E-Book, Deutsch, 168 Seiten
Malzacher Gesellschaftsspiele
1. Auflage 2020
ISBN: 978-3-89581-531-7
Verlag: Alexander
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Politisches Theater heute
E-Book, Deutsch, 168 Seiten
ISBN: 978-3-89581-531-7
Verlag: Alexander
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Gesellschaftsspiele zeigt, warum und in welcher Vielfalt Theater heute in verschiedenen Teilen der Welt nicht nur in seinen Inhalten, sondern auch in seiner Form politisch ist. Anhand zahlreicher Beispiele aus darstellender, bildender und aktivistischer Kunst (von Christoph Schlingensief über Anta Helena Recke, Gintersdorfer/Klaßen, Rimini Protokoll, Lotte van den Berg, Zentrum für Politische Schönheit, Pussy Riot, Jonas Staal, Public Movement bis Milo Rau u. v. a.) untersucht der Kurator und Dramaturg Florian Malzacher ein Theater, das im Spannungsfeld von Repräsentation und Partizipation spielerisch und ernsthaft zugleich auf seine eigenen, spezifischen Möglichkeiten setzt.
In einer Zeit großer Herausforderungen plädiert Gesellschaftsspiele für einen starken Begriff des Politischen und für ein Theater, das Missstände nicht nur spiegelt, sondern mithilft, die Welt zu verändern.
'Florian Malzacher revitalisiert den Begriff des ?Politischen Theaters? genau im richtigen Moment. Eine aufregende Lektüre!' Matthias Lilienthal
Florian Malzacher ist freier Kurator, Dramaturg und Autor. Nach seinem Studium der Angewandten Theaterwissenschaften in Gießen, arbeitete er als Theaterkritiker (u.a. Theater Heute, Frankfurter Rundschau, taz) bevor er von 2006 bis 2012 Leitender Dramaturg/Kurator des Festivals steirischer herbst in Graz wurde. Von 2013 bis 2017 war er künstlerischer Leiter des Impulse Theater Festivals (Düsseldorf, Köln und Mülheim/Ruhr). Er war u. a. (Ko)Kurator der Internationalen Sommerakademie am Künstlerhaus Mousonturm (2002 & 2004), der Reihe Performing Lectures in Frankfurt, von Truth is Concrete in Graz (2012), der performativen Konferenz Aneignungen im Ethnologischen Museum Berlin/Humboldt Lab (2015), von Artist Organisations International am HAU Berlin (2015), sowie Vom Möglichkeitssinn zum Jahrestag der Russischen Revolution in St. Petersburg (2017). Florian Malzacher ist Herausgeber und Autor zahlreicher Bücher zu Theater und Performance, sowie zum Verhältnis von Kunst und Politik.
Florian Malzacher is a freelance curator, dramaturg and writer. After studying Applied Theatre Studies in Gießen he worked as a theatre critic (for publications including Theater Heute, Frankfurter Rundschau and taz) before becoming Chief Dramaturg/Curator for the festival steirischer herbst in Graz 2006 - 2012. From 2013 to 2017 he was Artistic Director of the Impulse Theater Festival (in Düsseldorf, Cologne and Mühlheim/Ruhr). Other credits include (co)curator of the International Summer Academy at Künstlerhaus Mousonturm (2002 & 2004), the Performing Lectures in Frankfurt and Truth is Concrete in Graz (2012), the performative conference Appropriations at the Ethnological Museum Berlin/Humboldt Lab (2015), Artist Organisations International at the HAU Berlin (2015), and Sense of Possibility on the 100th anniversary of the Russian revolution in St. Petersburg (2017). Florian Malzacher has edited and written numerous books on theatre and performance and on the relationship between art and politics.
