Maier Das Ende der Behaglichkeit
1. Auflage 2015
ISBN: 978-3-86248-792-9
Verlag: FinanzBuch Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 0 - No protection
Wie die modernen Kriege Deutschland und Europa verändern
E-Book, Deutsch, 288 Seiten
ISBN: 978-3-86248-792-9
Verlag: FinanzBuch Verlag
Format: EPUB
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Michael Maier war Herausgeber der Deutschen Wirtschafts Nachrichten. Nach seinem Jurastudium in Graz war er Wirtschaftsleiter des Afro-Asiatischen Instituts in Graz, danach Chefredakteur der Presse (Wien) und Kolumnist beim Standard (Wien) sowie Chefredakteur der Berliner Zeitung, des Stern und der Netzeitung. Er war Fellow am Shorenstein Center der Harvard Kennedy School for Government (Forschungsthema: Umweltschutz und Bürgerjournalismus) sowie Gast am Koebner Institut für Neue Deutsche Geschichte der Hebräischen Universität Jerusalem (Professor Moshe Zimmerman), wo er über Antisemitismus in der DDR forschte.
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Einleitung
Als ich im Jahr 1996 von Wien nach Berlin geholt wurde, um aus dem ehemaligen SED-Bezirksblatt »Berliner Zeitung« eine ordentliche Zeitung zu machen, war Deutschland für viele europäische Einwanderer die ideale Mischung von Behaglichkeit und Aufbruch. Man konnte viel erleben, ohne etwas zu riskieren. Die Wiedervereinigung war zwar ein radikaler Bruch, traf aber in erster Linie die Ostdeutschen. Den westdeutschen Eliten bot sich die einmalige Chance einer Zeitreise in die Vergangenheit. So verließen junge, neugierige und außerordentlich belesene Journalisten die behaglichen Redaktionsräume der FAZ, um für ein ehemaliges SED-Propagandablatt die Überreste der DDR zu bestaunen. Sie notierten die Aussagen von müden Helden und eloquenten Verrätern, porträtierten die Zeitzeugen und spotteten über die Spießigkeit der Diktatoren von Wandlitz. In meist brillanten Texten gelang es ihnen, von Goethe bis zur Love Parade immer die richtige historische Reminiszenz zu finden.
Überlegungen, welche Folgen die friedliche Revolution von 1989 für das Deutschland der Zukunft haben würde, standen für die meisten nicht im Vordergrund. Die DDR-Bürgerrechtler spielten keine Rolle. Bärbel Bohley, eine Art Jeanne d’Arc des Mauerfalls, lebte immer noch in ihrer verfallenen Wohnung am Prenzlauer Berg. Später ging sie nach Bosnien, um dem Land beim Wiederaufbau nach dem Krieg zu helfen. Die politischen Macher setzten auf einen wilden Bauboom. Der Alexanderplatz, wo die Redaktion liegt, sollte eine Skyline aus Wolkenkratzern erhalten, vor der selbst New York erblassen würde. Zwanzig Jahre später sieht der Platz immer noch aus wie zu Mielkes Zeiten. Nur die Ost-Kneipe »Das Setz-Ei« hat Pleite gemacht und ist verschwunden. Der DDR-Vorzeigebau, der »Palast der Republik«, wurde abgerissen. An dem Ort wird das kaiserliche Stadtschloss rekonstruiert.
Warum hat »die Wende« eigentlich keinen Modernisierungsschub in Deutschland ausgelöst? Die deutschen Eliten haben damals vor allem leidenschaftlich darüber gestritten, welche Folgen die Wiedervereinigung für die Vergangenheit Deutschlands haben würde. Die Zukunft sollte aus der Vergangenheit definiert werden. Ich erinnere mich an nächtelange hitzige Diskussionen mit dem Direktor des Deutschen Historischen Museums in Berlin: Es ging um die Frage, ob die Quadriga vom Brandenburger Tor aus heraldischer Sicht als neues Symbol für die »Berliner Zeitung« taugen könnte, oder das als eine Reminiszenz an Preußen missverstanden werden würde. Wir verwarfen die Idee und entschieden uns für die Modernisierung der Zeitung.
