Maguire | Ein Einzelfall | E-Book | sack.de
E-Book

E-Book, Deutsch, 360 Seiten

Maguire Ein Einzelfall


1. Auflage 2023
ISBN: 978-3-902711-98-4
Verlag: Septime Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark

E-Book, Deutsch, 360 Seiten

ISBN: 978-3-902711-98-4
Verlag: Septime Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark



Als die 25-jährige Bella Michaels in der australischen Kleinstadt Strathdee brutal ermordet wird, ist die Gesellschaft in Schockstarre. Gleichzeitig stürzt sich die Medienmeute auf die erschütterte Gemeinschaft. Bellas Schwester Chris, eine Kellnerin in einem Pub im Ort, befindet sich mit einem Mal ungewollt im Zentrum der Aufmerksamkeit. Und das im Augenblick ihres größten Leides. Bellas vermeintlich leichtgängiges Verhältnis zu Männern steht bald im Zentrum des Interesses und färbt auf die getötete Schwester ab. Während Chris versucht, Antworten, Begründungen oder Erklärungen für die unbegreifliche Tat zu finden, wird sie von ihren Freunden, Nachbarn und ihrem Ex-Mann tatkräftig unterstützt. Eine Tatsache, die für noch mehr Tratsch, Gerede und Medieninteresse sorgt. Doch Tag für Tag vergeht, ohne dass die Polizei in ihren Ermittlungen vorankommt, und mit jedem Tag versinkt Chris noch ein Stückchen weiter in Selbstisolation und Paranoia ab. Ebenfalls an Ort und Stelle ist May, eine nicht ganz sattelfeste Reporterin einer Boulevard-Website. Sie wittert ihre Chance, diesen Fall als Sprungbrett zu einer Karriere als Kriminalreporterin nutzen zu können, und betätigt sich lustvoll unverblümt am Medienrummel, der keine ethischen Barrieren zu kennen scheint, bis sie geleakte Fotos der übel zugerichteten Leiche entdeckt und kurz darauf Chris zu einem Exklusivinterview überreden kann. Aus diesem Spannungsfeld entwickelt Emily Maguire ein eindringliches Psychogramm einer Kleinstadt im Schockzustand. Ein Einzelfall ist ein psychologischer Thriller über tägliche Gewalt, die Besessenheit der Medien von hübschen, toten Mädchen und über die schwierige Frage, wie man Geister und Erinnerungen, Monster und Männer auseinanderhalten kann. Der Roman landete 2017 sowohl auf der Shortlist des Ned Kelly Award (bester Kriminalroman Australiens) als auch des Miles Franklin Award (bester Roman Australiens).

Emily Maguire publizierte bisher sechs Romane, unter ihnen der für den Stella Prize und den Miles Franklin Prize nominierten Roman Ein Einzelfall. Darüber hinaus veröffentlichte sie drei Sachbücher. Ihre Artikel und Essays über Sex, Feminismus, Kultur und Literatur finden sich in The Sydney Morning Herald, The Australian, The Observer und The Age. Die australische Autorin arbeitet als Lehrerin und Mentorin für junge, aufstrebende Autor:innen. 2018/2019 war sie Writer-in-Residence am Charles Perkins Centre der Universität von Sydney.
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Montag, 6. April

Es war der neue Cop, der an meiner Tür klingelte, der junge Kerl, der den Job erst seit ein paar Monaten machte. Ich dachte, dass es ein wenig grausam sei, einen jungen Burschen wie ihn zu schicken, um eine Sache wie diese zu erledigen. Später fand ich heraus, dass man ihn nur geschickt hatte, weil er am Fundort der Leiche zusammengebrochen war. So nennen wir es jetzt alle: den Fundort.

»Miss Rogers?«, fragte er, als ob er gleich gestehen würde, meinen Zaun beim Rückwärtsfahren beschädigt zu haben.

Ich nickte, wartete auf den Hieb, von dem ich wusste, er würde kommen. Ich wusste, dass er kommen würde, weil Bella seit Tagen verschwunden war und kein Cop zu irgendjemandem kommt, um Kuchen oder Wein vorbeizubringen.

Er wippte auf den Fersen und räusperte sich.

»Ihr habt Bella gefunden?«, sagte ich, um ihm den Beginn zu erleichtern. Um ihm zu zeigen, dass es okay sei.

»Ja.« Er blinzelte und ich dachte, Oh Gott, er kennt sie. »Ich meine, man hat eine Leiche gefunden. Auf die die Beschreibung passt. Sie muss identifiziert werden. Hm, wir brauchen Sie, um … um das zu tun. Um die Identität zu bestätigen.«

Wer bereits so viel ertragen musste wie ich, sollte wissen, dass ein Unglück, auch wenn man es kommen sieht oder man gar darum bittet, um keinen Deut weniger weh tut. Vermutlich schmerzt es sogar heftiger, schätze ich, weil du denkst, Ja, ja, bring’s doch endlich hinter dich, und du gleichzeitig denkst, dass du es sowieso längst weißt. Also stand ich nickend da und dachte darüber nach, dass der arme Kerl meine Schwester kennt, und was für eine harte Aufgabe das war, um sie dem neuen Kerl umzubinden, und dann schüttelte es mich so heftig, als ob ein Dämon in mich gefahren wäre.

