Malm | Klima|x | E-Book | sack.de
E-Book

E-Book, Deutsch, Band 17, 200 Seiten

Reihe: punctum

Malm Klima|x

E-Book, Deutsch, Band 17, 200 Seiten

Reihe: punctum

ISBN: 978-3-7518-0310-6
Verlag: Matthes & Seitz Berlin
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark



Nach der Krise ist vor der Krise ist in der Krise. In seinem hellsichtigen Essay, geschrieben in Berlin in den Wochen des Lockdown, der nicht nur Deutschland im Frühjahr 2020 zu einem abrupten Stillstand zwang, wirft der Klimaaktivist und Humanökologe Andreas Malm die entscheidenden Fragen auf: Wie war es möglich, dass die Staaten des globalen Nordens angesichts der COVID-19-Pandemie so effektiv und entschlossen handelten - und im Hinblick auf die Erderwärmung immer noch nichts tun? Woher kommt die Sehnsucht nach einer Rückkehr zum Normalzustand, der längst schon keiner mehr ist? Und welche Schlüsse lassen sich aus der Kriegsrhetorik, in der über die Pandemie gesprochen wurde, für den Kampf gegen den eigentlichen Krankheitserreger ziehen? Jenem Krankheitserreger, der in Corona nur eine seiner Formen fand, die zeigt: Es gilt, der Zeit der Untätigkeit in Anbetracht des globalen Feindes namens Klimakrise ein entschlossenes Ende zu bereiten.

Andreas Malm, 1977 geboren, forscht an der Universität Lund in Schweden am Institut für Humanökologie und engagiert sich seit fast 20 Jahren in der Klimagerechtigkeitsbewegung. Im Frühjahr 2020 war er als Gastforscher am Center for Humanities und Social Change in Berlin eingeladen. David Frühauf, 1987 geboren, studierte Philologie und Sprachkunst in Wien, Literarisches Schreiben am Deutschen Literaturinstitut Leipzig und Neuere deutsche Literatur in Berlin, wo er als Autor, Übersetzer und Lektor lebt.
Malm Klima|x jetzt bestellen!