Ich gewann damals den Eindruck, dass die deutschen Eliten eine gewisse Aversion gegen wirklich radikale Veränderungen haben. Unberechenbare Erneuerer werden misstrauisch beäugt. Man fürchtet den radikalen Bruch. Deutschland setzt auf die Perfektion des Bestehenden. Bei neuen Dingen will man erst mal abwarten, ob sie sich bewähren. Wenn allerdings einmal eine Neuerung vollzogen wurde, dann können sich die Deutschen wie kein anderes Volk der Welt an der »inkrementellen Verbesserung« erfreuen: Hier noch ein Schräubchen, da ein Rädchen, dort eine Stellschraube – so wird man Export-Weltmeister.
Doch schon um das Jahr 2000 zeigte sich auch in Deutschland, dass die nächste Umwälzung nicht so einfach zu absorbieren sein würde: Die Internet-Revolution machte die Wiedervereinigung über Nacht zu einer welthistorischen Petitesse. In Amerika legte der russische Einwanderer Sergey Mikhaylovich Brin den Grundstein zu einem neuen Imperium. Google sollte nur wenige Jahre später zu einer Macht werden, die im Zusammenspiel mit anderen Technologie-Giganten das Leben der Menschen auf dem Erdball verändert wie kein anderes Unternehmen in der Geschichte zuvor.
So wurden in Berlin Wende und Wiedervereinigung bald abgelöst von den Vibrationen der Internet-Revolution. Ich hatte das Glück, auch bei dieser »Revolution« dabei sein zu dürfen. Ich wurde vom norwegischen Internet-Pionier Knut Ivar Skeid geholt, um mit ihm gemeinsam die erste deutsche Online-Zeitung aufzubauen, die »Netzeitung«. Im Vergleich zu den Goldgräber-Tagen bei der »Berliner Zeitung« blieben die Deutschen für das damals als revolutionär geltende Projekt einer Tageszeitung ohne Papier nicht unter sich, sondern profitierten von der Internationalität des Internets: Hinter dem Projekt standen schwedische Investoren, das Führungsteam kam aus Norwegen, der Kulturchef war ein Schweizer Schriftsteller griechischer Herkunft.
Ich habe Deutschland in all diesen Umbrüchen als ein sehr stabiles Land kennen und schätzen gelernt. Veränderungen nähert man sich hierzulande aus einer unwiderstehlichen »Behaglichkeit« heraus. Das Wort ist altmodisch und für eine SMS schon fast zu lang. Lion Feuchtwanger hat es gerne verwendet, in seiner großen Wartesaal-Trilogie. Dort beschreibt Feuchtwanger, wie die damaligen deutschen Eliten – unter ihnen viele Juden – die Gefahren des Nationalsozialismus nicht kommen sahen. Sie hatten es sich »behaglich« in ihren Villen in Berlin-Dahlem oder in München-Schwabing eingerichtet. Das Donnergrollen, das die Katastrophe ankündigte, interpretierten sie als Laune der Geschichte. Auch Florian Illies schildert in seinem Buch »1913. Der Sommer eines Jahrhunderts« die seltsame Mischung aus behaglichem Gleichmut und nervöser Spannung am Vorabend des Ersten Weltkriegs: Alle dachten: »Wann geht es endlich los?«, wie Illies den österreichischen Thronfolger Franz Ferdinand ironisch denken lässt.1 Doch kaum einer konnte sich vorstellen, dass am Ende des Krieges der Zerfall der österreichisch-ungarischen Monarchie und damit die komplette Neuordnung Europas stehen würden.
