E-Book, Deutsch, Band 6, 325 Seiten
Reihe: Erschütternde Erfahrungsberichte von Bestsellerautorin Toni Maguire
Maguire Ich wollte doch nur, dass ihr mich liebt
1. Auflage 2025
ISBN: 978-3-7517-8243-2
Verlag: Lübbe
Format: EPUB
Kopierschutz: 0 - No protection
E-Book, Deutsch, Band 6, 325 Seiten
Reihe: Erschütternde Erfahrungsberichte von Bestsellerautorin Toni Maguire
ISBN: 978-3-7517-8243-2
Verlag: Lübbe
Format: EPUB
Kopierschutz: 0 - No protection
Weitere Infos & Material
Zwei
Ich war noch eine junge Frau, als ich meine erste Therapie machte. Es war nicht meine Entscheidung; sie wurde für mich getroffen. Mir wurde eine Karte gegeben, aus dickem, cremefarbenem Papier, auf deren Vorderseite ein Name gedruckt war. Als ich sie umdrehte, sah ich die Adresse und die Zeit des Termins, geschrieben in ordentlicher kursiver Schrift. Nachdem ich sie gelesen hatte, sagte ich Ja, ich wisse, wo das sei und welcher Bus mich dort hinbringen werde. Ich steckte die Karte in meine Tasche, wobei meine Finger immer noch ihre glatte Oberfläche umschlossen, und machte mich auf den Weg nach Hause. So gerne ich auch die kleine, rechteckige Karte herausgeholt, in Fetzen gerissen und in die Luft geworfen hätte, verstand ich doch, dass ich keine andere Wahl mehr hatte. Es würde Konsequenzen geben, wenn ich nicht anwesend war, und die zu tragen, scheute ich mich. Zwei Tage später, um zehn Uhr morgens, erwischte ich den Bus, der mich von der Siedlung des sozialen Wohnungsbaus, die ich mehrere Monate lang kaum verlassen hatte, durch Straßen brachte, in denen sich Siedlungen von gut gepflegten Privathäusern zu beiden Seiten ausbreiteten. Saubere Doppelhaushälften aus rotem Backstein mit weißen Netzgardinen an den Fenstern und gestutzten Buchsbaumhecken, die den Garten von dem der Nachbarn trennten. Als ich sie sah, kehrte ich in Gedanken in eine Zeit zurück, die ein ganzes Leben lang her zu sein schien, die Zeit, als ich ein Kind war. Ich hatte gesehen, wie diese Häuser wie Pilze aus dem Boden geschossen waren, bis unsere Siedlung, mit ihren verwahrlosten Häusern, wie eine einsame, verlorene Insel inmitten ihrer Eleganz gewirkt hatte. Die Gegend, die das Sozialamt uns zugewiesen hatte, war für Problemfamilien reserviert. Zu denen, wie es schien, alle Familien mit mehr als zwei Kindern gerechnet wurden. Sicherlich war etwas Wahres daran, denn ungepflegte Gärten, schmutzige Vorhänge, überquellende Mülleimer und Straßen, die mit unidentifizierbarem Schmutz übersät waren, waren dort die Norm. Es herrschte die übereinstimmende Meinung, dass Kinder aus den Straßen, in denen ich aufwuchs, schlecht erzogen und verwildert waren, und dass sie, wenn sie erst einmal erwachsen waren, ihren Familien und der Gesellschaft nichts als Ärger machen würden, während jene, die in den privaten Siedlungen lebten, andere Ziele für ihren Nachwuchs hatten. Die Bauweise der Privathäuser, mit ihren durchgehenden Wohnzimmern, zweieinhalb Schlafzimmern und Flecken von gepflegten Rasenflächen, war vielleicht nicht viel anders, als die unserer Häuser, aber es war immer noch eine andere Welt. An den Wochenenden wurde der Rasen gemäht, glänzende Austin Morisses und Cortinas wurden gewaschen und poliert und spielende Kinder