E-Book, Deutsch, 464 Seiten
Maly Die Zeichenkünstlerin von Wien
1. Auflage 2018
ISBN: 978-3-96048-129-4
Verlag: Econ
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Historischer Roman
E-Book, Deutsch, 464 Seiten
ISBN: 978-3-96048-129-4
Verlag: Econ
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Eine große Liebe im historischen Wien Wien 1421. Die junge Jüdin Sarah Isserlein soll einen strengen Rabbi heiraten, dabei würde sie viel lieber den ganzen Tag zeichnen und malen. Da sieht der Steinmetz Mathias Rock, der am Bau des Stephansdoms mitarbeitet, eine ihrer Zeichnungen und bittet sie heimlich um Hilfe bei einem Entwurf. Trotz der Gefahr, sowohl Juden als auch Christen gegen sich aufzubringen, kann Sarah nicht widerstehen.
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1
Januar 1421 MÜDE BETRAT DAVID ISSERLEIN, der Geldverleiher, sein Haus und warf geräuschvoll die schwere Eingangstür hinter sich ins Schloss. »Schalom, Vater!« Die Stimme seiner Tochter Sarah klang ihm aus der Küche entgegen, und ihr hektischer Tonfall verhieß nichts Gutes. »Schalom«, brummte er zurück, nahm seinen schweren Wintermantel ab, schüttelte ihn aus und hängte ihn auf den Haken neben der Tür. Dann schlurfte er über den gefliesten Boden Richtung Küche. Im Türrahmen prallte er entsetzt zurück. Der Küchentisch war mit Gewürzen, Mehl und weiteren Zutaten aller Art bedeckt, auf dem Boden türmten sich schmutzige Putzlumpen und leere Gewürzsäckchen. Seine Tochter hielt ein gerupftes Huhn in der Hand und betrachtete es ratlos. »Sarah, in weniger als einer Stunde geht die Sonne unter, und der Schabbat beginnt«, rief David und hatte alle Mühe, seine Stimme unter Kontrolle zu halten. »Ich weiß, Vater«, erwiderte Sarah schnell. Sie wischte sich mit dem Handrücken eine ihrer kastanienfarbenen Haarsträhnen aus der Stirn und versuchte ungeduldig, sie zurück unter den Stoffkranz zu schieben. Leider löste sich dadurch eine weitere Strähne und fiel ihr in die Stirn. Verärgert blies sie die Haare weg. David versuchte, die unschickliche Frisur seiner Tochter zu ignorieren. »Kannst du mir erklären, was du den ganzen Nachmittag über gemacht hast?«, fragte er. Hinter seiner scheinbar ruhigen Stimme verbarg sich eine riesige Portion Ärger. »Äh …« verlegen trat Sarah von einem Fuß auf den anderen. Sie überlegte kurz, sah aber dann, wie der Blick ihres Vaters auf die teure Wachskerze am Küchentisch fiel, und entschied sich für die Wahrheit. »Ich habe gezeichnet«, sagte sie schuldbewusst. Mit Zorn in den Augen drehte David sich zu ihr: »Sarah, wie oft muss ich dir noch sagen, dass du deine Zeit nicht mit dem Zeichnen vergeuden sollst!« »Aber du selbst hast mir die teuren Silberstifte und das kostbare handgeschöpfte Papier aus Nürnberg gekauft«, antwortete Sarah trotzig. Sie war diese Diskussionen leid. Einerseits bewunderte ihr Vater ihr Talent, Dinge mit dem Silberstift so festzuhalten, wie sie tatsächlich aussahen, andererseits ließ er keine Gelegenheit aus, ihr klarzumachen, wie unschicklich und unpassend es für eine jüdische Frau war, ihre Zeit mit solchen Tätigkeiten zu füllen. Sarah stemmte beide Hände in die Hüften und biss sich auf die Unterlippe. David erkannte, dass seine Tochter nicht bereit war einzulenken, sondern störrisch versuchen würde, ihren Willen durchzusetzen. Genau dieselbe Haltung hatte Sarahs Mutter immer eingenommen, wenn sie