Weitere Infos & Material


II. Chronischer Notstand
Bei genauerer Betrachtung stellt sich das Bild eines energischen Vorgehens gegen die Pandemie jedoch als nichts als ein fauler Zauber heraus. Der Gegensatz zwischen der Coronavirus-Wachsamkeit und klimatischer Selbstgefälligkeit ist illusorisch. Seit Jahren schon steht die Möglichkeit eines zoonotischen Spillover im Raum, und die Staaten haben ebenso viel getan, um sich mit dieser Gefahr auseinanderzusetzen, wie damit, den anthropogenen Klimawandel zu bekämpfen: nichts. Der bis vor Kurzem kaum geläufige Begriff »zoonotischer Spillover« verweist auf eine Infektion, die zunächst in einem Tier auftritt und dann auf einen Menschen überspringt. Ein Krankheitserreger schwappt sozusagen über, über die Artengrenzen hinaus. Es kann sich dabei um einen Wurm, einen Pilz, eine Bakterie, eine Amöbe oder um ein Virus handeln; doch welcher Form er auch sein mag, letztendlich ist der Erreger eine winzige Kreatur, die ihre Beute von innen her auffrisst. Als Inbegriff des Parasitären infiltriert das Pathogen einen Körper, in dem es sein Dasein fristet, sich ernährt, vermehrt und dabei dem Wirt Schaden zufügt. Das »Coronavirus« bezeichnet eine Familie von Viren mit diesbezüglich besonderen Fertigkeiten. Und wie so viele andere seiner Familie entwich auch dieses spezielle Coronavirus, das von der WHO offiziell den Namen SARS-CoV-2 erhielt, seinen ursprünglichen Wirten, zu denen Fledermäuse zählen. Weshalb aber sollte es das überhaupt je tun? Unter normalen Bedingungen fristen Coronaviren und andere zoonotische Erreger ein unauffälliges Dasein in der freien Wildbahn. Zug um Zug rücken sie von einem auf den nächsten ihrer natürlichen bzw. »Reservoir«-wirte voran – einem Tier, das den Parasiten beherbergt, ihn erträgt und kaum oder gar nicht erkrankt. Über Millionen von Jahren haben sich die Viren mit diesen Wirten gemeinschaftlich entwickelt und einen Modus Vivendi mit ihnen erreicht, der es ihnen erlaubt, deren Körper dauerhaft zu bewohnen, ohne Gefahr zu laufen, sich durch dessen Tötung selbst das Leben zu nehmen. Mitunter kann es auch dazu kommen, dass ein paar Affen oder Mäuse erkranken und auf dem Waldboden verenden, doch bevor der Mensch überhaupt Gelegenheit hätte, dies zu bemerken, wären ihre Kadaver bereits von der üppigen Vegetation überwuchert. Tropische Regenwälder beheimaten die größte Artenvielfalt, deren Reihen sich zu den Polen hin lichten. In den hohen Breiten, dort, wo es zu geringer Sonneneinstrahlung kommt, setzten Eiszeiten die Zeiger der Evolution phasenweise zurück auf null. Demgegenüber blieben rund um den Äquator Flora und Fauna von der Vergletscherung verschont und gediehen in der von der Sonne her strömenden Energie geradezu prächtig, sodass die Tropenwälder zu Horten von erstaunlichem biotischem Überschwang werden konnten. Zugleich bilden sie jedoch auch die reichhaltigsten pathogenen Sammelbecken. Je näher am Äquator, desto größer die Anzahl der Wirte und unsichtbaren Treiber, von denen sich manche gelegentlich auf neues Terrain vorwagen. Damit ihnen dies gelingt, müssen eine Reihe von Bedingungen erfüllt sein: Die Reservoirwirte müssen – etwa indem sie Niesen, Husten oder Bluten – den Erreger auf einen anderen besonders infektionsempfänglichen Wirt abstreifen. Hat der Erreger Glück, handelt es sich dabei um einen »Verstärkerwirt«, in dessen Schoß sich der Krankheitserreger in hohem Maße vermehren, neue Genkombinationen ausprobieren, Eigendynamik entwickeln und sich auf den nächsten Schritt vorbereiten kann, der von ähnlich großem Erfolg gekrönt sein muss. Die meisten Übertragungswege stoßen dabei rasch an ihre Grenzen. Von Zeit zu Zeit aber tun sich Öffnungen auf, und die Pathogene finden ihren Weg bis zur menschlichen Population. Dabei gilt, je kürzer die Distanz, desto geringer der hierfür notwendige Kraftakt. Es ist eine alte Geschichte: Beulenpest und Tollwut etwa sind zwei berüchtigte Beispiele zoonotischer Spillovers. Sie wirken nicht unbedingt wie besonders moderne Viruserkrankungen, die zwischen nach Parfüm riechenden Spültoiletten hausen, weshalb die von ihnen ausgehende Gefahr erst vor Kurzem als Problem der Vergangenheit abgetan wurde. Im goldensten Zeitalter des Kapitalismus, den auf den Zweiten Weltkrieg folgenden Dekaden, konnte man vernehmen, dass »die westliche Welt den Tod durch Infektionskrankheiten praktisch eliminiert« habe. Solch überschwänglich optimistische Diagnosen wurden auf die eine oder andere Weise noch bis ins letzte Jahr des zweiten Jahrzehnts des Jahrtausends beibehalten. In seinem 2018 erschienenen Bahnhofsbuchhandlungsbestseller Aufklärung jetzt ergötzte sich Steven Pinker, die tonangebende Stimme im Chor des kleinbürgerlichen Optimismus, am »Sieg über Infektionskrankheiten« auf der ganzen Welt – Europa, Amerika, allem voran jedoch die Entwicklungsländer –, der den Beweis darstellen sollte, dass »eine reichere Welt […] eine gesündere Welt« oder, weniger umständlich ausgedrückt, dass eine fest im Griff des Kapitals stehende Welt die beste aller möglichen Welten sei. »›Die Pocken [smallpox] waren eine Infektionskrankheit‹«, las Pinker auf Wikipedia – »genau: ›smallpox was‹«; sie existieren nicht mehr, und die noch nicht ausgerotteten Krankheiten werden genauso rasant dezimiert. Pinker schloss das Buch zu diesem Thema mit der zuversichtlichen Vorhersage, dass die Welt in absehbarer Zukunft von keiner Pandemie heimgesucht würde. Hätte er sich die Mühe gemacht, die wissenschaftlichen Aufsätze darüber zu lesen, hätte er gewusst, dass die Wellen einer steigenden Flut bereits damals gegen jene Festung brandeten, die er von ganzem Herzen zu verteidigen suchte. Beispielsweise hätte er jene Seiten der Zeitschrift Nature aufschlagen können, auf denen ein Team von Wissenschaftler*innen im Jahr 2008 335 Ausbrüche »neu auftretender Infektionskrankheiten« seit 1940 untersuchte und dabei feststellte, dass ihre Zahl »im Laufe der Zeit erheblich angestiegen« sei. In den meisten Fällen handelte es sich um zoonotische Spillovers, deren Ursprung größtenteils in freier Wildbahn lag. Eine sechs Jahre später veröffentlichte Studie nahm den gleichen Trend zur Kenntnis, registrierte jedoch einen Zuwachs in den 1980ern, dem Jahrzehnt von HIV, des bekanntesten von Tieren übertragenen modernen Virus vor SARS-CoV-2. Seitdem hat sich die Liste der aus anderen Spezies eingeschleppten Erreger gleich einem fortlaufenden Kassenbon immer weiter verlängert: das Nipah-Virus, das 1998 erstmals in Malaysia nachgewiesen wurde; das West-Nil-Virus, das 1999 nach New York gelangte; Ebola, das sich 2014 mit verheerenden Folgen über Westafrika hermachte; das Zika-Virus, das 2015 durch Lateinamerika und die Karibik fegte; jenes Coronavirus, das SARS verursachte und 2002 die Welt erschütterte; jenes, das Auslöser von MERS ist und 2012 im Nahen Osten kursierte; ein Haufen alte Krankheiten, die bisweilen mit neuen Stämmen ihr Comeback feiern – Milzbrand, Lyme-Borreliose, Lassafieber –, und eine Reihe von Influenzaviren, die mit der Regelmäßigkeit von Wirbelstürmen auftreten, aber eher gesichtslose Namen tragen: H1N1, H1N2v, H3N2v, H5N2, H5Nx und so fort. 2019 wies die wissenschaftliche Literatur in regelmäßigen Abständen auf die Tatsache hin, dass »Infektionskrankheiten weltweit mit einer nie dagewesenen Geschwindigkeit auftreten« würden, wobei der geschätzte Anteil von Zoonosen daran zwischen zwei Drittel und drei Viertel liege und bei Pandemien auf fast hundert Prozent ansteigen würde. Für sich genommen handelt es sich also bereits um einen lang andauernden Trend. Dass seltsame neue Krankheiten aus der freien Natur hervortreten, ist in gewisser Hinsicht logisch: Jenseits des menschlichen Herrschaftsgebiets lauern unbekannte Pathogene. Doch könnte dieses Gebiet auch weitgehend in Ruhe gelassen werden. Ohne die von Menschen betriebene Wirtschaft, die konstant auf die Wildnis einstürmt, sich auf sie stürzt, in sie eingreift, sie zerstückelt und mit einem Eifer zerstört, der an Ausrottungslust grenzt, würden diese Dinge nicht geschehen. Die Krankheitserreger würden nicht auf den Gedanken kommen, auf uns überzuspringen, sie wären bei ihren natürlichen Wirten sicher. Werden ebendiese Wirte jedoch in die Enge getrieben, gestresst, vertrieben oder getötet, bleiben den Erregern zwei Optionen: aussterben oder springen. In seinem momentan unbedingt lesenswerten, 2012 veröffentlichten Buch Spillover. Der tierische Ursprung weltweiter Seuchen vergleicht David Quammen diesen Effekt mit dem Abriss eines Lagerhauses. »Wenn Bäume gefällt und die darin lebenden Tiere abgeschlachtet werden, fliegen die zugehörigen Erreger davon wie der Staub«, der durch die Bulldozer aufgewirbelt wird. Die Wissenschaft ist sich einig: Der fortdauernde Trend hat eine sehr allgemeine Ursache in der Ökonomie, die von menschlicher Seite her immer weiter in die Wildnis vordringt. Es führt daher zunächst kein Weg daran vorbei, einen weiteren Umweg über die nichtmenschliche Welt zu machen. Und dieser nimmt seinen...


