E-Book, Deutsch, Band 1, 400 Seiten
Maly Die Trümmerschule - Zeit der Hoffnung
1. Auflage 2025
ISBN: 978-3-8437-3555-1
Verlag: Ullstein Taschenbuchvlg.
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Roman | Von Bestsellerautorin Beate Maly: Die wahre Geschichte einer mutigen Frau, die in den Trümmern für ihre Schüler kämpft
E-Book, Deutsch, Band 1, 400 Seiten
Reihe: Lehrerin für ein besseres Morgen
ISBN: 978-3-8437-3555-1
Verlag: Ullstein Taschenbuchvlg.
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Beate Maly, geboren in Wien, ist Bestsellerautorin zahlreicher Kinderbücher, Sachbücher und historischer Romane. Ihr Herz schlägt neben Büchern für Frauen, die gegen alle Widerstände um ihr Glück kämpfen.
Autoren/Hrsg.
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Eins
Wien 1946
Eintönig ratterte die Eisenbahn schon seit Stunden über einen schier endlosen Schienenstrang. Stella hörte das Geräusch längst nicht mehr und nahm auch den beißenden Gestank verbrannter Kohle nicht wahr, der aus dem Rauchfang der Lokomotive in die Waggons dahinter drang. Längst war er in ihre Kleidung und ihr Haar gekrochen.
Die Landschaft hinter dem staubigen Fenster wurde zunehmend flacher. Die hohen schneebedeckten Alpen waren vorbeigezogen und grünen saftigen Hügeln gewichen, auf denen vereinzelt Kühe und Schafe weideten. Immer noch ein bisschen nervös dachte Stella an die letzte Passkontrolle an der sowjetisch-amerikanischen Zonengrenze zurück. Es waren die ersten unvorhersehbaren Komplikationen auf ihrer dreitägigen Reise gewesen.
Stella besaß keinen viersprachigen Identitätsausweis, wie ihn alle Österreicher seit Kriegsende benötigten, wollten sie von einer Besatzungszone in die andere gelangen. Bis nach Linz hatte ihr Reisepass völlig ausgereicht. Sie war damit problemlos von Dover nach Calais gekommen, und auch die Reise durch Frankreich und in die Schweiz war bis auf ein paar technische Pannen und Wartezeiten ohne große Aufregung verlaufen. In Vorarlberg hatten die Franzosen die Passagiere kontrolliert, an der Grenze zu Salzburg die Amerikaner und in Linz schließlich die Sowjets. Der russische Soldat hatte an der Echtheit ihrer Papiere gezweifelt, die in London ausgestellt worden waren. »Mitkommen«, hatte er in gebrochenem Deutsch gefordert. Erst nach Intervention seines amerikanischen Kollegen hatte er Stella die Dokumente zurückgegeben.
Andere waren nicht so glimpflich davongekommen. Stella hatte beobachtet, wie eine junge Frau aus dem Nebenabteil abgeführt und am Bahnsteig in einen Jeep gezerrt worden war. Der Vorfall hatte bei ihr Erinnerungen wachgerufen, die sie beiseiteschob, so gut es ging. In den letzten acht Jahren hatte sie gelernt, wie sie den Schlag ihres rasenden Herzens verlangsamen und das Zittern ihrer Hände verringern konnte, wenn die Angst vor Verfolgung und Tod sie heimsuchte. Manchmal gelang es ihr besser, manchmal schlechter. Es waren Bilder von jungen Burschen, deren Schläfen bluteten, weil man ihre Locken brutal mit dem Reibeisen abrasiert hatte. Von jungen Frauen, die mit Zahnbürsten die Gehsteige Wiens hatten reinigen müssen. Bilder von abgebrannten Synagogen und eingeschlagenen Fensterscheiben. Wegen dieser Ereignisse hatte sie Wien verlassen, doch die Erinnerungen suchten sie immer noch heim, wenn sie nachts wach lag und nicht schlafen konnte.