beaufsichtigt. Jene, die dort lebten, waren stolz darauf, Hausbesitzer zu sein, nicht Mieter, wie es viele ihrer Eltern immer noch waren. Unser Teil der Stadt war ein Schandfleck, den sie nur grollend in ihrer Mitte duldeten. Sie wollten uns dort genauso wenig, wie meine Mutter mich wollte, oder auch meine zwei Brüder. Ich hatte beobachtet, wie diese sorglosen Erstkäufer zu ihren neuen Häusern fuhren. Ich war Zeuge gewesen, als die Lieferwagen ankamen, und die Möbel, die oft noch in ihrer Plastikverpackung steckten, hineingetragen wurden. Jetzt sind genau diese jungen Paare älter geworden, ihr Nachwuchs ist erwachsen und längst weggezogen. Die meisten ihrer Kinder besuchten dieselben Schulen wie ich. Ich erinnere mich an diese Gruppen von gut gekleideten Mädchen, die bereits lange bevor sie mit der Schule begannen ihre eigenen kleinen Cliquen gebildet hatten. Die meisten kannten einander vermutlich bereits seit ihre Mütter ihre Kinderwagen nebeneinander hergeschoben hatten. Sie müssen in denselben Mutter-und-Kind-Gruppen gewesen sein, bevor sie im Kindergarten angemeldet wurden, und wenn sie dann das Kleinkindalter hinter sich gelassen hatten, gingen sie bereits zu den Geburtstagsfeiern der anderen. Jetzt kann ich vielleicht verstehen, warum sie alle in kleinen Gruppen zusammenhielten, aber damals fühlte ich mich wie eine Ausgestoßene. Wie man jemandem die kalte Schulter zeigt, schienen sie bereits in einem sehr jungen Alter gelernt zu haben. Ich zuckte jedes Mal zusammen, wenn ein kleines Kind, das die Rolle des Engels in einem Krippenspiel hätte spielen können, offensichtlichen Unwillen zeigte, im Klassenraum neben mir zu sitzen. Ich versuchte, mich unsichtbar zu machen, wenn Umschläge herumgereicht wurden, die Einladungen zu Geburtstagsfeiern enthielten. Als ich fünf war, dachte ich einmal, einer davon wäre für mich, ich hatte bereits die Hand gehoben, um ihn entgegenzunehmen, und mein Mund begann, sich zu einem erfreuten Lächeln zu verziehen, als er einem Mädchen gegeben wurde, das direkt hinter mir saß. Als ich sechs war, hatte ich akzeptiert, dass keine von diesen Einladungen jemals in meiner Hand landen würde. Selbst jetzt, so viele Jahre später, kommt der Schmerz, von dem ich mir eingeredet hatte, ich hätte ihn überwunden, aus seinem Versteck und überfällt mich, wenn ich ihn am wenigsten erwarte. Als Kind hatte ich nicht verstanden, warum diesen selbstsicheren kleinen Kindern mit ihren gebügelten Kleidern und glänzenden Haaren gesagt wurde, sie sollten sich von uns fernhalten. Bei meinem älteren Bruder dachte ich, es wäre bloß, weil er anders war. Mir war bewusst, dass er immer allein auf dem Schulhof stand. Ich wusste außerdem, dass er verspottet und gequält wurde. Hatte ich nicht Jungen seinen sonderbaren Gang nachmachen und sein langsames Sprechen imitieren sehen? Es gab mir ein unbehagliches Gefühl. Ich wollte, dass ein Lehrer das beendete, diesen Jungen sagte, sie sollten ihn in Ruhe lassen – sie müssen gesehen haben, wie es passierte. Doch es wurde nie etwas unternommen. Kaum war ich aus der Vorschule heraus, da wurde es auch schon zu meinem Schicksal, auf dem Schulhof ignoriert zu werden, so wie es ein paar Jahre später auch bei meinem kleinen Bruder sein sollte. Als der Bus um eine Ecke bog, blinzelte ich und versuchte, diese Gedanken zu vertreiben. Es gab wichtigere Probleme, mit denen ich mich auseinandersetzen musste. »Krieg dich in den Griff, Cassie«, sagte ich mir. »Hör auf, in der Vergangenheit zu verweilen. Das tut doch nie gut.