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REPRÄSENTATION
Eine Familie sitzt an einem Tisch. Eine »mittelreiche« Familie, die es ein bisschen zu was gebracht hat. Die etwas zu verlieren hat – und nicht viel zu gewinnen. Es ist eine Geschichte von Krieg, Vergewaltigung, Einsamkeit, Furcht, aber auch ganz profan von Wohlstand und Abstiegsängsten, von dominanten und doch feigen Vätern, von Sprachlosigkeit und der Flucht vor Verantwortung. Eine Geschichte, die überall spielen könnte. Und zugleich eine, die tief im kollektiven nationalen Bewusstsein wurzelt; eine Nachkriegserzählung aus einer Zeit, als Verdrängen zur deutschen Tugend wurde. Hart, aber auch melancholisch entrückt – umrahmt von Brahms Deutschem Requiem; das Banale schmiegt sich ans Transzendentale: »Denn alles Fleisch ist wie Gras / und alle Herrlichkeit des Menschen / wie des Grases Blumen. / Das Gras ist verdorret / und die Blume abgefallen.« Doch das Bild in diesem kargen, großen und zugleich klaustrophoben Allzwecksaal scheint nicht zusammenzupassen: Die Familie am Tisch ist schwarz. Ein Anblick, den man in Deutschland aus amerikanischen Fernsehserien kennt, aber nicht aus bayrischen Familiensagas. In einem Land, in dem schwarze Menschen im Theater fast nur als explizit Schwarze auftauchen (weshalb schwarze SchauspielerInnen nicht nur immer die gleichen Typen, sondern oft auch exakt die gleichen Rollen spielen müssen), hat die Regisseurin Anta Helena Recke eine, wie sie es doppeldeutig nennt, »Schwarzkopie« der bereits existierenden Inszenierung Mittelreich (2015) von Anna-Sophie Mahler (nach einem Roman von Josef Bierbichler) auf die große Bühne der Münchner Kammerspiele gestellt. Eins zu eins: gleiches Bühnenbild, gleicher Text, gleiche Darstellung, gleicher Ablauf – nur die SchauspielerInnen, der Chor, die MusikerInnen wurden ausgewechselt. Eine Nachahmung in der Tradition US-amerikanischer appropriation-KünstlerInnen wie Elaine Sturtevant oder Sherrie Levine, die seit den 1970er-Jahren ein raffiniertes, oft feministisches oder institutionskritisches Spiel mit der männlich dominierten Kunstwelt trieben, indem sie bekannte Bilder nachmalten, nachempfanden, nachstellten oder sich auf andere Weise aneigneten. Aber diese Mittelreich-Kopie (2017) ist nicht nur eine ziemlich exakte Aneignung der Inszenierung einer anderen Regisseurin. Und sie weist durch die Aneignung weißer Figuren (und deren Verkörperung von weißen SchauspielerInnen) durch schwarze AkteurInnen auch nicht nur darauf hin, wie unter- bzw. gar nicht repräsentiert schwarze Körper und Geschichten auf deutschen Bühnen sind. Es geht zugleich um eine völlig andere – zwiespältige – Aneignung. Diese appropriation verbildlicht auch den (Alb)Traum völliger Assimilation: Eine schwarze Familie, die alle nichtweißen kulturellen Einflüsse verdrängt zu haben scheint, wenn etwa der Sohn damit hadert, dass er nicht weiß, »was der deutsche Wehrmachtssoldat in Russland und Frankreich tat, der mein Vater war« (Die Regisseurin selbst schreibt, dass sie unweigerlich an ihren senegalesischen Großvater denken muss, »der für die Franzosen nach dem Krieg in Berlin Bonbons an deutsche Kinder verteilt hat«6). Neben der sehr klaren Forderung nach mehr Sichtbarkeit nichtweißer Menschen auf der Bühne und in der Gesellschaft ist es die hintergründige Ambivalenz dieser Arbeit, die das Publikum herausfordert. Denn die Inszenierung beschränkt sich ja nicht auf die Bühne. Wie jede gute appropriation art verweist sie permanent auf das, was drumherum ist. Auf die weißen ZuschauerInnen beispielsweise, die sich in einer Situation befinden, in der es kein eindeutiges Richtig gibt. Fortwährend muss die eigene Interpretation interpretiert werden: Ist weltläufige Aufgeschlossenheit nicht eher paternalistisches Wohlwollen? Bewerten wir familiäre Machtstrukturen anders, je nachdem, ob wir einer weißen oder einer schwarzen Familie zuschauen? Woran denken wir, wenn von Flüchtlingen (aus den Ostgebieten) die Rede ist – und diese ähnlich wenig willkommen sind wie die Geflüchteten fast siebzig Jahre später? (»Das sind einfach ganz andere Menschen, diese Flüchtlinge. Die passen einfach nicht in unsere Gegend.