Andreas Malm, 1977 geboren, forscht an der Universität Lund in Schweden am Institut für Humanökologie und engagiert sich seit fast 20 Jahren in der Klimagerechtigkeitsbewegung. Im Frühjahr 2020 war er als Gastforscher am Center for Humanities und Social Change in Berlin eingeladen.

David Frühauf, 1987 geboren, studierte Philologie und Sprachkunst in Wien, Literarisches Schreiben am Deutschen Literaturinstitut Leipzig und Neuere deutsche Literatur in Berlin, wo er als Autor, Übersetzer und Lektor lebt.


Ihre Fragen, Wünsche oder Anmerkungen
Vorname*
Nachname*
Ihre E-Mail-Adresse*
Kundennr.
Ihre Nachricht*
Lediglich mit * gekennzeichnete Felder sind Pflichtfelder.
Wenn Sie die im Kontaktformular eingegebenen Daten durch Klick auf den nachfolgenden Button übersenden, erklären Sie sich damit einverstanden, dass wir Ihr Angaben für die Beantwortung Ihrer Anfrage verwenden. Selbstverständlich werden Ihre Daten vertraulich behandelt und nicht an Dritte weitergegeben. Sie können der Verwendung Ihrer Daten jederzeit widersprechen. Das Datenhandling bei Sack Fachmedien erklären wir Ihnen in unserer Datenschutzerklärung.