« Dann sah ich, als ich aus dem Fenster des Busses blickte, dass sich die hellgrünen Blätter der Platanen entfalteten. Der Frühling trat endlich in Erscheinung. Vielleicht, dachte ich, kündigten die Zeichen des Beginns eines neuen Jahres auch einen neuen Anfang für mich an. Der nächste Halt war meiner. Es war nur ein Fußmarsch von wenigen Hundert Metern von der Stelle, an der ich ausstieg, bis zu der Adresse auf der Karte. War ich nervös an jenem Tag? Ich denke, darüber war ich hinaus, meine Empfindungen waren bereits von den Ereignissen, die ein paar Wochen zuvor stattgefunden hatten, betäubt worden. Ich betätigte die Klingel neben dem Namensschild an der Tür, und eine körperlose Stimme fragte nach meinem Namen, bevor sie mich bat, einzutreten. Sobald ich drinnen war, wurde ich darüber informiert, dass Ms Travis mich in wenigen Minuten empfangen werde und ich mich setzen solle. Es gab mehrere Stühle, doch ein schlaksiger, dunkelhaariger Jugendlicher war die einzige Person, die auf einem saß. Hinter den Stühlen befand sich ein großer, prunkvoller, vergoldeter Spiegel. Ich warf einen unwillkürlichen Blick hinein, und sah eine ziemlich schäbige Frau zurückblicken, die sich dem mittleren Alter näherte, deren zu enger Rock an den Hüften Falten warf und deren Blusenknöpfe (an einer Bluse, die sie in einem Charity Shop gekauft hatte) spannten. Ihr hellbraunes Haar musste dringend geschnitten werden, und Sorgen hatten tiefe Falten in ihre Stirn gegraben, während ihr ungeschminktes Gesicht, das durch Schlafmangel verquollen war, blass und abgehärmt war. »Das bin ich«, dachte ich und fühlte eine Welle der Depression. Wohin war der Mensch verschwunden, der ich gewesen war? Denn die Frau im Spiegel war beinahe eine Fremde. Ich sehnte mich nach einer Zigarette, und meine Hand wanderte instinktiv in meine Tasche, bevor ich ein Rauchverbotsschild sah. Meine Finger zuckten, in dem Drang, eine zu rauchen, ein paar Züge würden mich beruhigen. Ich dachte daran, nach draußen zu gehen, nur eine Minute würde reichen, um dieses Verlangen nach Nikotin zu stillen. Doch dann würde ich vielleicht zu spät zu meinem Termin kommen, und das würde nicht gut aussehen. »Cassie«, sagte meine innere Stimme mitleidslos, »wo ist deine Willenskraft geblieben? Du kannst doch auch mal eine Stunde ohne auskommen, oder?« »Natürlich kann ich das«, sagte ich fest zu dieser tyrannischen Stimme, und ließ mich auf einem der Stühle nieder. Ich nahm eine Zeitschrift in die Hand und blätterte sie durch, ohne etwas zu sehen. Ein paar Augenblicke später wurde ich in ein Zimmer geführt, das keinerlei Ähnlichkeit mit einer Arztpraxis aufwies, in der ich je gewesen war. Es gab einen Schreibtisch mit einem Computer darauf, aber davon abgesehen, sah es, mit den bequemen Sesseln und dem Tisch aus heller Eiche, mehr wie ein Wohnzimmer und weniger wie eine Praxis aus. Die Frau, die mich mit einem herzlichen und freundlichen Lächeln begrüßte, war ebenfalls...