E-Book, Deutsch, Band 2, 320 Seiten
Maly Aurelia und die Melodie des Todes
1. Auflage 2023
ISBN: 978-3-8321-6079-1
Verlag: DuMont Buchverlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Ein historischer Wien-Krimi
E-Book, Deutsch, Band 2, 320 Seiten
Reihe: Ein Fall für Aurelia von Kolowitz
ISBN: 978-3-8321-6079-1
Verlag: DuMont Buchverlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
BEATE MALY, geboren und aufgewachsen in Wien, arbeitete in der Frühförderung, bevor sie vor mehr als zwanzig Jahren mit dem Schreiben begann. Neben Geschichten für Kinder und pädagogischen Fachbüchern hat sie bereits zahlreiche historische Romane und Kriminalromane veröffentlicht. Bei DuMont erschienen >Aurelia und die letzte Fahrt< (2022) und >Aurelia und die Melodie des Todes< (2023).
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Aurelia
Praterstraße
Das Redaktionsbüro der Satirezeitschrift Figaro glich einem unaufgeräumten Wohnzimmer. Auf einem ovalen Tisch stapelten sich Papiere. An den Wänden reihten sich Regale, deren Bretter sich unter der schweren Last von Büchern, Mappen und dicken Ordnern bogen. In einer Ecke verkümmerte eine Topfpflanze, daneben befanden sich ein Sofa und vier niedrige Lehnsessel. Auf dem quadratischen Tischchen davor standen schmutzige Kaffeebecher, eine halb volle Bonbonniere aus der Konditorei Demel und eine Obstschale mit zwei schrumpeligen Äpfeln, die wohl seit Wochen darauf warteten, gegessen zu werden. Die Luft in dem beengten Raum war zum Schneiden dick. Abgestandener, kalter Rauch machte das Atmen zur Qual.
»Darf ich das Fenster öffnen?« Ohne eine Antwort abzuwarten, stand Aurelia auf, trat zum Fenster und öffnete es. Erleichtert atmete sie den süßlichen Duft einer blühenden Linde ein, die im ansonsten schmucklosen Innenhof stand.
»Seit wann stören Sie sich am Geruch von Tabak?« Ferdinand Lorenz, der Chefredakteur, sah Aurelia irritiert an, machte aber keine Anstalten, seine Pfeife wegzulegen.
»Ich habe mir das Rauchen abgewöhnt.«
»Warum das denn?«
Aurelia zuckte entschuldigend mit den Schultern. Als junge, moderne Frau, die sich für Kunst interessierte, gehörte das Rauchen zum guten Ton.
»Irgendwann habe ich bemerkt, dass das Essen nicht mehr richtig geschmeckt hat. Allem haftete ein Hauch Tabak an. Einem Apfel ebenso wie einem Stück Sachertorte beim Demel.«
Aurelia blieb beim Fenster stehen und stemmte die Hände in die schmalen Hüften. Obwohl sie ihr Korsett heute nicht annähernd so fest zugeschnürt hatte wie von der Schneiderin vorgesehen, war ihre Taille so schlank, dass selbst die Kaiserin vor Neid erblasst wäre. »Was sagen Sie nun zu den Zeichnungen?«, fragte sie.
Lorenz ergriff die Blätter, die vor ihm auf dem niedrigen Beistelltischchen lagen. Er runzelte besorgt die hohe Stirn. Dabei rutschte seine Brille auf die Nasenspitze. »Sehr böse, aber sie treffen ins Schwarze.«
Sein Blick ruhte auf zwei Tuschezeichnungen. Es waren Karikaturen, die sich über die Doppelmoral der Gesellschaft lustig machten. Auf einer war ein Mann zu sehen, der seine Frau mit erhobenem Zeigefinger belehrte, den täglichen Gottesdienst nicht zu versäumen, während vor seiner Tür bereits eine Prostituierte gelangweilt wartete. Die andere zeigte einen Priester, der vor einem Kreuz kniete. Unter seiner hoch ausgewölbten Kutte schauten nicht nur seine Füße, sondern auch die einer Frau hervor.