Während des ganzen Wegs ins Krankenhaus wollte ich ihn fragen, was passiert war. Ich hoffte, dass sie ein Auto überfahren, sie eine Gehirnembolie oder sonst was gehabt hätte. Ich wollte all die Fragen stellen, die ich gestellt hatte, als Mutter gestorben war: »Ist es schnell gegangen? Hat sie gelitten?« Doch ich konnte nicht sprechen. Das war mir noch nie passiert, egal, in welches Drama man mich gestoßen hatte. Aber da, in diesem Auto, war es wie … Es war so, wie wenn du so krank von irgendeiner verdammten Magenscheiße bist, dass du nicht einmal »Nein« sagen kannst, wenn dir Eiswürfel zum Lutschen angeboten werden, nicht einmal nicken magst, weil die kleinste Bewegung dich wieder kotzen lässt. So war das, aber ich wollte nicht kotzen. Ich fühlte, dass jedes Geräusch oder jede Bewegung etwas auslösen würde, das wehtun und nicht mehr zu stoppen wäre.

Der Cop, sein Name war Matt, erzählte mir, dass er sie von der Schule kannte. »Sie war zwei Jahre über mir, aber es ist ja eine kleine Schule, wie Sie wissen?«

Ich wusste es. Ich war auf dieselbe Schule gegangen. Bella war zwölf Jahre jünger als ich, der Junge musste daher dreiundzwanzig sein – technisch gesehen war er also gar kein Junge mehr, auch wenn sein zusammengebissener Kiefer mit Pickeln gesprenkelt und seine Hände am Lenkrad weich und noch ohne Narben waren. Ich fragte ihn, ob er sie seit der Schule gesehen hatte, und er nickte, lächelte wie ein von der Liebe überwältigter Narr und sagte, dass er sie ein paarmal im Pflegeheim, in dem sie arbeitete, gesehen hatte. »Wir werden da manchmal hingerufen«, sagte er und es war klar, dass es ihn nicht gestört hatte, von meiner Schwester, die selbst in ihrer blauen Polyesteruniform und den klobigen Holzpantoffeln das hübscheste Ding war, das jemand in diesem Loch von einer Stadt jemals zu Gesicht bekommen würde, an diesen stinkenden Ort gerufen zu werden.

In der Schule verwendeten wir den Ausdruck: Strathdee-gut. Das bedeutete, dass irgendetwas zwar für Strathdee-Verhältnisse top war, aber gemessen daran, was es außerhalb der Stadt gab, nicht viel Gewicht hatte. Wenn man also einen wirklich guten Kuchen oder sonst was bekam, sagte man, Mann, ist das gut. Strathdee-gut, klar, aber immerhin. Das wandten wir auch bei Menschen an. Keiner der Burschen an unserer Schule konnte mit den Jungs aus Sydney oder Melbourne mithalten, natürlich, aber es gab ein paar, die definitiv Strathdee-heiß waren, und das waren diejenigen, an die wir uns ranschmissen.

Bella war, wenn ich ehrlich bin, Strathdee-hübsch. Ich habe ihr immer gesagt, dass sie, wenn sie es gewollt hätte, ein Model sein hätte können, und ich denke noch immer, dass das stimmt, aber sie wäre ein Model in einem Kwart-Katalog gewesen und nicht eines in der Vogue oder so. Ich mache sie nicht runter. Wie gesagt, sie war das schönste Ding, das irgendjemand hier je in echt gesehen hatte, obwohl sie nicht viel größer als eineinhalb Meter war und einen L-Arsch an einem S-Körper hatte. Ihre Haut war wie frische Milch, und ihre hellblauen Augen waren so gottverdammt schön, dass ich, als wir jünger waren, höllisch eifersüchtig auf sie gewesen war. Sie hätte Werbung für Kosmetik machen können, bestimmt, nur hätte man irgendetwas mit ihren Haaren, die dick und kraus waren und zur Seite statt abwärtswuchsen, tun müssen. Ich zog sie früher gerne auf, indem ich ihr sagte, dass sie in Wahrheit eine Albinoafrikanerin sei, die Mutter adoptiert hatte, weil sie Mitleid mit dem armen Kind hatte, das in Afrika alle für einen Freak hielten. Als sie ungefähr zwölf war, begann sie, möglichst früh aufzustehen, um das ganze Gedöns des Einölens und Glättens der Haare rechtzeitig vor der Schule zu schaffen. Da fühlte ich mich dann wirklich lausig, weil ich sie damit so gequält hatte. Ich sagte ihr, dass ihre Haare toll aussehen würden, dass sie viel hübscher als mein durchschnittlicher, mausbrauner Mopp seien, doch sie glaubte mir nie.

Eine angenehme Begleiterscheinung des Älterwerdens ist, dass man mit den Dingen Frieden schließt, die man an sich nicht ändern kann. Nicht dass Bella alt geworden wäre, sie war nur sehr reif für ihr Alter. Mit neunzehn oder zwanzig hörte sie auf, ihre Haare täglich zu glätten, und ließ es einfach zu, dass sie sich über ihre Schultern kräuselten. Für die Arbeit musste sie sie sowieso zusammenbinden, und so gefiel es mir am besten; vorne ganz glatt und hinten ein großer blonder Krausball.