In den letzten Wochen vor ihrer Abreise hatte man sie immer wieder gefragt, warum sie zurück nach Wien wolle. Ausgerechnet in die Stadt, in der die jüdische Bevölkerung so grausam verfolgt worden war. Eines der Gespräche war Stella beinahe wörtlich im Gedächtnis geblieben. Sie und ihr Arbeitskollege Tom hatten gemeinsam im Speisesaal des Heims für schwer erziehbare Kinder zu Mittag gegessen, einen viel zu schwach gewürzten Bohneneintopf mit Lamm. Die ihnen anvertrauten Kinder hatten schon eine Stunde zuvor gegessen, weshalb der Raum jetzt leer war.
»Warum gehst du weg aus London?«, hatte Tom sich erkundigt. »Du wohnst direkt neben dem Hyde Park, hast einen interessanten Job und gute Freunde. Was brauchst du mehr, um zufrieden zu sein?«
Stella hatte nach einer Antwort gesucht. Wie erklärte man Heimweh? Wie den Wunsch, dorthin zurückzukehren, wo man eben nicht nur schlimme Dinge erlebt, sondern auch viele glückliche Erfahrungen gesammelt hatte? In Wien hatte sie ihre Ausbildung gemacht und inspirierende Menschen wie Anna Freud und Charlotte Bühler kennengelernt. Hier hatte sie in den Kaffeehäusern der Stadt stundenlang über Pädagogik und Psychologie diskutiert und die Begründung der Psychoanalytischen Pädagogik miterlebt. In den hell erleuchteten Ballsälen Wiens hatte sie nächtelang Walzer getanzt und in den verrauchten Klubs der Innenstadt Jazz gehört. Sie war durch den blühenden Prater spaziert und hatte im Burggarten zum ersten Mal einen Mann geküsst. Und all diese schönen Momente hatte sie mit ihren Freunden geteilt, insbesondere ihrer besten Freundin Felicitas Straubinger. Wien hatte ihr so viel Schönes geboten – zu einer Zeit, in der sie als Jüdin nirgendwo sonst diese Möglichkeiten bekommen hätte. Während in Ungarn Juden nicht mehr hatten studieren dürfen, hatte Stella in Wien Karriere gemacht. Die Stadt und ihre Freunde konnten nichts dafür, dass ein Heer von Stiefel tragenden Braunhemden die Menschlichkeit zu Grabe getragen hatte. Jetzt, da die Stadt nach dem Krieg am Boden lag, konnte Stella nicht einfach tatenlos aus der Ferne zusehen.
»Ich gehe zurück, weil ich beim Wiederaufbau mithelfen möchte«, hatte sie schließlich erklärt.
»Aber warum? Du schuldest der Stadt gar nichts. Man hat dich und deine Familie vertrieben. Deine Verwandten sind im KZ umgekommen.«
»Die Nazis haben mich vertrieben, nicht meine Freunde und nicht die Stadt«, hatte Stella widersprochen und dann traurig hinzugefügt: »Ich will nach Hause.«
»Du wünschst dir etwas, das es nicht mehr gibt. Du kannst die Zeit nicht zurückdrehen und Dinge ungeschehen machen. Das Wien, das du verlassen hast, ist Geschichte.«
»Trotzdem sehne ich mich danach.«
Tom hatte bloß mit dem Kopf geschüttelt. Stella sah immer noch seinen verständnislosen Blick vor sich. Seine fassungslose Miene, die ausdrückte, dass er sie am liebsten an den Schultern gepackt und wachgerüttelt hätte.
Ein Rascheln riss sie aus ihren Überlegungen. Die Frau, die ihr gegenübersaß, packte ein Butterbrot aus einem Stück Zeitungspapier. Der Kleidung nach zu urteilen, stammte sie vom Land, vielleicht war sie eine Bäuerin. Über ihrem einfachen Kleid trug sie eine Schürze, auf dem Kopf ein graues Tuch, das unter dem Kinn zusammengeknotet war. Während sie genüsslich in das Brot biss, waren zwei Paar große Kinderaugen auf sie gerichtet.