»Die Zeichnung mit dem Pfaffen können wir nicht bringen, die ist zu heikel. Aber die andere drucken wir.«
»Was denn? Dürfen Sie sich über die Scheinheiligkeit der Kirche nicht lustig machen?«, fragte Aurelia verärgert. »Woher stammen denn all die Kinder der Pfarrerköchinnen? Glauben Sie etwa, der Heilige Geist hat sie geschickt?«
Lorenz schüttelte missbilligend den Kopf.
»Über die Juden ziehen doch auch alle her. Haben Sie gesehen, was der Kikeriki letzte Woche gebracht hat?«, fuhr Aurelia leidenschaftlich fort. Das Konkurrenzblatt machte immer öfter mit antisemitischen Witzen Stimmung gegen die jüdische Bevölkerung.
»Bald glauben die Wiener, der Jude ist ein Millionär mit Hakennase, der sich auf Kosten der Armen bereichert. Dabei gibt es in Wien wohl mehr arme, mittellose Juden, die sich für einen Hungerlohn abrackern, als irgendwo anders auf der Welt.«
Lorenz legte die Zeichnungen wieder zurück, rückte seine Brille zurecht und strich sich über den bauschigen Backenbart, der seine vollen Wangen verbarg.
»Ich kann Ihren Unmut verstehen, aber ich bringe in meiner Zeitschrift keine Karikatur über einen Priester. Ich würde gerne noch eine Weile im Geschäft bleiben.«
»Pff!« Aurelia blies sich eine ihrer Locken, die sich aus ihrer hochgesteckten Frisur gelöst hatte, aus der Stirn.
»Ich veröffentliche Karikaturen einer jungen Frau, damit stehe ich eh mit einem Fuß im Gefängnis«, verteidigte sich Lorenz. »Auf die Gefahr, ins Visier der Kirche zu geraten, kann ich dankend verzichten.«
Aurelia stieß sich vom Fensterbrett ab und trat zurück in den Raum. Unelegant und ganz und gar nicht damenhaft ließ sie sich in einen der niedrigen Lehnstühle plumpsen. »Ich wünschte, ich wäre ein Mann.«
Nun änderte sich der Gesichtsausdruck des Chefredakteurs, er lächelte milde. »Das wäre jammerschade, denn Sie sind eine sehr attraktive junge Frau, wenn auch eine sehr störrische. Ihr Vater hätte besser daran getan, Sie von strengen Gouvernanten erziehen zu lassen, als Sie in ein modernes Schweizer Internat zu schicken.«
Aurelia ignorierte die boshafte Bemerkung. So einfach wollte sie nicht aufgeben. »Es sind doch bloß Karikaturen. Die Zeichnungen halten den Menschen einen Spiegel vors Gesicht. Sie bieten die Möglichkeit, über die eigenen Fehler zu schmunzeln.«
»Niemand in diesem Land lacht über die Verfehlungen eines Priesters, und schon gar nicht, wenn sie aus der Feder einer Frau stammen«, sagte Lorenz ernst. »Wenn jemand von unserem kleinen Geheimnis erfährt, kann ich meine Zeitschrift einstampfen, meine Koffer packen und den Kontinent rasch verlassen.«
»Sie übertreiben maßlos. In ein paar Jahren werden Frauen über die gleichen Rechte verfügen wie Männer.«
Lorenz’ Gesicht nahm einen mitleidigen Zug an, der Aurelias Ärger noch weiter schürte.
»Ich will, dass Sie beide Karikaturen bringen.«
Entschieden schüttelte Lorenz den Kopf. »Nein.« Er stand auf, ging zum Fenster und schloss es wieder. Der übergewichtige Mann litt an Gliederschmerzen. Er war fest davon überzeugt, dass Luftzug ihm schadete. Die Idee, seine Ess- und Trinkgewohnheiten zu ändern, kam ihm nicht in den Sinn.
»Es gibt da etwas, worum ich Sie in Zukunft bitten muss.« Lorenz versuchte beiläufig zu klingen, aber seine angespannte Körperhaltung verriet, dass er etwas Unangenehmes loswerden wollte. Wieder strich er sich über den Backenbart.