geglaubt hatte, im Recht zu sein. Beim Gedanken an seine verstorbene Frau durchströmte David eine Welle der Trauer. Er drängte sie zurück und wandte sich wieder Sarah zu. Ja, es stimmte. Er hatte Stifte und Papier gekauft, in der Hoffnung, Sarah damit eine dunkle Zeit zu erhellen. Hätte er auch nur ansatzweise geahnt, was er damit anrichtete, hätte er dem venezianischen Kaufmann am Hohen Markt niemals die unerhört hohe Summe dafür bezahlt. »Sarah, du wirst am Dienstag nach Schawuot Aaron heiraten, und du weißt, dass er als zukünftiger Rabbiner der Gemeinde eine Frau, die weder kochen noch nähen kann, dafür aber ihre Zeit mit dem Zeichnen von Obst, Gemüse und Tieren verbringt, nicht dulden kann.« »Am Dienstag nach Schawuot?«, fragte Sarah. Eines der gefüllten und mit Öl bestrichenen Hühner landete unsanft im Tontopf. »Ja, Rabbi Blümlein und ich haben uns geeinigt.« »Wann habt ihr den Hochzeitstermin festgelegt?«, fragte Sarah. Schon vor Jahren hatten David Isserlein und der Rabbiner Simon Blümlein vereinbart, ihre beiden Familien durch eine Ehe zu verbinden, um auf diese Weise die beiden größten und bedeutendsten Geldverleihunternehmen zu vereinen. Aber bis jetzt hatte es keinen konkreten Tag für die Heirat gegeben. »Vor ein paar Wochen.« »Und du erzählst mir erst jetzt davon?«, fragte Sarah. Das zweite Huhn landete im Topf. Sarah musste zugeben, dass es ebenso unappetitlich aussah wie das erste. »Ich hatte noch keinen geeigneten Zeitpunkt gefunden«, sagte David. Er hörte sich nun nicht mehr ganz so verärgert an wie zuvor. »Du hast keinen geeigneten Zeitpunkt gefunden, mir den Termin meiner Hochzeit mitzuteilen?«, fragte Sarah fassungslos. David ließ sich mit der Antwort Zeit: »Ich weiß, dass Aaron nicht der Mann deiner Träume ist. Aber er ist ein guter Jude und wird dir ein braver Ehemann sein. Außerdem sind wir es seiner Familie schuldig, und das weißt du.« Verzweifelt starrte Sarah auf die nackten Hühner in dem Topf vor ihr. Leise sagte sie: »Ich kann nichts dafür, dass Judith einen anderen Mann …« »Schweig, und nenn den Namen nicht. Ich will ihn nicht hören!« David klatschte mit der flachen Hand auf den Tisch, und sein schmales Gesicht verfärbte sich dunkelrot. »Sie existiert für mich nicht mehr.« Eine unangenehme, fast unerträgliche Stille trat ein. Jedes Mal, wenn sie an diesen Punkt gelangten, weigerte sich David weiterzureden. Dann atmete er tief durch und wechselte, um Versöhnung bemüht, das Thema. »Es hat schon wieder zu schneien begonnen.« Sarah ging erleichtert darauf ein. »Dann werde ich später mit dem Schneeschaufeln beginnen. Weißt du, wo die Schaufel ist?« »Später ist es finster, und du wirst nicht mehr schaufeln können.« Sarah nickte; sobald die Sonne untergegangen war, begann der Schabbat. David erklärte: »Gott hat uns zum auserwählten Volk gemacht. Der Preis, den er dafür verlangt, ist das Einhalten seiner Gebote. Die Mitzwot sind für das Überleben unseres Volkes wichtig.« »Ich weiß, Vater«, sagte Sarah und seufzte. In Gedanken fügte sie hinzu, dass manche Wintertage einfach zu kurz waren und die Sonne viel zu früh unterging, um alle Arbeiten rechtzeitig zu erledigen. Vor allem dann, wenn man den Nachmittag und das Sonnenlicht dazu nutzte, um Entwürfe für Holztruhen zu zeichnen. Nur zu gern hätte Sarah ihrem Vater die Arbeit des Nachmittags gezeigt, Zeichnungen für eine Kleidertruhe mit dem Relief eines Liebespaars. Sie hätten David ganz sicher gefallen. Aber im Moment war der wohl ungünstigste Zeitpunkt dafür. »Wo hast du denn die Schneeschaufel hingeräumt?