Im Jahr 2015 ist die Behaglichkeit der Deutschen einem bedrückten Unbehagen gewichen. Die Heiterkeit ist verflogen. An die Stelle der Gelassenheit ist eine latente Aggressivität getreten. Statt Zuversicht herrschen Beklemmung, Misstrauen, Verzagtheit und Angst. Zehntausende Menschen ziehen unter dem apokalyptischen Slogan »Patrioten Europas gegen die Islamisierung des Abendlandes« durch die eiskalten Straßen Dresdens. Die Bilder der fahlen Gestalten mit ihren seltsamen Fahnen sind verstörend. Manche Auftritte wie der des Schriftstellers Akif Pirinçci im Oktober 2015 sind so rassistisch, dass es sogar den Teilnehmern der Pegida die Sprache verschlägt. Die deutschen Eliten verbeißen sich in einem heftigen Streit über »links« oder »rechts«. Doch die Irritationen sind nicht mit neu aufgebrochenen, ideologischen Gräben zu erklären.
Erklärungen und vor allem Lösungen wird es aber bald brauchen, denn mittlerweile ist eine Welle der offenen Gewalt zu registrieren: In Heidenau attackierten Rechtsextreme im August 2015 eine Flüchtlingsunterkunft. In Berlin bedrohte im September 2015 ein verurteilter Terrorist Passanten und verletzte eine Polizistin mit einem Messer, nachdem er sich seiner elektronischen Fußfessel entledigt hatte. In Köln wurde im Oktober die Kandidatin für das Amt des Oberbürgermeisters bei einer Wahlveranstaltung niedergestochen.2
Deutschland ist von einem radikalen Umbruch erfasst worden, der sich in chaotischen Zuständen manifestiert. Die »Stellschraube« als Steuerungsinstrument versagt. Das Land muss sich Problemen stellen, die nichts mit der eigenen Vergangenheit, sondern ausschließlich mit der Zukunft der Welt zu tun haben. Alle die Probleme sind von »externen« Faktoren getrieben. Die Berliner Republik, die sich lange in der Rolle des Zuschauers gefiel, findet sich auf einmal in der Position des Getriebenen wieder. Andere bestimmen das Tempo. Die Herausforderungen sind gewaltig: Die Möglichkeit des Zerfalls der EU, die Gefahr eines neuen Kalten Krieges gegen Russland, der größte Skandal der Automobilgeschichte ausgerechnet bei Volkswagen, hunderttausende Flüchtlinge und Migranten, die scheinbar wie aus dem Nichts plötzlich auftauchen und hier leben wollen.
Deutschland hat jahrelang so getan, als sei der ewige Frieden ausgebrochen, nur weil zwischen Rhein und Oder alles so behaglich ablief. Diese Illusion hat dazu geführt, dass man am liebsten die Zeit angehalten hätte: Alles möge so bleiben, wie es ist. Die »friedliche Revolution« von 1989 hat die Illusion aufkommen lassen, dass Weltveränderungen immer ganz harmonisch vonstattengehen können, wenn man es nur ganz fest möchte. Die fröhliche Begrüßungs-Welle für die Flüchtlinge, als sich die Deutschen mit »Refugees Welcome«-Schildern an ihre nicht mehr existierenden Grenzen aufmachten, war in ihrer Choreografie von der Maueröffnung inspiriert: Auch damals hatten die Wessis die Ossis herzlich in Empfang genommen. Doch anders als bei der Wiedervereinigung leben wir im Jahr 2015 nicht in einer Zeit der globalen Friedenshoffnung. Anders als in den 1990er-Jahren sind die Militärs nicht überall weltweit auf dem Rückzug. Das Gegenteil ist der Fall.
Denn tatsächlich ist die Welt kriegerischer denn je. Die Möglichkeit, Kriege mit »modernen Mitteln« zu führen, hat die Lust vieler Regierungen geweckt, Veränderungen mit Gewalt zu erzwingen. Der Charakter von militärischen Konflikten hat sich nämlich dramatisch verändert. Waffensysteme werden nicht mehr von Soldaten, sondern von Computerspezialisten gesteuert. Kriege werden als Finanzkriege geführt: Mit einer einzigen gezielten Finanz-Spekulation kann eine ganze Volkswirtschaft in die Knie gezwungen werden. Kriege werden als Cyber-Kriege im virtuellen Raum geführt. Ein Angriff auf die Stromversorgung kann ein ganzes Land lahmlegen. Orchestriert werden die Kriege in Propagandaschlachten, die in den Medien und...