Seit Linz saßen die beiden Mädchen schweigend auf einer Bank schräg gegenüber von Stella. Ein alter Mann hatte sie, bloß mit einem kleinen Korb ausgestattet, in den Zug gesetzt. »In Wien holt euch Tante Berta ab. Haltet das rote Tuch in die Höhe, dann wird sie euch erkennen.« Dabei hatte er der Größeren ein rotes Halstuch in die Hand gedrückt. Stella hatte gesehen, wie die beiden Mädchen mit den Tränen gekämpft hatten. Ohne ein weiteres Wort war der Mann wieder aus dem Zug gestiegen und hatte den Kindern zum Abschied nicht einmal zugewinkt.
Beide waren blass und viel zu dünn, die Kleidung war löchrig. Kein ungewöhnliches Bild. Seit Stella die österreichische Grenze überschritten hatte, sah sie ständig unterernährte Kinder und ausgemergelte Erwachsene, denen der Mangel des Kriegs ins Gesicht geschrieben stand. Die beiden Mädchen hockten schweigend nebeneinander und hielten einander an den Händen. Es schien, als wollten sie sich gegenseitig Halt geben. Das rote Tuch lag zerknüllt im Schoß der Älteren.
»Ich hab Hunger«, sagte die Jüngere leise.
»Pst!« Die Größere drückte warnend den Finger an ihre Lippen.
Völlig unbeirrt aß die Frau mit dem Kopftuch weiter. Teilen kam für sie nicht infrage.
Stella holte ihren kleinen Koffer aus der Gepäckablage. Tom hatte ihr vor der Abreise noch eine Packung Haferkekse aufgedrängt, sein Lieblingsgebäck. Sie klappte den Koffer auf. Ganz oben lag die blau-weiß gestreifte Packung mit der Aufschrift . Stella öffnete die Packung und hielt sie den Mädchen hin. »Wollt ihr einen Keks?«
Die beiden starrten sie ungläubig an, als hätte Stella ihnen eben einen großen Schatz angeboten.
»Greift zu«, ermutigte sie die Mädchen. »Die Kekse sind trocken, aber durchaus genießbar.«
»Danke!« Rasch schnappte sich das ältere Mädchen zwei Kekse. Den einen davon reichte sie ihrer Schwester, die vermutlich zu schüchtern war, um selbst zuzugreifen. Gierig stopfte sich die Jüngere den Keks in den Mund, während die Ältere langsamer aß und nur kleine Bissen nahm.
Stella kannte das nur zu gut. Noch vor ein paar Jahren hatte sie selbst so gegessen, denn auf diese Weise konnte man den Genuss weit hinauszögern.
»Willst du noch einen Keks?« Stella hielt die Packung der jüngeren Schwester entgegen. Sie mochte sechs Jahre alt sein, doch vielleicht ließen ihre eingefallenen Wangen sie auch jünger erscheinen, als sie tatsächlich war.
Das Kind nickte und bediente sich jetzt selbst. »Danke.«
»Sie sollten die fremden Gschrappen nicht verwöhnen«, bemerkte die bäuerlich gekleidete Frau mit vollem Mund. Mit dem Handrücken wischte sie sich über die von der Butter glänzenden Lippen.
»Wenn der Magen knurrt, muss er gefüllt werden«, entgegnete Stella. »Das hat nichts mit Verwöhnen zu tun.«
Die Frau mit der Schürze und dem Kopftuch wusste gewiss nicht, was es hieß, Hunger zu haben. Im Unterschied zu den meisten anderen Zugreisenden war sie wohlgenährt.
Auch Stella kannte das flaue Gefühl, wenn der...