand jetzt bestellen!

Weitere Infos & Material


II
In Brusthöhe eines gewöhnlichen Menschen ruht, auf einem kanellierten Schaft, ein Quadrat aus poliertem Marmor: dies ist, im Garten des Landhauses, eine Sonnenuhr, der Féline wohl dauerhaft zugetan war, denn sie führte Klein-Sigismond ebenso regelmäßig dorthin wie Élie gestern noch. Eine solche Sonnenuhr (nur am Fuß stärker bemoost) war schon in ferner Zeit zu sehen; und Sigismond erinnert sich, wie er plötzlich auf der Marmortafel saß, nachdem ihn die starken Armen Félines nach oben gehoben hatten. Sie achtete darauf, dass das Kind sich nicht verletzte, wenn es die Spitze des bronzenen Sonnenzeigers berührte. Der Garten ist auf dieser Seite hier, ganz anders als in Richtung des Turms der Winde, gepflegt und fast zu jeder Jahreszeit am Blühen. Eine Allee mit feinem Kies, gesäumt von Zypressen, schlängelt sich vom Haus zum Rondell mit der Sonnenuhr. Zwergrosen stehen dort am Anfang ihrer Pracht, die den ganzen Monat währen wird, bis sie dann Mitte Juni zur Neige geht. Als Sigismond sich hinlegte, hat er nicht auf seine Armbanduhr geschaut, wie er es soeben tut, nachdem er den Wandleuchter anknipst hatte; und da er nun weiß, dass es fünf vor acht ist, ist seine Träumerei endgültig unterbrochen. Bei seiner Rückkehr hatte sich der Tag bereits geneigt, nun aber bezeugt das halboffene Fenster nur noch künstliches Licht draußen. Zwischen Dämmerung und Dunkelheit hat er also einen langen Augenblick in der Gesellschaft der Bilder von Féline verbracht. »Adieu, alte Féline«, äußert er (leise), während er sich erhebt, seine Schuhe anzieht. Es ist ihm peinlich, dass er mit sich selbst gesprochen hat, wie es auch sein Vater, Gédéon Pons, tat, der so viele kleine Anzeichen von geistiger Verwirrung erkennen ließ, dass er wahrscheinlich eingesperrt worden wäre, hätte ihm sein Beruf als Schuldirektor nicht Respekt verschafft. Féline misstraute ihm und hielt abends, sobald es ihr möglich war, den Vater fern und wachte grimmig über den Schlummer des Kindes. Unter dem Schutz eines Löwen, so waren in der Jugend von Sigismond die Nächte verstrichen. »Wie wird die Nacht verstreichen, die in der Gegenwart beginnt?«, sagt sich der Mann, während er sich an einen Refrain erinnert, den er bisweilen gehört hat: Barcelona de noche. Für diese Nacht braucht er schleunigst eine Krawatte. Zuerst wird er seinen elastischen Reisekoffer, den er aufschnallt, an die Stange des Schrankes hängen; dann zieht er den Ring des Reißverschlusses und öffnet eine Plastikhülle, in der sich die kleine Wäsche befindet. Von den drei Krawatten, die er, unter den Taschentüchern und Unterhosen, mit einer Fliege zusammengelegt hatte, wählt er eine aus schwarzer Wolle und bindet sie vor dem Spiegel, in dem er jüngst in seiner Spiegelung das Bild von Sergine zu sehen vermeinte. Dann zieht er seine Weste an. Er ist zum Ausgehen bereit (nachdem er einen Gruß an die gläserne Säule gerichtet hat, unter welcher der Brief versiegelt ist). Im Gang lässt sich das irritierende Kammerkätzchen nicht mehr blicken. »Dann eben nicht«, sagt sich Sigismond, der erwartete, sie dicht an die Wand geschmiegt anzutreffen, und der den Plan hatte, das Licht zu löschen, um vor ihr stehenzubleiben und sie lange im Dunkeln zu beschnuppern. Da es diesmal keinen Grund gibt, sein Angebot abzulehnen, nimmt er den Fahrstuhl, der ihn unten absetzt, bevor es ihm gelungen ist, die Erinnerung an den zart weiblichen und sinnlichen Geruch wiederzufinden. Der Schlüssel fällt mit den vorbereiteten Worten »buenas tardes« auf den Empfangsschalter; doch müsste er um diese Zeit »buenas noches« wünschen, und der Portier hat ihm lächelnd die Lektion erteilt. Auf dass er es nicht vergesse, dass die Nacht gekommen ist, die gute Leile, Freundin der Taugenichtse von einst, in der man stockblind wäre, gäbe es nicht die künstlichen Sterne des gläsernen Himmels über seinem Kopf, und draußen, in der Escudillers, versuchen die Restaurants, Bars und Kneipen mit unbeweglichen oder blinkenden Leuchtreklamen einander zu überbieten. Obwohl es nicht die erste Nacht ist, in der sich Sigismond in einer großen Stadt ganz allein aufhält, kann er sich nicht entsinnen, dass ihm seit seiner Hochzeit vor fünf Jahren dergleichen passiert ist; und in den zwei oder drei Jahren davor hatte er das Languedoc, wo die Städte provinziell sind und einige Stunden nach Ende des Tages veröden, nicht verlassen. Das Mitternachtsbad, von dem er durch die Erzählungen Sergines erfahren hatte, die vor ihrer Studienzeit in Montpellier in Nizza lebte, gibt es für ihn zwar nur in der Vorstellungswelt, doch wie man sich im Dunkel oder im Mondschein ins Wasser stürzt, so schließt er sich nun dem Menschenstrom an, den die Ufer der Escudillers nur mit Mühe fassen. Als Treibholz in der Strömung, Strohhalm zwischen Tausenden von abdriftenden Strohhalmen, Blatt, in