Mit meinen Haaren musste ich nie Frieden schließen – die waren nie mein Problem. Mein Problem waren meine Titten. Als sie zu wachsen begannen, war ich zu jung, und dann wuchsen sie so schnell. Ich war elf, zwölf, dreizehn und lernte, damit umzugehen, mich nackt zu fühlen, mich zu ärgern über die Art, wie Jungs und Männer – alte Männer, Lehrermänner, Familienmänner, komische Männer, freundliche Männer – mich anschauten und Gründe dafür fanden, mich zu berühren, sich an mich zu drücken und mich hie und da auch heimlich zu begrapschen. Das unterschied mich von den anderen Mädchen und führte dazu, dass ihre Mütter die Augen zusammenkniffen und mir nahelegten, ich möge doch bitte einen Pullover anziehen, auch wenn es gar nicht kalt war, und es brachte die Jungs in meinem Alter dazu, zu lachen und Schlampe und Zeigmirdeinetitten zu rufen, wenn ich an ihnen vorbeilief. Diese Riesentitten, die allen suggerierten, dass ich ein Flittchen, leichte Beute und Abschaum sei.

Die ersten paar Jahre bemühte ich mich, das zu ignorieren. Ich meine, den Effekt, den sie auf Leute hatten, zu ignorieren. Die Dinger selbst verstaute ich in den Büstenhaltern, die mir meine Mutter widerwillig kaufte (weil ich so schnell aus ihnen rauswuchs und der Stoff so rasch kaputtging). Einmal, als sie eine Target-Einkaufstüte aufs Bett warf, sagte sie, »Versuch, langsamer zu wachsen, Chris. Ich bin nicht aus Geld gemacht«, und obwohl ich wusste, dass sie scherzte, fühlte ich mich verletzt und beschämt, als ob an ihrer Andeutung, dass ich das Wachsen dieser Dinger absichtlich beschleunigte, etwas dran sein könnte.

Mit ungefähr vierzehn kam ich auf die Idee, dass ich sie mit einer Diät wegkriegen könnte, aber ein kleinerer Arsch ließ sie umso größer wirken. Ich gab mir Mühe, sie zu kaschieren, aber, weißt du, ein schneebedecktes Gebirge ist immer noch ein Gebirge. Dann gab ich es auf. Nicht gegenüber Männern, die mich in eine Ecke drängten, aber denjenigen gegenüber, die mich beschimpften oder hinter meinem Rücken flüsterten. Ich tat so, als wäre ich das, wofür sie mich hielten.

Und jetzt, na ja, jetzt trage ich tief ausgeschnittene Tops und beuge mich weiter vor als notwendig, wenn das Trinkgeld am Abend zu spärlich fließt, und ich nehme fast gar nicht mehr wahr, wenn Männer mit meiner Oberweite reden, Frauen meinen Titten tödliche Blicke zuwerfen und Menschen beiderlei Geschlechts mich behandeln, als ob ich einen Hirnschaden hätte. Ich hab gelernt, mit der Tatsache zu leben, dass die meisten Kerle, die ich mit nach Hause nehme, Tittenmänner sind, und dass sie, sobald wir im Bett sind, mehr Zeit mit Nuckeln und Drücken verbringen wollen als damit, sich mit dem da unten zu beschäftigen. Ich gebe viel Geld für gute Büstenhalter aus und halte meine Oberschenkelmuskulatur fit, sodass ich ewig auf ihnen reiten kann. Ich gebe ihnen, was sie wollen.

Ich hab mir den riesigen Vorbau nicht ausgesucht, aber man muss akzeptieren, dass man manche Dinge nicht ändern kann, nicht wahr? Also mache ich das. Ich akzeptiere, dass mich mein riesiger Busen zu einer beliebten Barfrau und einem ausgezeichneten Aufriss macht. Wahrscheinlich nicht ausgezeichnet-ausgezeichnet, aber sicherlich Strathdee-ausgezeichnet.

***

Jetzt bin ich abgeschweift. Ich mache das. Ich muss es, weißt du? Es ist kein einfacher Weg, den ich hier entlangstapfe.

Es war eine kurze Fahrt. Ich meine, in dieser Stadt gibt es so etwas wie eine lange Fahrt gar nicht – von der Highwayabfahrt bis...


Emily Maguire

publizierte bisher sechs Romane, unter ihnen der für den Stella Prize und den Miles Franklin Prize nominierten Roman Ein Einzelfall. Darüber hinaus veröffentlichte sie drei Sachbücher.

Ihre Artikel und Essays über Sex, Feminismus, Kultur und Literatur finden sich in The Sydney Morning Herald, The Australian, The Observer und The Age.

Die australische Autorin arbeitet als Lehrerin und Mentorin für junge, aufstrebende Autor:innen. 2018/2019 war sie Writer-in-Residence am Charles Perkins Centre der Universität von Sydney.



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