«7) Und warum denken wir überhaupt daran, wo doch die SchauspielerInnen auf der Bühne, wie auch die Regisseurin, allesamt in Deutschland geboren wurden? Und wenn wir umgekehrt glauben, tatsächlich »farbenblind« zu sein (oder es im Sog der Aufführung zu werden) – ignorieren wir damit nicht einfach selbstberuhigend eine Differenz, die wir sonst, zumindest strukturell, selbst aufrechterhalten? Der oft tastende, teils unbeholfene – nicht selten »superhöfliche«8 (Recke) – Ton der Publikumsgespräche erzählt viel darüber, wie schwer das gesellschaftliche Reden über Diskriminierung noch immer fällt, sobald es direkt oder gar öffentlich geführt wird. Aber auch wenn das Dilemma der weißen ZuschauerInnen ein wesentlicher Teil der Inszenierung ist: Der Abend richtet sich mindestens genauso an die nichtweißen ZuschauerInnen im ungewöhnlich gemischten Publikum, denn er bietet Identifikationsmöglichkeiten, die sonst fast immer fehlen. Mittelreich ist zudem eines der überraschend wenigen Beispiele für institutional critique im Theater. (Auch das ein Genre der bildenden Kunst, bei dem das Kritisieren einer Kunstinstitution zur eigentlichen künstlerischen Praxis wird – meist im Auftrag eben jener kritisierten Institution.) Denn nicht nur die Tatsache, dass die Besetzung komplett auf Gäste angewiesen war, weil das Ensemble über keine schwarzen Mitglieder verfügt, hinterfragt das eigene Haus. Mittelreich ist vor allem auch eine deutliche Kritik an einem Repertoire, das, wie Recke sagt, fast immer ein weißes Publikum imaginiert – und dieses Publikum zugleich für universal hält.9 Es gibt nicht viele Häuser, die das öffentliche Untersuchen des eigenen Tuns zum Teil ihres Spielplans machen. In den Blick geraten aber auch die gesamte deutschsprachige Theaterszene, die Auswahlkriterien für Schauspielschulen, Ensembles und Repertoire, und nicht zuletzt das Feld der professionellen Kritik mit seinen Qualitätsmaßstäben. Während die meisten Besprechungen von Mittelreich versuchten, den Ansatz des Stückes zu würdigen (und die Arbeit von einer Kritikerjury zum Berliner Theatertreffen eingeladen wurde), gab es doch auch absurde Entgleisungen. Die Rezensentin der Süddeutschen Zeitung brachte unter der Überschrift »Schwarz allein reicht nicht« ihre Enttäuschung darüber zum Ausdruck, dass die schwarze Besetzung nicht die erhoffte »belebende Blutzufuhr« für die spröde Originalbesetzung brachte (und erklärte kokett gleich selbst – das wird man doch wohl noch sagen dürfen –, dass dies natürlich »politisch unkorrekt [sei], da von, wenn auch positiven, Vorurteilen gesteuert«.) Aber vielleicht waren die Darsteller dafür einfach nicht schwarz genug – denn »so schwarz sind sie dann ja auch wieder nicht, diese neuen sechs Körper und Gesichter.« Die eigentliche Diskriminierung läge denn auch nicht im Theatersystem, sondern in diesem »auf ganzer Linie schlechten Laientheater«.10 Anta Helena Reckes Mittelreich-Kopie zeigt, wie sehr alle am Theater Beteiligten – ob SchauspielerInnen, PerformerInnen, ZuschauerInnen oder KritikerInnen – immer auch als RepräsentantInnen einer größeren Gemeinschaft wahrgenommen werden, unterschieden durch Hautfarbe, Gender, Körperlichkeit, soziale Schicht, Berufsstand … So spiegeln sich die Fragen, die gegenwärtig alle Demokratien verfolgen – Wer wird auf welche Weise, von wem und mit welchem Recht repräsentiert? – im Theater wider: Kann eine bürgerliche Schauspielerin eine Geflüchtete repräsentieren? Kann der Westen den globalen Süden repräsentieren? Kann ein Mann eine Frau repräsentieren? Ist die Repräsentation von Stereotypen und Klischees (von Ethnien, Geschlechtern, Sexualität etc.) entlarvend oder einfach nur die Wiederholung entwürdigender Beleidigungen? Die Probleme, die durch jüngere Diskussionen rund um black face (das Schwarzschminken weißer SchauspielerInnen), das Verwenden als diffamierend empfundener Bezeichnungen und Ähnliches manifest wurden, stellen weit mehr in Frage als nur das Recht und die Befähigung weißer SchauspielerInnen, Charaktere of colour darzustellen. Es sind politisch und künstlerisch komplexe Herausforderungen, die – wie der gesamte postkoloniale Themenbereich – im deutschen Theater spät angekommen sind. Postmigrantische Ansätze, die hervorheben, wie sehr unsere Gesellschaft durch Migration bereits verändert ist, prägen beispielsweise das Programm des Berliner Gorki-Theaters unter der Leitung von Shermin Langhoff und Jens Hillje mit seinem kulturell und ethnisch sehr diversen Ensemble. Das setzt auch andere Stadttheater unter Druck, während Häuser wie das Berliner Ballhaus Naunynstraße oder junge KünstlerInnen...