der Jahreszeit des Laubfalls von der Uferböschung gefallen, so lässt er sich treiben und findet Gefallen an dieser Vergemeinschaftung, die er nicht der Finsternis verdankt, sondern der Ersetzung des Sonnenlichts durch eine Überfülle elektrischer Lampen. Seine Willenskraft, sein Beobachtungsvermögen sind vorläufig aufgehoben. Er verspürt eine Frische, die er seiner Nachtschwärmerei zuschreibt. Dann bemerkt er, dass er sich der Rambla nähert. Wenn er diese Richtung eingeschlagen hat, dann, weil er dem Zufall folgt, oder vielleicht, weil die Strömung dorthin stärker ist als in der umgekehrten Richtung. Auf dem Theaterplatz wird er kraft des Gießgesetzes angetrieben, das die Teilchen lenkt, die am Ausgang einer engen Öffnung einem Druck ausgesetzt sind. Einige Schritte haben ihn von dem Gewühl befreit. Im Raum, der sich vor ihm öffnet, verlangsamt er seinen Gang, zögert, den Asphalt zu überqueren, wo Taxis halten, die, an der Ecke der Escudillers, Nutten abladen. Vergemeinschaftet, nein, schon ist er es nicht mehr, und lustlos bemerkt er, dass er sich wieder zu unterscheiden beginnt und dass dieser Sigismond Pons in eine Einzelexistenz zurückkehrt; er hätte ihn als alten Plunder dem Strom der Menge mit ebenso wenig Bedauern preisgegeben, wie er es für einen mit Initialen gezeichneten Hut aufgebracht hätte, den der Sturzbach mit sich reißt. Unheilvoll gelenkt – und dass sie es sind, muss man sich wohl eingestehen –, setzen sich die einundvierzig Jahre dieses erbärmlichen Voyeurs oder Zeugen hinter ihm neu zusammen – wie eine Kette von Bakterien zwischen den Platten des Mikroskops, wie der Schweif eines Kometen im Visier des Teleskops. Frederich Soler grinst auf der Krone der versteinerten Woge; und zwischen seinem Bart und den Strähnen seines Haars gibt es etwas Väterliches, Überlegenes und Verstörtes, das in den Zügen von Gédéon Pons nicht viel anders war, wenn er eine gewisse Redehemmung verspürte, die ihn, da sie ihn am Predigen hinderte, von einer Berufung zum Seelenhirten abgebracht hatte. »Dein Leben liegt vor dir; gehe geradezu darauf los«, so scheint (ohne Erfolg) der Vater dem Sohn sagen zu wollen; und Sigismond, der, um vor dem rothaarigen Verrückten geschützt zu sein, damals nur auf die Liebe der alten Féline vertrauen konnte, entfernt sich von der Statue, die überhaupt nicht mehr die eines harmlosen Bühnenautors ist. Als er die beiden Fahrbahnen und den mittleren Gehsteig der Rambla überquert hat, sieht er direkt vor sich das Panams, ein Ensemble von Bars, Gaststätten und Nachtlokalen, die sich über Souterrain, Erdgeschoss und ersten Stock erstrecken und in deren Rahmen aus Glas, Stein und Metall der Blitz gewiss einschlagen würde, wenn er den Wünschen des verblichenen Gédéon gefügig wäre. Zu viele Leute kommen und gehen da, zuviel Hinein und Hinaus, als dass er Lust hätte, sich nochmals in ein Gewühl zu stürzen, das dem der Escudillers derart nah ist. Im Übrigen behagt ihm das Gehen, ganz gleich, ob es auf väterlichen Befehl geschieht oder nicht. Er wird nach links gehen, um sich dann nach dreißig Metern, unter dem Arco del Teatro, nach rechts zu wenden. Der Bogen ist eine gewölbte Passage, deren düsterer Verputz allzu gut zu den üblen Uringerüchen passt, die an den Eingang einer Bedürfnisanstalt für Riesen denken lassen. Zumindest die Gewölbe und der Geruch haben für Sigismond etwas Römisches an sich, etwas, das sich ebenso in Nîmes wie in der gold- und kotfarbenen Stadt findet, in der er, im Jahr nach der Geburt des kleinen Élie, mit Sergine im Monat Mai weilte, kaum später als jetzt. Rom ist überall in den Städten des Midi anwesend, obwohl niemand mehr den Denar an Vespasian entrichtet. Sergine hatte eine Nelke unter den ein wenig geblähten Nüstern, die sie nach Füllenart bewegte, und beschleunigte dort den Schritt, wo der Marmor wirklich zu stark roch, denn der Gestank des Marmors beim Verdunsten von Ammoniak in der Sonne ist der unerträglichste Makel der erhabenen Stätten. Obwohl er nicht derart reizbar ist, geht Sigismond ebenfalls schneller. Das Viertel der Gässchen, in das er durch den Bogen von der Rambla aus gelangte, ist nicht so bevölkert wie die Umgebung seines Hotels, die Lichter sind dort nicht so hell, in den Bars dort gibt es nicht derart lärmende Musik, und er hat, während er das stumme Spiel von Kellnerinnen zwischen den Vorhängen einer Cafeteria beobachtet, ein Gefühl der Beklemmung, das durch das Andauern des schlechten Geruchs nicht ausreichend zu erklären ist. Vor ihm verengt sich die Calle Arco del Teatro. An der ersten Ecke rechts biegt er lieber in die Lancaster ein, eine große finstere Schneise, in deren Mitte er auf großen, mit Staub und Unrat verfugten Pflastersteinen einhergeht, wobei er eine ziemlich zwielichtige Bar, die sich nach englischer Mode auf Piraten beruft, unbeachtet lässt. Keine Passanten...