»Bitte schicken Sie in Zukunft Ihre Arbeiten mit der Post.«
»Wie bitte?« Mit einem Ruck drehte Aurelia ihren Kopf zur Seite und fixierte den beleibten Verleger. »Warum?« Aurelia genoss die Besuche in der Chefredaktion. Sie liebte die Diskussionen über Politik und Gesellschaft. Nirgendwo anders konnte sie so ehrlich über die Missstände in der Monarchie sprechen. Für ein paar Stunden in der Woche spielte es keine Rolle, dass sie eine junge Frau war. In Lorenz’ Büro brauchte sie kein Blatt vor den Mund zu nehmen.
»Es sind bereits Gerüchte im Umlauf.«
»Was für Gerüchte?«
Lorenz hüstelte verlegen, dann räusperte er sich. »Man munkelt, dass wir beide … also, Sie wissen schon.«
»Nein, ich habe keine Ahnung, wovon Sie reden. Was soll mit uns sein?« Aurelia hatte wirklich keine Idee, wovon Ferdinand Lorenz sprach.
»Man denkt, dass wir eine Affäre hätten.« Lorenz’ Gesicht wurde noch röter, als es ohnehin schon war.
»Das ist doch völlig absurd!« Die Vorstellung kam Aurelia dermaßen abstoßend vor, dass sie sich zusammenreißen musste, um nicht laut loszulachen.
»So abwegig ist die Idee auch wieder nicht.« Beleidigt kehrte Lorenz zum Sofa zurück und setzte sich wieder.
»Sie sind ein Freund meines Vaters und ebenso alt wie er.« Aurelia erwähnte nicht, dass ihr verwitweter Vater im Unterschied zu Lorenz nach wie vor ein attraktiver Mann mit einer athletischen Figur war.
»Das Alter hat Frauen noch nie abgehalten, sich zu Männern hingezogen zu fühlen!«, sagte Lorenz gekränkt. »Ich will nicht, dass es noch mehr Gerüchte gibt. Zu schnell könnte man herausfinden, dass Sie mich aus einem ganz anderen Grund regelmäßig besuchen.«
Aurelia öffnete den Mund, um etwas zu erwidern, schloss ihn aber wieder. Auf gar keinen Fall wollte sie riskieren, dass Ferdinand Lorenz sich weigerte, ihre Karikaturen weiterhin zu veröffentlichen. Niemand anders in der Stadt würde ihr als Zeichnerin diese Möglichkeit bieten. Frauen waren in Wien als Künstlerinnen unerwünscht. Nur die allerwenigsten schafften es, sich zu behaupten. Tina Blau war eine davon, doch auch sie musste sich an gewisse Regeln halten. Sie durfte Landschaften oder sittsam bekleidete Menschen malen, aber niemals nackte Modelle. Aktbilder fanden nur von männlicher Hand Akzeptanz. Frauen, die sich über diese Regel hinwegsetzten, liefen Gefahr, an den gesellschaftlichen Rand gedrängt zu werden. Es wurde gemunkelt, dass einige Künstlerinnen, um sich dennoch entfalten zu können, ihre Gemälde oder Skulpturen als die ihrer Lehrer ausgaben.
Unvorstellbarer noch als der männliche Akt einer Frau war jedoch eine Karikaturistin. Offiziell hieß Aurelia »Fritz Lustig«. Ein Pseudonym, über das sie nicht sehr glücklich war. Sie fand es plump und wenig originell. Lorenz hatte es sich ausgedacht und er war davon begeistert, weshalb Aurelia aufgehört hatte, sich darüber zu beschweren. Sie war dankbar, dass sie für den Freund ihres Vaters arbeiten durfte.
»Wollen Sie mich loswerden?« Aurelias Stimme hatte den fordernden Ton verloren. Sie fürchtete sich vor der möglichen Antwort. Einen Moment herrschte Schweigen. Der Chefredakteur musterte sie mit einem sorgenvoll väterlichen Blick.
»Nein«, sagte er schließlich. »Ihre Arbeiten sind gut. Aber ich will keine moralischen Grenzen überschreiten.«
»Keine Zeichnungen von Priestern?«
»Keine Priester, keine Bischöfe und schon gar nicht der Papst.«
»Was ist mit dem Militär?«
»Damit habe ich kein Problem.«
Aurelia gab sich geschlagen. Für den Moment war sie erleichtert. Auch Lorenz war fürs Erste...