«, fragte sie nun. »Die Schaufel?« David hatte sie gestern benutzt und konnte sich nun nicht mehr daran erinnern, wohin er sie gelegt hatte. »Egal«, sagte Sarah und machte eine wegwerfende Handbewegung. Der Schnee vor der Haustür musste ohnehin warten. »Schneeschaufel?« David kratzte sich nachdenklich am Kinn und schaute plötzlich verwirrt. »Warum haben wir schon wieder Schnee? Ist nicht längst Frühling?« Sarah wischte sich rasch die Hände an der Schürze ab. Sie ahnte, was nun kommen würde, und setzte sich zu ihrem Vater auf die Bank. »Wir haben tiefsten Winter, es ist völlig in Ordnung, dass es schneit«, erklärte sie ruhig. »Schnee zum Pessachfest!« David kicherte. »Vater, es dauert noch Monate, bis wir Pessach feiern!« »Was denn, willst du schon wieder keine Mazze backen?« Sarah verdrehte die Augen. »Vater, wenn es so weit ist und wir Pessach feiern, werde ich auch Mazze backen. Aber jetzt ist Winter. In ein paar Wochen ist Purim. Draußen liegt Schnee, und ich brauche die Schneeschaufel, um den Weg vor unserem Haus freizubekommen.« Davids Blick wurde leer. Er starrte seine Tochter hilflos an, und Sarah schluckte einen dicken, zähen Kloß im Hals hinunter. »Es ist egal, vergiss die Schaufel. Ich finde sie später«, sagte sie leise. Verflogen war Sarahs Ärger. Stattdessen machte sich Sorge in ihr breit. In letzter Zeit geriet Davids Verstand immer wieder durcheinander, und er verwechselte die Gegenwart mit der Vergangenheit. Er erkannte Menschen nicht mehr und konnte sich an bestimmte Ereignisse nicht mehr erinnern. Meist kamen diese Anfälle plötzlich, völlig unerwartet, und endeten so unvermittelt, wie sie begonnen hatten. »Sag deiner Mutter, sie soll die schwarze Katze füttern«, sagte David jetzt. Sarah schüttelte traurig den Kopf. Sie hatte es befürchtet und fühlte sich nun schuldig. Hatte sie den Anfall provoziert? Es gab keine Mutter mehr. Elza war letztes Jahr nach einem kurzen, aber heftigen Fieber in den Armen ihres Vaters gestorben. Vielleicht war das der Grund, warum der Verstand des Geldverleihers gelegentlich so durcheinandergewirbelt wurde wie die Schneeflocken vor dem Fenster. Sarah wusste aus Erfahrung, dass es die Situation nur schlimmer machte, wenn sie nun auf der Wahrheit bestand. In einer Stunde musste David beim Abendgebet in der Synagoge sitzen, und niemand durfte von seinem Zustand etwas bemerken. Deshalb sagte sie so sanft wie möglich: »Ich werde die Katze füttern.« Auch wenn die schwarze Katze vor Jahren vom Hund des Nachbarn zerbissen worden war. »Aber vorher hole ich dir deinen Tallit. Elias wird gleich da sein und dich fürs Abendgebet abholen.« »Elias?«, fragte David. »Dein Sohn«, erklärte Sarah. »Er ist der beste Arzt der Gemeinde. Er hat in Salerno Medizin studiert und leitet nun das Hospital neben der Synagoge.« Ein Funken der Erinnerung schien Davids Gedanken zu erreichen. »Ja, Elias soll kommen.« Sarah erhob sich und ging in Davids Schlafkammer, wo sein weißer Gebetsschal mit den schwarzen Streifen lag. Doch sie wusste, dass die Schabbatruhe heute noch lange nicht einsetzen konnte. In der Küche wartete noch eine Menge Arbeit auf sie. Sarah betete und hoffte, dass Gott ihr dieses Vergehen verzeihen würde. Zwei Stunden später...