André Pieyre de Mandiargues (1909-1991), stark von den deutschen Romantikern und französischen Surrealisten beeinflusst, hielt sich stets von literarischen Cliquen und Moden fern. Zu seinem mit fast allen bedeutenden französischen Literaturpreisen ausgezeichneten Werk gehören Lyrikbände ebenso wie Essays, Novellen, Romane, Theaterstücke und Kunstkritiken.

Rainer G. Schmidt wurde 1950 im Saarland geboren, begann 1978 (zusammen mit Hans Therre) mit der Übersetzung des Gesamtwerkes von Arthur Rimbaud und übersetzte seither viele Werke von u.a. Henri Michaux, Victor Segalen, Herman Melville. 1998 erhielt er den Paul-Celan-Übersetzerpreis.



Ihre Fragen, Wünsche oder Anmerkungen
Vorname*
Nachname*
Ihre E-Mail-Adresse*
Kundennr.
Ihre Nachricht*
Lediglich mit * gekennzeichnete Felder sind Pflichtfelder.
Wenn Sie die im Kontaktformular eingegebenen Daten durch Klick auf den nachfolgenden Button übersenden, erklären Sie sich damit einverstanden, dass wir Ihr Angaben für die Beantwortung Ihrer Anfrage verwenden. Selbstverständlich werden Ihre Daten vertraulich behandelt und nicht an Dritte weitergegeben. Sie können der Verwendung Ihrer Daten jederzeit widersprechen. Das Datenhandling bei Sack Fachmedien erklären wir Ihnen in unserer Datenschutzerklärung.